Ferien: Flucht auf die Räder

Papst Benedikt über unsere Feriengewohnheiten

„Unterwegs – Woher und Wohin?“ Mit diesem kleinen Text warnte Kardinal Ratzinger zu Beginn der Sommer- und Reisezeit 1985 vor dem „Stau derer, die im Leeren kreisen“. Und er zeigt uns Nomaden von heute, wo wahre „Freiheit und Beheimatung“ zu finden sind. 

Die Straße – Symbol unserer Zeit

An jedem Wochenende steuern ganze Blechkolonnen aus den Städten heraus, die sich am Sonntagabend auf heillos verstopften Straßen wieder in die Ausgangspunkte zurückwälzen. Wenn Ferien beginnen, schwellen diese Ströme zu wahren Völkerwanderungen an; ein ganzes Volk scheint dann auf Reisen zu sein. Die Straße ist zu einem der häufigsten Aufenthaltsorte der Menschen in den so genannten hochentwickelten Ländern geworden, und die Investitionen, die für sie laufend aufgewendet werden, sind Ausdruck für die seelische Verfassung, die den Menschen zum ruhelosen Wanderer werden lässt. Die Frage drängt sich auf: Was ist der Grund für solches Verhalten? Offenbar fühlen die Menschen sich in ihren Wohnungen nicht wirklich zu Hause; viele verlassen ihre Wohnstatt, so bald und so oft sie nur können. Sie scheint ihnen eher Ausdruck für das Gefängnis des Alltags zu sein als Bergung, in der man bleiben möchte. So könnte man wohl sagen: in dieser Flucht auf die Räder steckt ein Aufbegehren gegen die Zwänge der Arbeitswelt und ein Verlangen nach Freiheit, nach Weite, nach dem ganz anderen, indem man erst schöpferisch und frei zu sich selber kommen kann. 

Sehnsucht nach „mehr“

Insofern kommt in dieser regelmäßigen Völkerwanderung der Industriegesellschaft doch etwas sehr Tiefes über den Menschen und sein Wesen zum Vorschein. Er kann in seinem Besitz nicht völlig zu Hause sein. Er wird von einer Unruhe umhergetrieben, die Größeres und mehr verlangt. Er sucht die Freiheit, die über die bürgerlichen Freiheiten und ihre Erfüllungen hinausgeht.

Wird da nicht doch etwas spürbar von der Wahrheit der biblischen Worte, die den Menschen als „Pilger in dieser Welt“ bezeichnen und sagen, dass er in ihr allein sein Zuhause nicht finden kann? Wird nicht etwas erkennbar von jener Unruhe des Herzens, über die Augustinus spricht, der sich selbst als den unruhig Suchenden erfahren hatte, als den rastlos Umgetriebenen, bis er endlich begriff, warum ihm alles zu wenig war? Dem Nomaden von heute mag das Auto als Ausdruck seiner Freiheit und seiner Selbstverfügung erscheinen und deshalb über das Zweckmäßige hinaus so unersetzlich sein. Aber gibt es ihm sein Selbst und seine Freiheit oder verzwängt es ihn nicht erneut in den Stau derer, die im Leeren kreisen.

So könnten unsere Feriengewohnheiten uns sehr wohl zum Anlass werden, um einmal wieder gründlich über uns selbst nachzudenken und uns auf eine größere Suche zu begeben, als wir sie gewöhnlich wagen. Wäre nicht das erst wirklich dem Menschen gemäße Fahrt, das Heraustreten aus der Enge des Alltags: sich auf die Suche nach dem Ewigen zu begeben, das Antlitz Gottes zu suchen und so alle Grenzen des Irdischen zu überschreiten? Und könnte es nicht sein, dass erst von dort her uns Freiheit und Beheimatung zugleich zukämen? Vielleicht könnte dieser Sonntag (vor bzw. in den Ferien) uns Anlass sein, einmal auf diesem Weg jenes ganz Andere zu suchen, nach dem wir bewusst oder unbewusst fortwährend Ausschau halten. 

Zitiert nach: Benedikt XVI., Wer hilft uns Leben? Von Gott und Mensch, hrsg. v. Holger Zaborowski und A. Letzkus, Freiburg/Br. 2005, S. 22f.