Wer verlangt, dass die eigene Freiheit respektiert wird, muss damit anfangen, die Freiheit der anderen anzuerkennen, zu respektieren und zu verteidigen. Dies war eine ständige Lehre des heiligen Josefmaria Escrivá, des Gründers des Opus Dei. Auch die Freiheit Gottes kommt dann in den Blick, und sie stand bei Escrivá an erster Stelle. Anlässlich des Festes des heiligen Josefs am 19. März 1966, als ich in Rom studierte, machte er das einmal deutlich. Prälat Escrivá kam frühmorgens zu uns. Es ergab sich sofort eine ungezwungene Unterhaltung. Wir gratulierten ihm zum Namenstag. Er nahm dies zum Anlass, um über die Freiheit zu sprechen – auf eine Weise, die mich stark beeindruckte. Unter anderem sagte er:
„Vergesst nie die Lehre, die uns die Heilige Familie, die uns der heilige Josef erteilt, der ein so großer Freund der Freiheit war, der den Willen Gottes so hoch geachtet hat. Er kannte Gottes Willen zunächst nicht. Später verstand er ihn, als er merkte, dass die allerseligste Jungfrau das Kind erwartete. Als er es erfuhr, wollte er sie nicht bloßstellen. Er liebte den Willen des Herrn, den er nicht begreifen konnte. Deswegen hatte er diesen besonderen Liebeserweis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit verdient, die einen Engel zu ihm sandte, um zu erklären, dass hier Gott eingegriffen hat. Der heilige Josef, überaus keusch, rein, sauber, ist Freund der Freiheit Gottes, Freund des Willens Gottes, den er voll und ganz annimmt.“
Maria liebte das, was die Freiheit Gottes mit sich brachte
Dann sprach er bei gleicher Gelegenheit über die Liebe zur Freiheit Gottes der Jungfrau Maria und endete mit dem Ereignis im Tempel Jerusalems, als Jesus 12 Jahre war. „Es kam die Stunde, als sich der Herr klar als Sohn Gottes zeigen musste, es kamen jene drei Tage des Vermisst-Seins in Jerusalem. Als sie ihn fanden, machte ihm seine Mutter den liebevollen Vorwurf: Wie konntest du uns das antun? (Lk 2,48). Und auf die Antwort Jesu hin, nimmt die Heilige Familie wiederum den Willen Gottes an; sie bejaht die Freiheit und erfüllt den göttlichen Willen.“
Selten wird an Gottes Freiheit gedacht
Dass die Freiheit der anderen Menschen zu respektieren ist, diese Überzeugung ist in der Denk- und Verhaltensweise vieler Menschen guten Willens vorhanden. Aber man hört nicht häufig den Gedanken, dass jeder bewusst und ernst auf die Freiheit Gottes zu wirken achten soll. Darüber beklagte sich schon der Herr bei Jeremia: „So ging ich zum Haus des Töpfers hinab. Er arbeitete gerade mit der Töpferscheibe. Missriet das Gefäß, das er in Arbeit hatte, wie es beim Ton in der Hand des Töpfers vorkommen kann, so machte der Töpfer daraus wieder ein anderes Gefäß, ganz wie es ihm gefiel. Da erging an mich das Wort des Herrn: Kann ich nicht mit euch verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? – Spruch des Herrn. Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel“ (Jer 18,3-6).
In Freiheit Gott gehorchen ist möglich
Ähnlich können wir den ersten Satz des vorigen Abschnittes umformulieren: Nur wer Gott und seine Freiheit respektiert, hat das Recht auf Respekt vor seiner eigenen.In diesem Bereich ergibt sich ein tiefer Sinn: Diese Liebe zur Freiheit ist nicht nur völlig vereinbar mit dem Gehorsam Gott gegenüber, sondern sie ist sogar die Voraussetzung dafür, menschenwürdig freiwillig gehorchen zu können. Daher betet die Kirche in 33. Sonntag im Jahreskreis: „Lass uns begreifen, dass wir frei werden, wenn wir uns deinem Willen unterwerfen, und dass wir die vollkommene Freude finden, wenn wir in deinem Dienst treu bleiben.“
Freiheit und Wahrheit gehören zusammen
Die Freiheit ist echt, wenn sie sich nach der Wahrheit richtet. Alles andere darf und soll nach dem genannt werden, was es ist: erfundene Freiheit, Willkür, Liederlichkeit, Verantwortungslosigkeit, Frechheit, Maßlosigkeit, beziehungsweise Betrug oder Manipulation.
Was versteht man unter dem Ausdruck »Glaubensgehorsam«? Bestimmt nicht ein blindes Tun, das den Verstand oder den Willen abschaltet oder gar Zwang. Freiheit ist eine Eigenschaft des Menschen, die mit seinem Verstand und Willen in Einklang stehen muss. Dementsprechend ist Freiheit keine Tochter der Zeit, der Willkür oder der Gedankenlosigkeit. Die Wahrheit setzt die Freiheit frei! Veritas liberabit vos, sagte der Herr zu denen, die »vermuteten«, frei zu sein (Joh 8,32). Nur wer überzeugt ist, dass er die Wahrheit erfahren kann, besitzt die Voraussetzung, um frei sein zu können.
Wer die weltliche Gewalt hat, hat nicht schon die Wahrheit
Dies ist leider die „Krankheit zum Tode“ der Postmoderne. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob der alte Hobbes auferstanden wäre. Darüber schreibt Robert Spaemann: „Am Anfang der Neuzeit steht das skeptische Pilatuswort des Thomas Hobbes: »Non veritas, sed auctoritas facit legem« (Autorität, nicht Wahrheit schafft ein Gesetz). Hobbes wollte das Schwert des Bürgerkrieges in die Scheide zurück – und deshalb die Frage nach der Wahrheit zum Schweigen bringen, in deren Namen es gezogen worden war. Er wollte das Gewaltmonopol des Staates dadurch unangreifbar machen, dass er es von jedem Bezug auf Wahrheit abtrennte. Frieden, die Aufgabe des Königs, gibt es, so meinte er, nur dann, wenn niemand die Wahrheitsfrage stellt.“
Es ist aber nicht immer Hobbes, den wir überall finden. Ständig erleben wir den Anspruch der Naturwissenschaft: Was technisch machbar ist, soll gemacht werden, auch wenn es sich um Missbrauch der Schöpfung oder Manipulation des Menschen handelt. Das geringste anthropologische Ethos kann so etwas nicht annehmen. Noch gefährlicher ist der heutige Relativismus in Gesellschaft und Staat. Dies erweckt keinen Eindruck der Stärke, sondern eher der Hilflosigkeit. Man weiß nicht mehr, woher und wohin – und sucht den Zusammenhalt bei den Krücken wackelnden Konsenses.
Auch der Konsens ist noch keine Wahrheitsgarantie
Ein reales Beispiel aus Janne Haaland Matláry, Professorin für Politologie in Oslo, sie war auch Staatssekretärin im Außenministerium Norwegens: „Die Logik des interessenfreien Dialogs als Ersatz für das Streben nach der Wahrheit ist in einer Gesellschaft, die den Anspruch auf Wahrheit aufgegeben hat, klar genug, kann jedoch niemals an die Stelle der Wahrheit treten. Der norwegische Forschungsrat arrangiert von Zeit zu Zeit – zweifellos in Anlehnung an eben diese Logik – sogenannte »Konsenskonferenzen« zu kontroversen Themen wie Biotechnologie oder Feminismus. Die Logik ist habermasianisch: Durch einen offenen und »interessenfreien« Dialog will man in dem betreffenden Bereich letztlich zu einem Konsens gelangen. Das ist die einzige verfügbare Wahrheit; sie beruht auf einem induktiven Prozess der Kompromissfindung.“ Sie begnügen sich mit »Richtigkeit«, »Konsens« u. ä. als ob die Wahrheit von einer demokratischen Mehrheit abhängig sein könnte. Dieses Gebäude aus Attrappen kann jeden Tag zusammenbrechen ... und es geschieht bald doch so.
Leben aus dem Glauben wie Josef
Kommen wir zum heiligen Josef zurück. Der Gerechte lebt aus dem Glauben (Hebr 2,4): Darauf stützte sich der heiligen Josefmaria: „Aus dem Glauben leben, erfüllt sich ganz im heiligen Josef. Er lebt den Willen Gottes weder oberflächlich noch formalistisch, sondern spontan und lebendig. Das Gesetz, das ein gläubiger Jude befolgte, war für ihn keine trockene Sammlung von Geboten, sondern Willensausdruck des lebendigen Gottes. Deswegen war er auch in der Lage, die Stimme des Herrn zu erkennen, als sie sich ihm unerwartet und überraschend offenbarte.“
Papst Franziskus betont in seinem Schreiben zum „Jahr des heiligen Josef“ (Apostolischen Schreiben Patris corde, 8.12.2020): „Oft geschehen in unserem Leben Dinge, deren Bedeutung wir nicht verstehen. Unsere erste Reaktion ist oft die der Enttäuschung und des Widerstandes. Josef lässt seine Überlegungen beiseite, um dem Raum zu geben, was geschieht. Wie rätselhaft es ihm auch erscheinen mag, er nimmt es an, übernimmt Verantwortung dafür und versöhnt sich mit seiner eigenen Geschichte. (...) Josef ist kein passiv resignierter Mann. Er ist ein mutiger und starker Protagonist. Die Fähigkeit, etwas annehmen zu können, ist eine Weise, wie sich die Gabe der Stärke, die vom Heiligen Geist kommt, in unserem Leben offenbart. Nur der Herr kann uns die Kraft geben, das Leben so anzunehmen, wie es ist, und selbst dem, was darin widersprüchlich, unerwartet oder enttäuschend ist, Raum zu geben.“ Bis hier Kapitel 4. Ich verstehe dieses Kapitel („Vater im Annehmen“) nicht nur als Hinweis, wie man eine Situation wahrnimmt und überlebt, sondern auch als Hinweis auf die eigene Verpflichtung, im Rahmen des Möglichen, die eigene Situation zu ändern oder wenigstens zu bessern.
Die zentrale und neue Überlegung des Papstes in diesem Schreiben, scheint mir, ist Kapitel 5, (gut eingeführt durch das Kapitel 4): „Vater mit kreativem Mut“„Vater mit kreativem Mut“. (Vier Mal in diesem Kapitel finden wir diese Worte), das heisst realistisch sein im Annehmen, nicht passiv und resigniert bleiben, sondern aktiv und erfinderisch Lösungen suchen und mit Initiative und Verantwortung handeln, denn, wie hier Papst Franziskus schreibt, „Gott wirkt durch Ereignisse und Menschen“. Um dies zu zeigen, greift er auf zwei Beispiele aus dem Leben der Heiligen Familie zurück. „Der Himmel greift ein, indem er auf den kreativen Mut dieses Mannes vertraut, der, als er bei der Ankunft in Betlehem keinen Ort findet, wo Maria gebären kann, einen Stall herrichtet und so bereitet, dass er für den in die Welt kommenden Sohn Gottes ein möglichst behaglicher Ort wird (vgl. Lk 2,6-7). Angesichts der drohenden Gefahr des Herodes, der das Kind töten will, wird Josef im Traum erneut gewarnt, das Kind zu beschützen, und so organisiert er mitten in der Nacht die Flucht nach Ägypten (vgl. Mt 2,13-14).“
Die Welt gehört Gott und nicht den Starken und Mächtigen
Mit diesen Beispielen spornt uns der Heilige Vater zu einer entsprechenden Haltung an: „Bei einer oberflächlichen Lektüre dieser Geschichten hat man immer den Eindruck, dass die Welt den Starken und Mächtigen ausgeliefert ist. Aber die »gute Nachricht« des Evangeliums besteht darin zu zeigen, wie Gott trotz der Arroganz und Gewalt der irdischen Herrscher immer einen Weg findet, seinen Heilsplan zu verwirklichen. Auch unser Leben scheint manchmal starken Mächten ausgeliefert zu sein. Doch das Evangelium sagt uns, dass es Gott immer gelingt, das zu retten, worauf es ankommt, vorausgesetzt, dass wir den gleichen kreativen Mut aufbringen wie der Zimmermann von Nazaret. Josef versteht es, ein Problem in eine Chance zu verwandeln, und zwar dadurch, dass er immer in erster Linie auf die Vorsehung vertraut. Wenn Gott uns manchmal nicht zu helfen scheint, bedeutet das nicht, dass er uns im Stich gelassen hat, sondern dass er auf uns vertraut und auf das, was wir planen, entwickeln und finden können.“
Manchmal geschehen uns Dinge, die wir nicht verstehen, aber wir können sie lieben. Der Prälat des Opus Dei, Prof. Dr. Ferdinand Ocáriz, hat diese Idee in den vergangenen drei Jahren in seinen Pastoralbriefen mehrmals wiederholt. Die Wahrheit macht frei, haben wir gesagt (vgl. Joh 8,32). Es geht nicht um einen gedanklichen Aufbau, sondern um den Appell Verantwortung aus Liebe zur Freiheit zu übernehmen, sie in die Tat umzusetzen. Nur die Liebe kann die Wahrheit zur Erfüllung bringen und uns froh machen: Wir wollen uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten (Eph 4,15).
Die Quellen findet der Leser im Buch Nazaret. Leben und Arbeit der Heiligen Familie. Bernardus Verlag 2016, Kapitel „Der heilige Josef, Meister der Arbeit und Treue“ und im Apostolischen Schreiben Patris corde vom 8.12.2020.
Dr. Johannes Vilar ist Priester der Prälatur Opus Dei und als Seelsorger in Münster tätig.