LAUT BERICHT des heiligen Lukas war Jesus etwa dreißig Jahre alt, als er sein öffentliches Leben begann (vgl. Lk 3,23). Bis dahin hatte er mit seiner Familie zunächst in Bethlehem, danach kurze Zeit in Ägypten und später in einem Dorf namens Nazaret gewohnt. Eines Tages verließ Jesus sein Elternhaus und ging in die judäische Wüste, um sich von Johannes taufen zu lassen. Danach ließ er sich in Kafarnaum nieder, wohin er auch nach seinen apostolischen Reisen immer wieder zurückkehrte, um sich mit seinen Jüngern auszuruhen.
Bei seinen Wanderungen durch die Städte und Dörfer Galiläas machte der Herr einmal einen Abstecher nach Nazaret. Er kehrte also in die Stadt zurück, in der er so viele Jahre gelebt hatte, doch er kehrte zurück als der Meister, der in aller Munde war. Der Ruf seiner Lehre und seiner Wunder war ihm vorausgeeilt. So sehr, dass seine Landsleute einander staunend fragten: Woher hat er diese Weisheit und die Machttaten? Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Leben nicht auch alle seine Schwestern unter uns? Woher also hat er das alles? (Mt 13,54-56).
Arbeit, Eltern, Familie, soziale Bande ... Die Dorfbewohner benennen die Koordinaten, unter denen sich das Leben des Herrn in diesen ersten dreißig Jahren entfaltet hatte. Und sie staunen. Doch all diese Tätigkeiten, die in den Augen der Menschen so normal waren, waren von erlösender Bedeutung. Die Stunden, die Jesus in der Werkstatt verbrachte, die Gespräche mit seinen Freunden, die Familientreffen ... All das trug zur Erlösung der Menschheit und zur Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott bei.1 So zeigt uns Christus, dass auch unser Alltag eine tiefere Dimension haben kann als jene, die sich dem bloßen Auge zeigt. Der heilige Josefmaria schrieb: „Indem Jesus wie einer von uns aufwächst und lebt, offenbart er uns, dass das menschliche Dasein, das gewöhnliche und alltägliche Tun einen göttlichen Sinn hat. Sooft wir diese Wahrheit auch betrachtet haben mögen, immer wieder sollte uns der Gedanke an die dreißig Jahre seines verborgenen Lebens in Staunen versetzen, jene dreißig Jahre, die den größten Teil seines Wandels unter uns Menschen, seinen Brüdern, ausmachen. Jahre im Schatten, für uns aber hell wie Sonnenlicht. Oder vielmehr: strahlende Jahre, die unsere Tage erleuchten und ihnen ihren wirklichen Sinn geben; denn wir sind gewöhnliche Christen, die ein normales Leben führen wie Millionen Menschen überall auf der Welt.“2
DIE LANDSLEUTE Jesu waren einst nicht in der Lage gewesen, die Heiligkeit zu erkennen, die in diesem gewöhnlichen Leben verborgen war, das sich über Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft vor ihren Augen abspielte und ihrem eigenen so ähnlich war. Nun aber sahen sie ein wenig von den reifen Früchten dieses heiligen Lebens Jesu – und nahmen Anstoß an ihm (Mt 13,57). Um ihnen einzuräumen, dass ihre Reaktion natürlich ist, zitiert der Herr ein bekanntes Sprichwort: Nirgends ist ein Prophet ohne Ansehen außer in seiner Heimat und in seiner Familie (Mt 13,57).
Vielleicht denken wir, dass man, um ein Heiliger zu sein, eine große Tat vollbringen oder ein perfektes, untadeliges Leben führen muss. In Wirklichkeit können wir, Gott sei Dank, in unserem täglichen Leben viele Menschen sehen, die durch ihre liebevolle Tätigkeit die Normalität des christlichen Lebens aufzeigen. Papst Franziskus betonte: „Es gefällt mir, die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes zu sehen: in den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln. In dieser Beständigkeit eines tagtäglichen Voranschreitens sehe ich die Heiligkeit der streitenden Kirche. Oft ist das die Heiligkeit ,von nebenan‘, derer, die in unserer Nähe wohnen und die ein Widerschein der Gegenwart Gottes sind (...). Lassen wir uns anregen von den Zeichen der Heiligkeit, die uns der Herr durch die einfachsten Glieder dieses Volkes schenkt.“3
Wir haben diese Zeichen der Heiligkeit vielleicht als erstes bei unseren Eltern gesehen. Sie waren es, die in uns den Samen des Glaubens gesät und uns vorangebracht haben, ohne ein Opfer zu scheuen. Das war auch beim heiligen Josefmaria der Fall. In seiner Jugend gab es Dinge im Verhalten seiner Eltern, die er nicht verstand – und er rebellierte innerlich. Im Laufe der Jahre wurde er sich der Heiligkeit bewusst, die darin lag und die ihm lange verborgen geblieben war. „Ich sehe es jetzt und jeden Tag mit mehr Klarheit, mit mehr Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, gegenüber meinen Eltern, gegenüber meiner Schwester Carmen ... Ich hatte ganz nah an meinem Herzen gute Vorbilder, die es verstanden, ihr Unglück mit hochgemuter Freude zu tragen, ohne die Last des heiligen Kreuzes zu übertreiben und ihre Standespflichten zu vernachlässigen. Meine Eltern, meine stillen, heroischen Eltern, sind mein großer Stolz.“4
MATTHÄUS schließt die Erzählung, indem er darauf hinweist, dass Jesus dort nicht viele Machttaten wirkte wegen ihres Unglaubens (Mt 13,58). Markus fügt in der Parallelstelle hinzu, dass der Herr über den Unglauben seiner Landsleute verwundert war (vgl. Mk 6,6). Im gesamten Evangelium sehen wir, dass Christus bei mehreren Gelegenheiten über den Mangel an Glauben enttäuscht ist. Immer wieder richtet er an das Volk oder an die Jünger die bittere Klage: Ihr Kleingläubigen (Mt 14,31; Mt 16,8; Mt 17,20; Lk 12,28); wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht (Joh 4,48).
Jesus lehrt uns, dass der Glaube eine Tugend ist, die im täglichen Leben geübt werden muss. Es mag sehr menschlich scheinen, dass wir außergewöhnliche und ausgefallene Dinge brauchen, um unseren Glauben zu entzünden. Doch der Herr hat eine andere Logik. Er liebt das Gewöhnliche, weil er darin immer wieder das wunderbare Handeln seines Vaters sieht und die Einladung, mit ihm zusammenzuarbeiten: Seht euch die Vögel des Himmels an … euer himmlischer Vater ernährt sie (Mt 6,26); lernt von den Lilien des Feldes … Gott kleidet sie (Mt 6,28.30); mein Vater wirkt bis jetzt und auch ich wirke (Joh 5,17).
In der Vereinigung mit Jesus sind wir aufgerufen, sein göttliches Leben in unseren gewöhnlichen Lebensumständen zur Entfaltung zu bringen, in einer ständigen Übung des Glaubens und damit auch der Hoffnung und der Liebe. Das II. Vatikanische Konzil hielt fest: „Alle Christgläubigen werden in ihrer Lebenslage, ihren Pflichten und Verhältnissen und durch dies alles von Tag zu Tag mehr geheiligt, wenn sie alles aus der Hand des himmlischen Vaters im Glauben entgegennehmen und mit Gottes Willen zusammenwirken und so die Liebe, mit der Gott die Welt geliebt hat, im zeitlichen Dienst selbst allen kundmachen.“5 Unser Vater Gott weiß jeden Augenblick unseres täglichen Daseins wertzuschätzen, so wie die Jungfrau Maria die verborgenen Jahre ihres Sohnes wertschätzte. Während Jesus heranwuchs und seine Weisheit zunahm und er Gefallen fand bei Gott und den Menschen (Lk 2,52), blieb seiner Mutter seine unspektakuläre Heiligkeit nicht verborgen, und sie bewahrte sie in ihrem Herzen (vgl. Lk 2,51). Maria wird uns helfen, die Heiligkeit in der Normalität zu entdecken und so das verborgene Leben Jesu Tag für Tag selbst zu leben.
1 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 517-518.
2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 14.
3 Franziskus, Gaudete et exsultate, Nr. 7-8.
4 Hl. Josefmaria, zit. in Andrés Vázquez de Prada, Der Gründer des Opus Dei, Bd. 1, S. 82, Fußnote 50.
5 II. Vat. Konzil, Dogm. Konstitution. Lumen gentium, Nr. 41.