NACH DER Ankündigung seines eigenen Leidens und Sterbens offenbarte Jesus seinen Jüngern und der versammelten Menge, dass das Kreuz auch zu ihrem Leben gehöre. Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten (Mk 8,34-35).
Ein christliches Leben führt unweigerlich über das Kreuz. Kein Mensch bleibt von Mühen und Leiden verschont; jeder von uns erfährt die Realität des Bösen sowie die eigene Schwäche und Zerbrechlichkeit als Folgen der Sünde. Doch wir wissen: So war es ursprünglich nicht. Und Christus kam in die Welt, um die frühere Harmonie wiederherzustellen – ohne unsere Freiheit zu beeinträchtigen, sodass wir selbst entscheiden können, ob wir uns ihm öffnen oder nicht.
„Das Kreuz Jesu ist das Wort, mit dem Gott auf das Böse in der Welt antwortet“, lehrte Papst Franziskus. „Manchmal scheint es, als schweige Gott angesichts des Leids. Doch in Wirklichkeit hat er bereits geantwortet. Seine Antwort ist das Kreuz Christi: ein Zeichen der Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung. Es ist zugleich Gericht: Gott richtet uns, indem er uns liebt. (…) Wenn ich seine Liebe annehme, bin ich gerettet; wenn ich sie ablehne, richte ich mich selbst. Denn Gott verurteilt nicht – er liebt und rettet. Mit dem Wort vom Kreuz antworten auch wir Christen auf das Böse, das in uns und um uns wirkt. Unsere Antwort muss darin bestehen, dem Bösen mit Gutem zu begegnen und wie Jesus unser Kreuz anzunehmen.“1
DER PROZESS der Verurteilung Jesu zum Tode offenbart, wie tief der Mensch fallen kann, wenn er sich von Gott abwendet und die Wahrheit mit Füßen tritt. Es ist „ein Kampf der dunklen Art“2, den die in ihrem Hass vereinten Pharisäer und Saduzzäer, unterstützt von der aufgewiegelten Menge, gegen jenen Mann führen, der schweigend dasteht, sich nicht verteidigt und keinen Beistand hat: Jesus, die Wahrheit selbst. „Fern sind die Tage, da das Wort des Gottmenschen die Herzen mit Licht und Hoffnung erfüllte. Vorbei sind die langen Züge der geheilt heimkehrenden Kranken. Und auch die Jubelrufe Jerusalems, als der Herr auf dem Rücken eines friedlichen jungen Esels einzog, sind verhallt. Hätten doch die Menschen der Liebe Gottes einen anderen Weg bahnen wollen!“3
Es bleibt ein Geheimnis göttlicher Weisheit, dass Gott bei der Erschaffung des Menschen nach seinem Bild und Gleichnis das Risiko der menschlichen Freiheit eingehen wollte. Diese führte bereits den neugeschaffenen Menschen dazu, die Liebe Gottes zurückzuweisen. Dennoch bleibt die Freiheit ein wesentliches Gut jedes Menschen, das geschützt werden muss. Und „Gott ist der Erste, der sie achtet und liebt.“4
Betrachtet man die Menschheitsgeschichte, erstaunt es, dass der Mensch schon zu Beginn aus freiem Willen einen Weg wählte, der ihn von Gottes Liebe entfernte. Manchmal mag es uns so scheinen, als wäre weniger Freiheit besser, wenn wir sehen, wie wir uns selbst Schaden zufügen. Auch wenn wir eine geliebte Person auf einem falschen Weg sehen, verspüren wir den Wunsch, sie um jeden Preis auf den richtigen Pfad zu führen – sogar auf Kosten ihrer Freiheit. Doch auch hier können wir von Gott lernen. Er respektiert unsere Freiheit vollkommen, denn er weiß: Nur aus der Kraft der Freiheit kann wahre Liebe entstehen, die zum Glück führt. Das immense Risiko, das Gott dafür einzugehen bereit war, offenbart die gewaltige Größe des Geschenks.
„WIR WISSEN natürlich, dass an der unendlichen Wirksamkeit des Opfers Christi in Wahrheit nichts fehlt“, konstatierte Papst Benedikt, „doch in seiner Vorsehung, die wir nie ganz werden verstehen können, möchte Gott unsere Mitwirkung bei der Anwendung seiner Wirksamkeit. Dies ist möglich, weil er uns in der Kraft des Heiligen Geistes zu Teilhabern an der Kindschaft Jesu seinem Vater gegenüber gemacht hat: Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden (Röm 8,17).“5
Aus der geöffneten Seite Christi am Kreuz entspringen die Sakramente und damit der größte Gnadenschatz der Kirche. Wir können uns persönlich mit dem Kreuz Jesu vereinen, indem wir unser Tun mit dem Opfer Christi verbinden und unser Leben zu einer fortwährenden Messe machen. Auch in der Fürsorge für Kranke und Leidende werden wir eins mit dem Schmerzensmann. „So oft wir einem Leidenden, einem Verfolgten und Ohnmächtigen in Güte begegnen und ihm sein Leid zu tragen helfen, so oft tragen wir Jesu Kreuz mit. So empfangen wir Heil und dürfen selbst zum Heil der Welt beitragen.“6
Alle Heiligen haben diese Nähe zum Kreuz in ihrem Leben zunehmend gesucht. „Liebe das Kreuz“, riet der heilige Josefmaria. „Wenn du es wirklich liebst, wird dein Kreuz ... ein Kreuz ohne Kreuz sein. Und ganz sicher wirst du, wie er, Maria auf dem Weg begegnen.“7
1 Franziskus, Ansprache, 29.3.2013.
2 Hl. Josefmaria, Der Kreuzweg, 1. Station.
3 Romano Guardini, Der Herr, 5. Teil, Kap. 13 „Der Prozess“.
4 Prälat Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 9.1.2018, 2.
5 Prälat Fernando Ocáriz, Botschaft, 20.9.2021.
6 Benedikt XVI., Kreuzweg, Betrachtung, Fünfte Station, 2005.
7 Hl. Josefmaria, Der Rosenkranz, Die schmerzensreichen Geheimnisse, Nr. 4.