Eine kraftvolle Neuevangelisierung kann die Diktatur des Relativismus überwinden

Kurienkardinal Julián Herranz, Priester der Prälatur Opus Dei, spricht anläßlich seines neuen Buches über die „Rebellen gegen den Zeitgeist“ Papst Johannes Paul II. und Josemaria Escrivá

ROM. Der frühere Präsident des Päpstlichen Rates für die Interpretation von Gesetzestexten ist 1930 in Baena (Spanien) geboren. Im italienischen Ares- und im spanischen Rialp-Verlag ist soeben sein Buch „In der Nähe von Jericho - Erinnerungen an die Jahre mit dem heiligen Josemaria und Johannes Paul II.“ erschienen (siehe unten).

Gegenüber ZENIT erläuterte der Kurienkardinal, worin sich der Vorgänger Benedikts XVI. und der Gründer des Opus Dei gleichen, was unter der so genannten „postkonziliaren Krise“ zu verstehen ist und was mit kirchlichen Gesetzen bezweckt wird.

ZENIT: 26 Jahre lang durften Sie Seite an Seite mit Josemaría Escrivá verbringen. Waren Sie sich bewusst, dass Escrivá nicht nur ein Gründer war, sondern zudem ein Heiliger?

-- Kardenal Herranz: Ja, denn diese Dimensionen seiner Persönlichkeit waren untrennbar miteinander verbunden: Der Herr bediente sich seiner, um das Opus Dei zu gründen, gerade weil er ein kontemplativer, in Christus verliebter Mensch war – ein Heiliger.

Von der Betrachtung der heiligsten Menschheit Christi ausgehend, das heißt von der Liebe des Mensch gewordenen Gottes, „schwang sich“ der heilige Josemaria, wie er zu sagen pflegte, zu einem ununterbrochenen kindgemäßen Umgang mit dem Vater und dem Heiligen Geist auf, der uns lehrt, wie wir mit beiden Beinen auf der Erde stehen und gleichzeitig den Blick auf den Himmel richten können.

Vor ein paar Jahren, als ich in Jerusalem war, notierte ich mir in meinen persönlichen Aufzeichnungen: „Auf dem Weg nach Jericho steht ein Strauch, von dem ich einen kleinen Ast abgeschnitten habe. Ich möchte mit ihm die Urne berühren, in der die Überreste jenes geliebten Menschen liegen. Der hl. Josemaria war das Werkzeug, … damit meine Seele, die in der Finsternis gefangen gehalten war und nach Christus gerufen hatte, diesen schließlich finden, sich in ihn verlieben und ihm nachfolgen konnte.“

ZENIT: Von 1965 bis 1975 äußerte Escrivá immer wieder: „Was in der Kirche geschieht, tut mir weh.“ Was meinte er damit?

-- Kardinal Herranz: Er bezog sich auf die so genannte „postkonziliare Krise“: auf das schreckliche Paradox, dass just zu dem Zeitpunkt, an dem der Heilige Geist die Kirche mit der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils reich beschenkt hatte, zahlreiche Menschen durch falsche Interpretationen des Konzils zu furchtbar traurigen und schmerzhaften Schritten veranlasst wurden.

Das äußerte sich zum Beispiel im Verlangen, den Glauben durch eine Marginalisierung Gottes und eine an Zeitströmungen angepaßte Verkürzung der Heilsbotschaft zu aktualisieren. Es führte dazu, die Identität des Priesters in Frage zu stellen und zu verweltlichen und zum Abfall vieler Priester und Ordensleute. Ein weiteres Ergebnis war ein anarchisches und entsakralisierendes Experimentieren mit der Liturgie, verbunden mit einer fortschreitenden Banalisierung der allerheiligsten Eucharistie usw.

Eng verbunden mit Paul VI., teilte der heilige Josemaria den tiefen inneren Schmerz des Papstes über dieser Situation.

 

ZENIT: Sie haben Ihr Leben in den Dienst des Heiligen Stuhls gestellt und sind in erster Linie im kirchenrechtlichen Bereich tätig gewesen, der nur wenig bekannt ist und dessen Wert nicht immer erkannt wird: Welche Bedeutung haben die Gesetze, die Gerichte, das Kanonische Recht im Leben der Kirche?

-- Kardinal Herranz: Sie bedeuten Liebe zu Christus und zur Kirche, dem Volk Gottes.

In der Konzilskonstitution „Lumen gentium“ werden wir daran erinnert, dass Christus die Kirche zugleich als geistige Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe und als irdische Gesellschaft gegründet hat, die mit hierarchischen Organen und Gesetzen ausgestattet ist, durch die die Rechte und Pflichten aller Gläubigen festgelegt werden.

Es handelt sich um Gesetze, die alle auf das Ziel der Kirche ausgerichtet sind, nämlich die Verbreitung der Botschaft Christi in der Welt und das ewige Heil der Gläubigen.

Die Gesellschaftsstruktur steht im Dienst der Gnade und der Gemeinschaft. Deshalb ist die demagogische Gegenüberstellung von Evangelium und Gesetz oder von pastoraler Gesinnung und kanonischer Anordnung, wie das manchmal geschieht, sinnlos.

ZENIT: Unter Paul VI. haben Sie an der Vorbereitung der neuen Kirchengesetzgebung mitgearbeitet. Was könnten Sie uns über Paul VI. sagen?

-- Kardinal Herranz: Dass er ein heiliger Papst war, der die christlichen und priesterlichen Tugenden heroisch lebte; dass er das Zweite Vatikanische Konzil weise leitete und dass er es inmitten starker und schmerzhafter doktrineller Spannungen zu einem glücklichen Abschluss führte.

Ich bewundere seine große pastorale Klugheit, seine opferbereite Liebe zu Christus und seine leidenschaftliche Liebe zu einer Kirche, die – in Treue zu den Anforderungen des Evangeliums – einen fruchtbaren Dialog mit der modernen Gesellschaft führt. Deshalb ließ ich Johannes Paul II. im Mai 1992 auch mein schriftliches Ansuchen zukommen, den Seligsprechungsprozess zu eröffnen.

ZENIT: 26 Jahre lang arbeiteten Sie an der Seite von Papst Johannes Paul II., der damit gewissermaßen „Ihr“ Papst gewesen ist, wenn ich das so sagen darf. Was ist Ihnen diesbezüglich besonders lebhaft in Erinnerung geblieben?

-- Kardinal Herranz: Die Kraft, mit der er sich in der Predigt zur Heiligsprechung des heiligen Josemaría an die zahlreichen Gläubigen wandte, die ihn in Rom und der ganzen Welt zuhörten, und erklärte: „Er erinnert euch weiterhin daran, dass ihr euch nicht von einer materialistischen Kultur einschüchtern lassen dürft, die die innerste Identität der Jünger Christi aufzulösen droht.“

In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, als würden diese beiden großen „Rebellen“, Wojtyla und Escrivá, in meiner Seele eins werden: der Papst als unermüdlicher Verteidiger der Würde des Menschen angesichts der totalitären Utopie der „Gerechtigkeit ohne Freiheit“ und der agnostischen Utopie der „Freiheit ohne Wahrheit“, und der Gründer, der zur geistigen Rebellion gegen die so genannte „dreifache Welle“ aufrief, die sich gegen das Christentum und gegen die Menschheit richtete: die „rote“ Welle des marxistischen Materialismus, die „schwarze“ Welle des Neuheidentums im Gewand der Laizismus und die „grüne“ Welle des animalischen Pansexualismus.

ZENIT: Jetzt stehen wir mitten im Pontifikat von Benedikt XVI. Erwarten Sie bedeutende Änderungen, was das Verständnis der kirchlichen Disziplin angeht?

-- Kardinal Herranz: Im Bereich der Berufungsförderung und der priesterlichen Disziplin wird es wahrscheinlich zu Änderungen kommen, und zwar nach dem bekannten Pastoralprinzip: „Um mehr zu sein, gilt es, besser zu sein.“

Dazu wird es auch im Bereich der kirchlichen Leitung kommen: Sie wird dynamischer und apostolischer werden, um der wachsenden „Diktatur des Relativismus“ mit einer kraftvollen Neuevangelisierung entgegenzuwirken.

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Julián Herranz , “Nei dintorni di Gerico - Ricordo degli anni con san Josemaría & con Giovanni Paolo II, Milano, ” Edizioni Ares 2007; span.: Julián Herranz, „En las afueras de Jericó: recuerdos de los años con san Josemaría y Juan Pablo II“, Pamplona, Rialp 2007, (www.rialp.com)

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