Fünf Jahre danach

Ein nachdenklicher Rückblick auf den 6. Oktober 2002 – von Josef Arquer

Fünf Jahre nach dem 6. Oktober 2002 sind die lebendigen Szenen auf dem Petersplatz zu Bildern von Vergangenem verblasst. Leichte Nostalgie stellt sich bei dem ein, der sie sich ins Gedächtnis zurückruft. Vielleicht ist es wie mit dem Stupor, dem Staunen, das einen beim Betrachten einer überwältigenden Realität erfasst – eines Kunstwerkes etwa, einer Landschaft … 

Landschaft und Kunstwerk zugleich war an jenem Vormittag des 6. Oktober 2002 das Oval des Petersplatzes. Es heißt, Bernini habe die Kolonnaden mit ihren 284 Säulen als Geste umfassender Umarmung entworfen. Am Tag der Heiligsprechung wurde sie für rund 300.000 Menschen greifbar, erleb- und vernehmbar. Die zeitliche Distanz erleichtert nun die Einbettung ins Ganze. Dem damaligen Staunen folgte über mittlerweile fünf Jahre die Reflexion – jedes Mal mit neuen Schattierungen. Das Nachdenken, das immer wieder zum Gebet führt, erhellt die Zusammenhänge, lässt die Bilder von damals als Szenen einer größeren und lebendigen Geschichte erscheinen.

Der junge Priester Josefmaria hatte am 2. Oktober 1928 das „Werk Gottes“ als gesäten Samen vorgefunden, den Gott gleichsam in die Erdkrume seiner Dienstbereitschaft gesenkt hatte. Escrivá sprach in den ersten Jahren sogar von sich als Schoß der Mutter, in dem das Opus Dei wie ein Kind heranwachse, beschützt, verborgen, gefährdet?. Aber schon damals hatte er den globalen Charakter dieses gottgewollten Werkes erkannt. So schreibt er zu einer Zeit, da ihm nur fünf oder sechs junge Leute folgen: „Gott hat sein Werk vom Anfang an mit einem universalen, weltweiten Kern haben wollen.“ Am Morgen des 6. Oktober 2002 erblühte – der ganzen Kirche sichtbar – jene Pflanze, die der junge Priester als kleinen Samen am 2. Oktober 1928 gesät hatte, der inzwischen aufgegangen war und wuchs.

Die wahrhaft katholische Weite des Werkes wurde hörbar, lautstark vernehmbar, geradezu greifbar im gewaltigen Unisono des Amen, Amen, Amen, nachdem der Papst das imperative Decernimus gesprochen hatte, mit dem er seine Unfehlbarkeit in Anspruch nimmt. Aus dem liturgischen Amen erwuchs ein lang andauernder profaner Applaus. Sinnt man darüber nach, lässt sich der Beifall – wie die beiden Kolonnaden des Platzes – verstehen als Symbol einer weiteren Umarmung, nämlich des Sakralen und Profanen. Auch dies gehört zum Kern der Botschaft des neuen Heiligen: „Kontemplativ mitten in der Welt“ – „die Welt leidenschaftlich lieben“. So hatte er in einer seiner eindringlichsten Ansprachen ausgerufen, die zu einer Art Schlüsseltext des Opus Dei geworden ist.

Wem der Applaus galt, war klar. Denn Johannes Paul II. hatte mit seinen Worten auf die Gestalt Escrivás verwiesen, dessen Bild nun unter dem mittleren Balkon von St. Peter sichtbar war, den meisten auf dem Platz wohlvertraut. Aller Blicke waren nun auf ihn gerichtet. Doch wer die Geschichte des Opus Dei kannte, brauchte sich nur ein wenig nach rechts zu wenden und er konnte einen bestimmten Balkon der obersten Etage des Hauses Piazza della Città Leonina Nr. 9 ausmachen. Auf ihm hatte der heilige Josefmaria vom 23. auf den 24. Juni 1946 seine erste römische Nacht im Gebet verbracht – mit dem Blick auf die erleuchteten Fenster des päpstlichen Arbeitszimmers gerichtet.

Im nachdenklichen Gespräch nach dem feierlichen Akt malte sich ein guter Freund eine Zeitverschiebung von sechzig Jahren aus: Was empfände der auf dem Balkon bei Nacht Betende, wenn er jetzt, am helllichten Tag, auf den mittleren Balkon des Petersdomes herüberblickte? Beschämt würde er sein Bild auf dem Teppich betrachten und sich verwundert fragen, wieso jetzt anscheinend sein Motto nicht mehr gelten sollte, an das er sich doch sein Leben lang gehalten hatte: „Das Meine ist es, verborgen zu bleiben und zurückzutreten, auf dass allein Jesus leuchte.“ Er, der ein waches Auge für Feinheiten hatte und es verstand, Unscheinbarem eine spirituelle Pointe abzugewinnen, hätte wohl, um im Anachronismus zu bleiben, zu seinem künftigen Nachfolger Álvaro del Portillo gesagt: Álvaro, mein Sohn, das Motto bleibt, denn die Kirche will nicht mir jetzt Ehre bezeigen, sondern durch mich auf den Weg verweisen, der alt ist wie das Evangelium und wie das Evangelium neu.

Kehren wir zurück zum 6. Oktober, doch jetzt im Jahre 2007. Josemaría Escrivá gehört längst der ganzen Kirche. Viele der 2002 Anwesenden werden mittlerweile erfahren haben, worauf der Heilige hinaus wollte, wenn er die Christen ermunterte, sie sollten „die Welt leidenschaftlich lieben“. Zu einer Zeit, da die Arbeit als Bedrohung der Würde des Menschen und als Entfremdung betrachtet wurde, hat ihr Gott durch den heiligen Josefmaria eine neue Perspektive eröffnet: Dass sie ein gangbarer Weg zu Gott ist und eine Wirklichkeit, die geheiligt werden kann und heiligt.

Einer unter den 300.000 Gläubigen auf dem Petersplatz 2002 hatte Anfang der Dreißiger Jahre zu jenen drei jungen Leuten gehört, die in einer berühmten Begebenheit in der Frühgeschichte des Opus Dei vorkommen: Viele mehr hatte Escrivá zu einem Vortrag über die Heiligkeit inmitten der Welt eingeladen, aber nur diese drei waren gekommen. Als er ihnen nach seiner Ansprache den Segen mit dem Allerheiligsten erteilte, hat er – wie er später sagte – nicht 3 gesehen, sondern 300, 3.000, 30.000, 300.000 …

Wie sich als stete Begleitmelodie der Feier die Fontänen der beiden Brunnen auf dem weiten Platz in ihre Schalen ergossen hatten, ergoss sich nun der Strom vieler tausender Menschen hinein in die Straßen und Gassen Roms. Sie waren – mit einem Bildwort des Propheten Jesaja gesagt, das der Heilige bei seiner Verkündigung oft verwendet hatte – quasi fluvium pacis, wie ein Strom des Friedens in der Welt.