Am 2. Oktober 1928 stand dem damals 26-jährigen Jungpriester Josefmaria Escrivá mit einem Schlag glasklar vor Augen: Die überwältigende Mehrheit der Christen geht tagtäglich einem ganz normalen Beruf nach. Diese Tätigkeit bildet sogar den Großteil ihres Lebens ab. Aber gerade diese ihre berufliche Aufgabe war nach der damals dominierenden katholischen Sicht ein unüberwindliches Hindernis für die Erlangung der christlichen Fülle. Jene normalen Christen – auch Laien in Abgrenzung zum Klerus genannt – konnten, so die allgemeine Überzeugung, nicht denselben Grad an Heiligkeit erreichen wie jene Priester und Ordensleute, die sich von den weltlichen Beschäftigungen lossagten. Alle, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, waren somit von vornherein zu einem Christentum zweiter Klasse verurteilt.
Im selben Augenblick wusste sich Escrivá von Gott gerufen, für diese gewöhnlichen Christen eine Alternative aufzuzeigen: einen Weg der Heiligkeit, der keine Distanzierung von den Dingen dieser Welt voraussetzt: eine Heiligkeit in der Arbeit, mitten im profanen Alltag. Denn: „Entweder lernen wir, den Herrn in unserem alltäglichen Leben zu entdecken, oder wir werden ihn niemals finden.“ Er griff „die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann“.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich diese Überzeugung später zu eigen gemacht, besonders im V. Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche. Papst Paul VI. nannte später die allgemeine Berufung zur Heiligkeit sogar „das charakteristischste Element des gesamten konziliaren Lehramtes und sozusagen dessen letztes Ziel“.
Gute Arbeit, nicht nur gut gemeinte
Jedoch: Was heißt Heiligung der Arbeit konkret? Spontan stellt man sich wohl vor, es gehe darum, beim Arbeiten viele Gebete zu verrichten und so der in sich profan bleibenden Tätigkeit ein frommes Mäntelchen umzuhängen. Doch das war keineswegs die Meinung Escrivás. Denken wir nur an einen Chirurgen, der beim Operieren zwischendurch Gebete verrichtet und deshalb die Operation in die Länge zieht: Er würde seine Arbeit nicht heiligen, denn er würde die Gesundheit seiner Patienten aufs Spiel setzen. Auch der gläubigste Mensch würde sich von so einem frommen Christen nicht operieren lassen.
Nein, nur eine gute Arbeit – ob im Beruf, in der Familie oder als Hobby – kann geheiligt werden. Wie Jahwe nur Opfer von vollkommenen Jungtieren annahm, so muss auch der arbeitende Mensch das Opfer Abels darbringen. Dann aber wird die Arbeit zum Gottesdienst.
Escrivá nahm gerne Maß an Jesus und Josef, den beiden heiligen Zimmerleuten, die sich ihren Lebensunterhalt nur durch solide Berufsarbeit verdienen konnten. Ihm missfielen die frommen Erzählungen der apokryphen Evangelien, wonach das Jesuskind Josefs schlechte Arbeit durch Wundertaten ausbügelte, etwa indem es an einem zu kurz geschnittenen Brett solange zog, bis es die richtige Länge hatte.
Ein protestantisches Erfolgsethos?
Escrivás Botschaft ist wohl so aktuell wie noch nie, denn wir leben in einer Epoche umfassender Professionalisierung. Nur wer gut und effizient arbeitet, wird ernst genommen. Erst vor dem Hintergrund einer gut geleisteten Arbeit ergibt sich die Glaubwürdigkeit eines Zeugens für das Evangelium Jesu Christi. Denn das Evangelium durchformt den Menschen in Gänze, das menschliche Tätigsein ist hiervon nicht ausgenommen.
Verschiedentlich wurde Escrivás Theologie der Arbeit als protestantisch bezeichnet. Dies namentlich auf dem Hintergrund des vor allem durch Max Weber berühmt gewordenen Umstands, dass die Puritaner im beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg ein Zeichen dafür erblickten, dass sie für den Himmel bestimmt waren. Doch Escrivás Sicht unterscheidet sich in einem entscheidenden Punkt davon. Gewiss, eine berufliche Arbeit sucht das Resultat; sonst wäre sie nicht professionell. Doch nicht der faktische Erfolg ist das Kriterium der Heiligkeit, sondern das aufrichtige Bemühen darum. Wenn unabänderliche Umstände den Erfolg vereiteln, dann ist diese Arbeit genauso geheiligt, wie wenn sie ihr Ziel erreicht hätte. Und erst recht ist sie geheiligt, wenn der Erfolg deshalb ausbleibt, weil der Arbeitende sich keiner unethischen Mittel bedient hat.
Liebe, die ultimative Triebfeder
Mozart bemerkte einmal, dass die Meisterwerke nicht eine Frage des Genies seien, sondern eine Frage der Liebe. Nichts anderes gilt für die Heiligung einer jeglichen Form von Arbeit. Auch die geringste Arbeit kann ein Meisterwerk werden, wenn sie aus Liebe getan wird. „In den Augen Gottes ist keine Arbeit, für sich genommen, groß oder klein. Allein die Liebe, mit der sie getan wird, bestimmt ihren Wert."
Daraus ergibt sich auch, dass jede mit Liebe verrichtete Arbeit den Menschen selbst adelt: „Jede Arbeit zeugt von der Würde des Menschen (…). Sie ist ein Feld, auf dem wir unsere Persönlichkeit entwickeln.“ Eine Einsicht, die wir schon bei Charles Péguy, einem französischen Schriftsteller der Romantik, finden. Er schrieb, dass einst auch derjenige, der ein Stuhlbein herstellte, ein Ehrgefühl kultivierte: Er machte das Stuhlbein nicht für den Meister oder für den Lohn, sondern für sich selber, zu seiner eigenen Ehre. Alle Teile, auch die unsichtbaren, mussten gut gemacht sein: eine stille, beharrliche Darbringung.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine kleine Begebenheit. Ich stand Schlange vor einem Schalter, um meinen Reisepass zu erneuern. Vor mir bekam ein Herr seinen alten Pass zurück. Er war zur Annullierung gelocht. Eine Lochung hatte die Form eines kleinen Sterns. Die Angestellte aber hatte eine Reihe von solchen Sternchen auf dem Pass kunstvoll wie einen Kranz angeordnet. Vermutlich suchte sie nicht bewusst Gott in ihrer Arbeit, aber jedenfalls spiegelte sich darin ihre Personenwürde und so etwas wie eine Vorstufe zum Gotteslob.
Arbeit als beschauliches Gebet
Unter den genannten Voraussetzungen kann der Mensch – so die Erfahrung und Überzeugung Escrivás – in der Arbeit zur Beschaulichkeit gelangen. Und zwar nicht nur vorher, wenn er seine Tätigkeit plant, und auch nicht erst danach, beim Betrachten des Resultats, sondern in der Ausführung selbst. Simone Weil ahnte dies schon, und der hl. Josefmaria unterstrich es mit Nachdruck: Wenn die Arbeit Gott als Opfergabe dargebracht wird, dann verwandelt sie sich in Gebet. Sie wird gelebte Kontemplation.
Dass dies möglich ist, zeigt sich sogar bei nicht-christlichen, ja sogar nicht-gläubigen Wissenschaftlern. Der Astronom Johannes Kepler (1571–1630) betrachtete bei seinen Untersuchungen immer wieder mit tiefer Ergriffenheit die in den Laufbahnen der Planeten liegende Vollkommenheit und Harmonie. Und Charles Darwin (1809–1882) empfand bisweilen geradezu Ehrfurcht vor der staunenswerten Evolution des biologischen Lebens.
Verchristlichung der Gesellschaft
Je mehr Menschen sich um die Heiligung ihrer Arbeit bemühen, desto größer ist ihr heilsamer Einfluss auf die Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt. Escrivá erkannte in der Arbeitsheiligung ein enormes Potenzial für eine Christianisierung der Gesellschaft. Denn wer seine Arbeit heiligt, heiligt zugleich auch sich selbst und die Menschen in seinem Umfeld.
Auch diesen Aspekt der Lehre finden wir im II. Vatikanum wieder: Die Laien leben „in all den einzelnen irdischen Aufgaben (…). Dort sind sie von Gott gerufen, ihre eigentümliche Aufgabe, vom Geist des Evangeliums geleitet, auszuüben und so wie ein Sauerteig zur Heiligung der Welt gewissermaßen von innen her beizutragen.“
Diese Formulierungen lassen bereits erkennen, dass es hier nicht um eine klerikale Machtübernahme in Politik und Gesellschaft geht. Dieser Vorstellung, die zu Escrivás Zeit noch dominierte und ihn selbst manchmal in große Schwierigkeiten brachte, hat er stets eine entschiedene Absage erteilt. Die irdischen Wirklichkeiten haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Ihre Behandlung verlangt daher spezifische Sachkenntnis und Autonomie der Akteure. Es gibt keine christliche Mathematik, über deren Gültigkeit die Bibel oder das kirchliche Lehramt befinden würde. Ein christlicher Mathematiklehrer wird das Evangelium vielmehr in erster Linie dadurch weitertragen, dass er das mathematische und didaktische Handwerk beherrscht, persönlich intege
r ist und sich auch menschlich um seine Schüler kümmert.
Nicht von außen und von oben, sondern von innen und von unten soll also die Arbeitswelt evangelisiert und damit humanisiert werden; nicht durch Zwang und bloße Pflicht, sondern durch Liebe und in Freiheit.
Eine revolutionäre Botschaft
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Botschaft des hl. Josefmaria revolutionär ist. Man muss die Welt nicht verlassen, um Gott zu finden. Es genügt, jeden Morgen aufzustehen und sich zu entschließen, unter den Vorzeichen der Wahrheit und der Liebe zu arbeiten, im Bewusstsein der eigenen Würde, mit Sorgfalt, Pünktlichkeit, Geduld und Dienstbereitschaft. Es ist die Heiligkeit von nebenan. In einer Welt, die immer mehr auf den materiellen Erfolg aus ist und dabei immer weniger ethische Bedenken hat, ist das professionelle Arbeiten aus Liebe zu Gott eine Berufung, eine Mission und ein Akt der Freiheit. Und mehr denn je eine Herausforderung.

Flavio Keller ist emeritierter Professor für Humanphysiologie an der Universität Campus Bio-Medico in Rom und Leiter des Centro Culturale Montebrè in Lugano.

