Erziehung zur Schamhaftigkeit (II) - Kindheit und Jugend

Die Jugendzeit ist ein grundlegender Zeitabschnitt im Leben einer jeden Person. Es ist notwendig, dass man die Freiheit fühlt und gleichzeitig muss man sich an die anderen gebunden wissen. Die Erziehung in diesem Lebensabschnitt ist unterschiedlich.

Die Altersstufe zwischen mehr oder weniger sieben und zwölf Jahren – wenn sich bereits die ersten Züge des heranreifenden Jugendlichen abzeichnen – ist für die Eltern und Kinder der schönste Abschnitt der Kindheit, besonders wenn davor bei der Erziehung alles gut gemacht wurde. Der Sohn oder die Tochter ist jetzt bereits in der Lage, sich um die eigenen Angelegenheiten selbst zu kümmern. Aber sie stützen sich dabei stark auf ihre Eltern und vertrauen ihnen normalerweise all ihre Dinge an. Sie haben einen richtiggehenden Wissensdrang und wollen alles Unbekannte klären. Und wenn die Worte richtig gewählt werden, verstehen sie sehr gut, was man ihnen sagen möchte.

Dieser verhältnismäßig ruhige Lebensabschnitt darf aber kein Vorwand sein, bei der Erziehung nachzulassen und vielleicht zu meinen, dass die Dinge von alleine gut gehen werden. In dieser Zeit müssen sich vielmehr die Vorstellungen und Grundsätze für die Gestaltung ihres künftigen Lebens festigen. Man könnte sagen, dass es der richtige Augenblick ist, ihnen alles zu erklären und sogar schon jetzt Dinge anzusprechen, mit denen sie erst später zu tun haben werden.

Die angenehmen Jahre

Es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, den Kindern nicht nur das schamhafte Verhalten, sondern auch seinen Sinn zu erklären. Sie werden verstehen, dass die Kleidung nicht bloß den Körper verhüllt, sondern auch die Person bekleidet; dass sie zeigt, wie wir uns zu erkennen geben wollen, und dass sie ein Ausdruck der Achtung ist, die wir von den anderen uns gegenüber erwarten und die wir den anderen entgegenbringen.

Gleichzeitig müssen die Kinder lernen, ihre Intimsphäre zu wahren, so dass sie diese nur in angemessener Weise und vor den Menschen öffnen, die dafür infrage kommen. Die Klugheit – jene Tugend, die hier ins Spiel kommt – erwirbt man durch Rechtschaffenheit, Erfahrung und gute Ratschläge, und bei diesem Aneignen haben die Eltern viel zu sagen. Die Kinder erwarten sich von ihnen einen vertrauensvollen Umgang, Interesse und eine Führung, die ihnen bei dieser beginnenden Entfaltung ihrer Persönlichkeit das Gefühl von mehr Sicherheit geben. Werden sie in einer Angelegenheit bestätigt oder berichtigt, lernen sie jeweils, auf was, auf wen und warum sie vertrauen dürfen.

In diesem Alter besteht die Gefahr, dass die Lernbegeisterung sich in eine unbedachte und manchmal unverschämte Neugier verwandelt und zum Verlangen führt, neue Dinge auszuprobieren, auch mit dem eigenen Körper. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern auf alle Fragen eingehen, die ihnen möglicherweise gestellt werden, ohne sich davor zu drücken oder die Kinder auf später zu vertrösten; und sie sollen ihnen immer eine ihrem Verständnis angepasste Antwort geben. Dieses Alter ist zum Beispiel der richtige Zeitpunkt für eine gut verständliche Erziehung der Gefühle . Lügt sie nicht an: Ich habe alle Störche erschlagen. Sagt ihnen, dass Gott sich eurer bedient hat, damit sie auf die Welt kamen, dass sie die Frucht eurer Liebe, eurer Hingabe, eurer Opfer sind ... Dazu müsst ihr Freunde eurer Kinder werden und sie dazu bringen, mit euch vertrauensvoll über ihre Angelegenheiten zu reden1. In diesem Zusammenhang erklärt man ihnen die wertvolle Bedeutung des menschlichen Körpers und auch die Notwendigkeit, ihn rücksichtsvoll zu behandeln. Dabei sollte alles vermieden werden, was dazu führen könnte, ihn bloß als einen Gegenstand anzusehen, sei es der Lust, der Neugier oder des Spiels.

Es ist auch angebracht, den Ereignissen zuvorzukommen und die körperlichen und seelischen Veränderungen anzusprechen, die bei ihnen in der Pubertät auftreten werden, damit sie diese auf natürliche Weise annehmen können, wenn es soweit ist. Man muss unbedingt vermeiden, dass die Kinder den Bereich des Geschlechtlichen wie durch einen Schleier der Bosheit aufnehmen, weil sie in etwas so Edles und Heiliges durch die schmutzige Bemerkung eines Freundes oder einer Freundin eingeführt worden sind2 Auch hier soll die positive Sicht vorherrschen. Ohne es zu unterlassen, auf die Gefahren einer freizügigen Umwelt hinzuweisen – die übrigens von den Kindern häufig schon in sehr frühem Alter wahrgenommen werden – geht es darum, das Thema als eine Gelegenheit für das Wachstum ihrer Seelen und ihrer Körper darzustellen, sofern sie es fertig bringen, sich zu bemühen, positiv auf die negativen Reize zu reagieren. Die Schamhaftigkeit wird ein wirksamer Schutz sein – er ist es bereits – und eine Hilfe, um das Herz rein zu bewahren.

Die schwierigen Jahre

Die Jahre, in die der Beginn der Pubertät und die Pubertät selbst fallen, sind hinsichtlich des behandelten Themas für die Eltern die schwierigste Zeit. Vor allem weil die Kinder viel eifersüchtiger auf die Wahrung ihrer Intimsphäre bedacht sind. Manchmal nehmen sie auch Protesthaltungen ein, die den Eindruck hinterlassen können, es gäbe keinen anderen Grund, als zu widersprechen. Das kann bei den Eltern zu einer gewissen Verunsicherung führen, da sie aus gutem Grund ahnen, dass die Kinder einen Teil ihrer intimen Dinge nicht mehr mit ihnen, sondern mit Freunden oder Freundinnen teilen. Auch die häufigen Stimmungswechsel sind verwirrend: es gibt Zeiten, in denen die Kinder darauf bestehen, dass niemand in ihre Welt eintritt, und andere, in denen sie eine vielleicht übertriebene Zuwendung verlangen. Es ist wichtig, die letzteren zu bemerken und ihnen so gut wie möglich zuzuhören, weil man nicht wissen kann, wann sich die nächste Gelegenheit ergeben wird.

Dieses Verlangen nach Unabhängigkeit und Intimität ist nicht nur notwendig, es ist auch eine neue Gelegenheit, um das Wachstum ihrer Persönlichkeit zu fördern. Die Jugendlichen sind in besonderer Weise bestrebt, die Bereiche ihrer Intimsphäre zu hüten, und müssen lernen, sie je nach den Umständen zu öffnen oder zu bewahren. Die Hilfe, die ihnen die Eltern auf diesem Gebiet anbieten können, besteht zum Großteil darin, es zu verstehen ihr Vertrauen zu gewinnen und warten zu können. Sie sollen ansprechbar sein und sich für ihre Anliegen interessieren, und es verstehen diese immer wieder vorhandenen Augenblicke zu nützen, in denen die Kinder sie aufsuchen oder in denen die Umstände ein Gespräch erfordern.

Das Vertrauen wird gewonnen, es lässt sich nicht aufdrängen. Noch weniger ist es durch ein heimliches Überwachen der Kinder ersetzbar, indem man ihre Notizkalender oder Tagebücher liest oder zuhört, worüber sie mit ihren Freunden sprechen, oder sich - unter einer falschen Identität - mit ihnen über soziale Netzwerke in Verbindung setzt. Auch wenn einige Eltern meinen, es zu ihrem Wohl zu tun, wäre ein derartiger Eingriff in ihre Intimsphäre der sicherste Weg, um das gegenseitige Vertrauen zu zerstören; und unter normalen Voraussetzungen ist es von der Sache her ungerecht.

Die vorhin erwähnten Wesenszüge führen dazu, dass die Heranwachsenden, von allen Gesichtspunkten aus, sehr auf sich selbst schauen. Unter ihnen nimmt der körperliche einen wichtigen Platz ein. Daraus lässt sich schließen, dass die erste Schamhaftigkeit, zu der man ihnen verhelfen soll, sich auf sie selbst bezieht. Das betrifft sowohl die Mädchen als auch die Jungen, auch wenn mit jeweils feinen Unterschieden. Die Mädchen neigen dazu, sich mit einigen, von ihnen bewunderten Schönheitsvorbildern zu vergleichen und zu finden, anziehend für das andere Geschlecht zu sein. Die Burschen haben mehr das Verlangen, von ihren Kameraden für erwachsener gehalten zu werden und vor ihnen gut dastehen, auch wenn der Wunsch nicht fehlt, von den Mädchen bewundert zu werden. Zum Großteil vollzieht sich dieser jugendliche Narzissmus ohne Zeugen. Aber wenn man sie genauer beobachtet, lässt sich leicht irgendein Zeichen dieses Verhaltens bemerken, wie etwa, dass sie nicht fähig sind es zu vermeiden sich selbst zu betrachten, wenn irgendetwas ihr Spiegelbild zeigt, sogar wenn sie auf der Straße unterwegs sind; oder wenn Mädchen ständig danach fragen, ob ihnen ihre Kleidung gut steht.

Zu meinen, das alles sei „altersbedingt“ und werde vorübergehen, weil man sich bei der Sache heraushalten möchte, wäre eine falsche Haltung. Natürlich handelt es sich um etwas Altersbedingtes, aber gerade deswegen müssen sie erzogen werden. In der Reifezeit erwachen die großen Ideale, und diese müssen gefördert werden. Die Kinder verstehen ziemlich leicht, dass dieses Verschließen in sich selbst sie letztlich für die Bedürfnisse der anderen blind macht. Davon ausgehend können sie gut verstehen, dass die Schamhaftigkeit sich selbst gegenüber – die Pflege des eigenen Körpers, jedoch ohne Übertreibungen; das Vermeiden einer ungesunden Neugier, usw. – eine Vorbedingung ist, um das großzügige Herz zu bekommen, das sie gerne haben möchten.

Anstand und Mode

Die Jugendzeit bietet auch neue Gelegenheiten zur Erziehung bezüglich all dessen, was die Weise betrifft, die Schamhaftigkeit den anderen gegenüber zu leben, insbesondere hinsichtlich der Art, sich zu pflegen, Gespräche zu führen oder sich zu kleiden. Aus unterschiedlichen Gründen und - abhängig vom jeweiligen Ort - mehr oder weniger aggressiv pflegt die allgemeine Stimmung eine hemmungslose Lockerung der Sitten zu begünstigen. Dabei sollte man aber berücksichtigen, dass gewisse Verhaltensweisen in den meisten Fällen nicht auf einen klaren Entschluss des Sohnes oder der Tochter zurückgehen. So sehr auch die Jugendlichen auf ihre Unabhängigkeit pochen, sind sie in Wirklichkeit sehr abhängig von der Gruppe. Anders zu sein als ihre Freunde oder Freundinnen gibt ihnen das Gefühl sonderbar zu sein. Es wäre nichts Ungewöhnliches, würde man feststellen, dass weder der Sohn den „übertrieben nachlässigen“ Modestil besonders schätzt, noch die Tochter sich in einer weniger anständigen Kleidung wohlfühlt; aber die Angst, von ihren Freunden abgelehnt zu werden, bringt sie dazu, so gekleidet sein zu wollen wie die anderen.

Die Lösung besteht nicht darin, die Kinder von der Gruppe fernzuhalten: sie brauchen ihre Freunde und Freundinnen, auch um reifer zu werden. Was man tun muss ist, ihnen beizubringen gegen den Strom zu schwimmen. Und man muss wissen, wie man das macht. Wenn der Sohn oder die Tochter sich damit verteidigt, dass alle ihre Freunde „so daherkommen“, dann sollten die Eltern ihnen erstens klar machen, wie wichtig es ist, ihre eigene Persönlichkeit zu achten, und helfen, gute Freundschaften zu schließen; und zweitens sollten sie versuchen, sich mit den Eltern der Freunde ihrer Kinder selbst anzufreunden, um sich beispielsweise mit ihnen in dieser Angelegenheit und bei anderen Themen ins Einvernehmen zu setzen.

Jedenfalls darf man nicht nachgeben. Jede Art sich zu kleiden, die im Widerspruch mit dem Anstand oder einem natürlichen guten Geschmack steht, hat zuhause nichts zu suchen. Die Eltern müssen darauf hinweisen und, wenn der richtige Augenblick gekommen ist, mit ihren Kindern darüber gelassen, aber mit Nachdruck sprechen und ihnen die Gründe für ihr Verhalten erklären. Wenn es in der Kindheit angebracht ist, dass der Vater mit dem Sohn und die Mutter mit der Tochter über diese Themen sprechen, ist es jetzt in vielen Fällen eher angemessen, dass auch der andere Elternteil am Gespräch teilnimmt. So kann beispielsweise der Vater seiner jungen Tochter, die nicht versteht, warum sie keine allzu freizügige Kleidung tragen soll, das ansprechen, was sie vielleicht noch nicht richtig versteht: sie zieht auf diese Weise die Blicke der Burschen auf sich, aber keineswegs deren Wertschätzung.

So wie über andere Dinge können der Vater und die Mutter ihren Kindern auf kluge Weise von ihren eigenen Erfahrungen erzählen, die sie gemacht hatten, als sie selber Jugendliche waren, sowie von dem, was sie an der Person wirklich interessierte, mit der sie ihrer Meinung nach ein gemeinsames Leben verbringen wollten. Es sind Gespräche, die vielleicht im ersten Augenblick keine große Auswirkungen zu haben scheinen, aber auf lange Sicht schon, und die Kinder werden später dankbar dafür sein.

Wenn wir von der Erziehung zur Schamhaftigkeit sprechen, muss bei der Aufgabe der Eltern auch der Einfluss des Umfelds, in dem sie sich bewegen, berücksichtigt werden. Das zeigt sich zunächst an der Wahl des Urlaubsortes. In vielen Ländern ist im Sommer ein Strandaufenthalt nicht zu empfehlen. Selbst wenn man alles tut, um ein wenig erbauliches Panorama zu vermeiden, ist die allgemeine Stimmung so locker, dass der Anstand schwer zu bewahren ist. Auch wer ein Kind zu einer Urlaubsaktivität oder einem Ferienlager anmelden möchte, wäre unvernünftig, wenn er sich davor nicht genau informiert, ob die von den Veranstaltern getroffenen Vorkehrungen eine gute menschliche Stimmung sicherstellen.

Ein weiterer Bereich, auf den sie achten sollen, sind die Orte, an denen die Kinder ihre Freizeit verbringen, vor allem weil der Gruppendruck in der Jugendzeit viel stärker ist. Es ist wichtig, dass die Eltern wissen, wo sich die Kinder aufhalten, und versuchen, ihnen im Einvernehmen mit anderen Eltern andere Möglichkeiten vorzuschlagen. Ein dritter Ort ist für sie leichter zugänglich: das Kinderzimmer. Es ist verständlich, dass sie es nach ihrem Geschmack gestalten wollen. Aber diese Unabhängigkeit muss eine Grenze haben, die vor allem durch die Anständigkeit der Dinge vorgegeben ist, die sie anbringen wollen.

Es ist jedenfalls verständlich, dass die Eltern bei den Kindern irgendwann auf Widerstand stoßen, weil die Jugendlichen eine naturgegebene Neigung haben, ihre Unabhängigkeit von den Eltern und den Erwachsenen ganz allgemein behaupten zu wollen, und weil es ihnen an Erfahrung mangelt. Oft führt ein Ungehorsam – es ist weder möglich, noch wünschenswert, alles zu kontrollieren – zu einer Belehrung, und durch sie zu einer Besserung, die man ausnützen sollte. Wenn ein Problem auftritt, darf man nicht die Gelassenheit verlieren. Ziemlich sicher haben auch die Eltern mehr als einmal etwas dazu gelernt, als sie so alt waren wie ihre Kinder. Die Erziehungsarbeit verlangt immer sehr viel Geduld, besonders in Bereichen wie diesem, wo die Jugendlichen die Kriterien, die man ihnen weitergeben möchte, zunächst für übertrieben halten können. Es wird die Zeit kommen, in der sie diese besser verstehen und selbst annehmen werden, sofern die Eltern immer wieder liebevoll, mit guter Laune und mit Vertrauen beharrlich darauf bestehen, weil sie überzeugt sind, dass es sich lohnt, sie auf diese Weise zu erziehen.

J. De la Vega (2012)

1 hl. Josefmaria Escrivá Aufzeichnung von einer Predigt, in Maestro de buen humor, S. 99.

2 hl. Josefmaria Escrivá, Gespräche, Nr. 100.