Erziehung zur Freundschaft

„Das Ideal ist, dass die Eltern Freunde ihrer Kinder werden“, sagte der hl. Josefmaria. Erst auf dieser Grundlage wird Erziehung möglich.

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In der Erziehung ist nicht die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten das Wichtigste, sondern vor allem, dem jungen Menschen zu helfen, dass er als Person wachsen und alle seine Möglichkeiten, die eine Gabe Gottes sind, entfalten kann.

Natürlich ist auch die Wissensvermittlung, die Weitergabe von Inhalten, wichtig, aber man darf nie aus den Augen verlieren, dass die Erziehung viel weiter reicht als Ausbildung in handwerklichem oder intellektuellem Können. Es muss immer die Freiheit und damit die Verantwortung des Kindes oder des Jugendlichen ins Spiel kommen.

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Die Erziehung braucht also Ziele, die dem jeweiligen Alter angepasst und daher einsichtig sind und als etwas erscheinen, was vernünftig ist, weil es dem eigenen Tun Sinn und Wert gibt.

DURCH FREUNDSCHAFT ERZIEHEN

Man darf nicht vergessen, dass die Erziehung vor allem in den frühen Wachstumsphasen eine stark affektive Komponente hat. Wille und Verstand entfalten sich nicht ohne Bezug zu Gefühlen und Emotionen, vielmehr ist gefühlsmäßige Ausgeglichenheit sogar unerlässlich für die Entfaltung von Verstand und Willen, während es im umgekehrten Fall zu Lernschwierigkeiten und Brüchen in der Persönlichkeit kommen kann.

Wie aber kann es gelingen, Ordnung und rechtes Maß in der kindlichen Affektivität und später des Heranwachsenden und Jugendlichen zu verankern? Das ist vielleicht eine der besonders schwierigen Fragen im Rahmen der Erziehung, weil es sich dabei unter anderem um eine praktische Frage handelt, die jede Familie betrifft. Eines kann aber schon vorweg genommen werden: letztlich geht es vor allem darum, eine Vertrauensbasis zu schaffen.

Ihr Väter, schüchtert eure Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden1, empfiehlt der Apostel. Sonst wüchsen unsere Kinder zu ängstlichen und übervorsichtigen Menschen heran, die nicht wagen, Verantwortung zu übernehmen, weil ihre Geisteshaltung – pusillus animus –klein und mittelmäßig bliebe.

Vertrauen schaffen hat mit Freundschaft zu tun, und das ist genau der Boden, auf dem Erziehung wirklich gedeihen kann. Die Eltern sollen versuchen, Freunde ihrer Kinder zu werden. Der hl. Josemaria hat das wiederholte Male nahe gelegt: Eine autoritäre und auf Zwang gegründete Vorgangsweise ist für die Erziehung keine geeigneter Weg. Das Ideal ist vielmehr, dass die Eltern Freunde ihrer Kinder werden, Freunde, denen man seine Sorgen anvertraut, mit denen man sich in Schwierigkeiten berät und von denen man sich wirksame und freundliche Hilfe erwartet.2

Vielleicht fragt man sich da zuerst einmal, was „Freunde der Kinder werden“ konkret heißen soll, weil man bei Freundschaft an eine Beziehung zu seinesgleichen denkt, während es in der Eltern-Kind-Beziehung eine natürliche Asymmetrie gibt.

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Die Kinder empfangen von den Eltern immer viel mehr als das, was sie ihnen unter Umständen geben können. Sie können nie zurückzahlen was sie den Eltern schulden. Die Eltern ihrerseits sehen sich normalerweise nicht als die, die sich für die Kinder verausgaben, auch wenn es in der Tat so ist; sie sehen nicht als Verlust an, was für die Kinder ein Geschenk ist. Sie schauen wenig auf die eigenen Bedürfnisse, sondern machen die der Kinder werden zu ihren eigenen. Sie würden ihr Leben für sie geben und tun das normalerweise auch, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Ein größerer Gratiseinsatz ist sonst kaum irgendwo zu finden.

Es ist aber auch wahr, dass die Eltern durch die Kinder reich werden. Elternschaft ist eine immer neue Erfahrung, wie ein Mensch überhaupt immer eine neue Erfahrung ist. Die Eltern bekommen von ihren Kindern etwas sehr Wichtiges, und zwar an erster Stelle eine zärtliche Liebe, die ihnen niemand anderer an ihrer Stelle geben könnte, einfach weil jede Person einzig ist. Die Kinder veranlassen außerdem die Eltern, sich zu vergessen, sich in der Hingabe an den Anderen – der Mann an die Frau, die Frau an den Mann und beide an die Kinder – zu verausgaben und dabei als Personen zu wachsen.

Nur in der Liebe kann der Mensch ganz seine Erfüllung erlangen. „Der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, (kann) sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden.“3 Liebe schenken und geliebt werden, nur das kann das menschliche Leben erfüllen und ihm Gewicht geben. So sagt der hl. Augustinus: amor meus, pondus meum.4 Die Liebe ist also in demjenigen, der fähig ist, für den geliebten Menschen zu leiden, lebendiger als in dem, der nur bereit ist, mit ihm gute Zeiten zu verbringen.

Liebe ist immer mit Opfer verbunden und es überrascht nicht, dass es auch Opfer verlangt, einen Raum des Vertrauens und der Freundschaft den Kindern gegenüber zu schaffen. An solch einer Familienatmosphäre muss man arbeiten, sie ist nicht einfach schon da. Andererseits ist es aber auch kein übermäßig schwieriges Projekt und braucht auch keine Spezialausbildung; es geht vielmehr darum, dass man auf die Kleinigkeiten achtet, dass man die Liebe auch zu äußern versteht.

Die Familienatmosphäre wird allem voran von der herzlichen Liebe der Eheleute zueinander geprägt. In einem gewissen Sinn kommt die Liebe zu den Kindern aus dem Überfluss dieser Liebe der Eltern zueinander. Die Kinder leben davon, meist ohne sich dessen bewusst zu sein.

Diese Harmonie ist besonders gefordert, wenn es darum geht, von den Kindern etwas zu verlangen oder ihnen etwas zu verbieten. In der Erziehung ist es von vorrangiger Bedeutung, dass die Eltern sich einig sind, so dass die Maßnahme, die einer ergriffen hat, vom anderen unterstützt wird. Andernfalls erzieht man schlecht.

Die Eltern müssen auch einander erziehen und einander helfen, bessere Erzieher zu werden. Schlecht erzogene Mütter und Väter werden schwerlich gute Erzieher ihrer Kinder sein. Sie müssen dadurch vorankommen, dass sie sich beharrlich um ihre eheliche Beziehung kümmern, in den Tugenden wachsen und gemeinsam versuchen, ihre Kinder positiv zu beeinflussen.

FÜR DIE FREUNDSCHAFT ERZIEHEN

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Vertrauen ist die „Nährlösung“ für die Freundschaft, und diese schafft ihrerseits ein freundliches und Vertrauen förderndes Umfeld, das Sicherheit und Gelassenheit begünstigt. Vertrauen schafft ein Klima, das die Kommunikation und den Austausch erleichtert, sowohl der Eltern untereinander als auch mit den Kindern und unter diesen.

Konflikte zwischen den Eheleuten sind von ganz anderer Qualität als Streitereien unter den Kindern. Letztere sind häufig und bis zu einem gewissen Grad normal. Wir alle beteiligen uns auf die eine oder andere Weise am Wettstreit um die Ressourcen, besonders wenn sie begrenzt sind; jedes der Geschwister möchte immer an der Hand der Mutter gehen, im Auto auf dem Vordersitz Platz nehmen, der Liebling des Vaters sein oder als erstes das neue Spielzeug auspacken dürfen. Diese Streitigkeiten können auch eine große erzieherische Funktion haben und helfen, dass ein Kind seinen Platz in der Gemeinschaft findet. Sie geben den Eltern die Gelegenheit, dem Kind zu zeigen, dass man das Gute für den Anderen will, dass man verzeiht, dass man manchmal nachgeben soll, andere Male aber auch nicht. Die natürliche Liebe zur eigenen Familie verstärkt die Beziehung zu den anderen Geschwistern, erleichtert – wenn sie recht gelenkt wird – die Erziehung in den Tugenden, und bildet Freundschaften aus, die das ganze Leben dauern.

Man muss sich in der Familie aber auch die Frage stellen, was die Freundschaft der Eltern untereinander stärkt. Auftauchende Uneinigkeiten entstehen meist durch Mängel in der Kommunikation, die ganz verschiedene Ursachen haben können: die unterschiedliche Art, Dinge zu sehen, die Routine, die sich im täglichen Einerlei eingeschlichen hat, schlechte Laune, der man freien Lauf lässt … und in allen Fällen ist der Gesprächsfaden abgerissen.

Da gilt es sich zu prüfen, um Verzeihung zu bitten und zu verzeihen. Müsste ich den Eltern einen Rat geben, würde ich ihnen vor allem dies sagen: Lasst eure Kinder sehen – sie sehen es ohnehin von klein auf und bilden sich ihr Urteil darüber, macht euch da keine Illusionen -, dass ihr euch bemüht, im Einklang mit eurem Glauben zu leben; dass Gott nicht nur auf euren Lippen, sondern auch in euren Werken ist, dass ihr euch bemüht aufrichtig und loyal zu sein, dass ihr euch und sie wirklich gern habt. 5

Die Kinder erwarten von den Eltern nicht, dass sie sehr gescheit oder besonders sympathisch sind, dass sie immer treffende Ratschläge geben, hervorragend arbeiten oder sie mit Spielzeug überhäufen und ihnen das Erlebnis wunderbarer Ferien bieten.

Was sie sich von ihren Eltern wirklich wünschen ist, dass sie sich gern haben und einander schätzen. Sie suchen in ihnen das Zeugnis für den Wert und den Sinn des Lebens, das sich greifbar vor ihren Augen verwirklicht und, auf die Dauer gesehen, in allen Situationen des Lebens gültig bleibt.6

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Die Familie ist ohne Zweifel, wie der hl. Josemaria sagte, das vorrangige Geschäft der Eltern und dazu auch das fruchtbarste, wenn es gut geführt wird. Sie verlangt ein ständiges Bemühen um das Wachsen in den Tugenden und Wachsamkeit, die keine Pause kennt. Das ist nicht leicht zu erreichen. Wie kann man ein authentisches Zeugnis für den Sinn des Lebens geben? Wie kann es gelingen, dass man sich immer kohärent verhält? Wie kann man also zur Freundschaft erziehen oder – anders gesagt – die Grundlagen legen für die Liebe, für das Glück?

Es wurde schon hervorgehoben, dass gerade die Liebe, die die Eltern zueinander haben und auch den Kindern schenken, diese Fragen zum Teil schon beantwortet. Dazu kann man noch zwei Aspekte der Erziehung aufzeigen, die unterschiedlich, aber doch beide wichtig und für die Entfaltung der Persönlichkeit und das Erlernen der sozialen Einbindung signifikant sind, und damit direkt mit einem glücklichen Leben zu tun haben.

Da ist einmal das Spiel, dem man manchmal zu geringe Bedeutung zumisst. Das Kind spielen lehren verlangt oft Opfer und Widmung von Zeit, die Mangelware ist und die wir maximal nützen wollen, auch um uns zu erholen.

Aber gerade Zeit ist eines der großen Geschenke für das Kind, weil sie Nähe und daher konkret Liebe bedeutet. Schon allein damit fördert das Spiel das Klima des Vertrauens, in dem die Freundschaft zwischen Eltern und Kindern wächst. Außerdem bilden sich aber durch das Spiel auch Haltungen heraus, die Voraussetzung für Tugenden sind, die der Mensch braucht, um lebenstüchtig zu werden.

Der zweite Aspekt betrifft die Persönlichkeit selbst, die Seinsart von Vater und Mutter, die in ihrer Verschiedenheit den Charakter des Kindes formen. Wenn die Eltern anwesend sind und auf positive Weise in die Erziehung eingreifen, und zwar freundlich, interessiert, durch Korrektur, die nicht entmutigt, vermitteln sie den Kindern ganz selbstverständlich, wie durch Osmose, ein Leitbild für ein angebrachtes Verhalten und eine mögliche Lebensbewältigung.

Wenn die Eltern sich um die eigene Besserung bemühen, wenn sie versuchen zuzuhören, froh und liebenswürdig zu sein, dann geben sie ihren Kindern eine greifbare Antwort auf die Frage, wie das Leben im Rahmen der Grenzen unserer irdischen Existenz glücklich sein kann.

Dieser Einfluss, dessen Bedeutung und Auswirkungen sich erst im Verlauf der Zeit abschätzen lassen, gelangt bis in die tiefsten Schichten des menschlichen Seins. Im Vorbild, das Vater und Mutter geben, erkennt das Kind, was Mann und Frau jeweils bei der Gestaltung eines wirklichen Zuhauses einbringen. Es entdeckt auch, dass sich Glück und Freude der gegenseitigen Liebe verdanken. Es erkennt dankbar, dass die Liebe eine edle und hohe Wirklichkeit ist, die wie selbstverständlich auch das Opfer einschließt.

Mit einem Wort, es ist das in der Familie herrschende Klima, das für das Kind auf natürliche und spontane Weise den festen Bezugspunkt darstellt, der ihm – bei allen Abwegen, die es in der Gesellschaft geben mag – für immer als Orientierung dienen wird. Die Familie ist der privilegierte Ort, wo man die Größe des menschlichen Daseins erfahren kann.

Alles bisher Gesagte stellt einen charakteristischen Zug der aufopfernden Liebe der Eltern dar. Sie haben auf der einen Seite die Freude erfahren, sich in den Kindern fortzusetzen, erleben aber auf der anderen Seite, wie diese heranwachsen und sich dabei immer mehr von ihnen lösen und sie selbst werden.

Die Eltern selbst reifen in ihrer Elternschaft in dem Maß, in dem sie mit Freude sehen, wie ihre Kinder heranwachsen und immer weniger von ihnen abhängen. Ausgehend von den lebensspendenden Wurzeln, die erhalten bleiben, geschieht eine langsame und natürliche Abtrennung einer neuen Biographie, die sich in eigener Weise entfaltet, und die vielleicht nicht den Erwartungen entspricht, die die Eltern – vielleicht schon vor der Geburt – gehegt haben.

Die Eltern meistern die Erziehung ihrer Kinder leichter und fördern ihr Heranwachsen und -reifen bis zu ihrer Unabhängigkeit, wenn sie sie auch in einem Klima der Frömmigkeit aufwachsen lassen und sie zur Freundschaft mit Gott anleiten. Wenn die Familie sich als Hauskirche7 versteht, dann übernimmt das Kind mit größter Einfachheit wenige und möglichst kurze Gebete und Gewohnheiten und lernt, seine erste tiefe Zuneigung Christus zu schenken, es lernt, Gott wie einen Vater und Maria wie eine Mutter zu behandeln; mit einem Wort: es lernt beten, indem es einfach dem Beispiel seiner Eltern folgt.8 J.M. Barrio, J.M. Martín

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1 Kol 3, 21

2 Hl. Josemaria, Christus begegnen, Nr. 27

3 Vat. II, Dogmat. Konst. Gaudium et spes, Nr. 24

4 Hl. Agustínus, Bekenntnisse, XIII, 10.

5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 28.

6 Ebd.

7 vgl. 1 Kor 16,19

8 Hl. Josemaria, Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Nr. 103