Ein Mann des Glaubens

Marlies Kücking

Ich hatte das große Glück, viele Jahre in der Nähe des seligen [heiligen] Josemaría Escrivá zu leben und zu arbeiten. Seit ich den Gründer des Opus Dei 1957 in Köln kennenlernte bis zu dem Tag, an dem ich ihn – kurz vor seinem Tod – zum letzten Mal sah, beeindruckte mich seine Liebe zu Gott sowie seine Treue zur Kirche und seine Verbundenheit mit dem Heiligen Vater. Ich konnte aus der Nähe seine Liebe zu seinen Kindern und zu allen Menschen erfahren, sein unermüdliches Arbeiten und sein beständiges Bemühen um die christlichen Tugenden.

Ich möchte hier das geistliche Profil des Gründers des Opus Dei mit nur wenigen Strichen skizzieren. Es mag dem Leser helfen, seinen Geist, der sich in vielen seiner Schriften und in Biographien über ihn findet, besser zu verstehen.

Ich begegnete dem Gründer erstmals an einem Spätnachmittag im August 1957. Einige Monate zuvor war in Deutschland das Studentinnenheim Eigelstein, eine Initiative von Mitgliedern und Freunden des Opus Dei, eröffnet worden. Das Haus Nr. 6 in der Hülchrather Straße in Köln trug noch die Spuren des letzten Krieges. Im Flur hing ein Bild der Gottesmutter, ein Geschenk des seligen Josemaría. Die Einrichtung war provisorisch und dürftig. Dort lebten wir, eine kleine Zahl von jungen Berufstätigen und Studentinnen, die im Rahmen ihrer beruflichen Arbeit die Botschaft des Gründers von der Heiligkeit inmitten der Welt leben und weitergeben wollten. »Es lohnt sich wirklich«, hatte der Gründer auf eine Postkarte geschrieben, die er zwei Jahre zuvor von Köln aus nach Rom geschickt hatte; und wir, in diesem Studentinnenheim, waren von seinen Worten überzeugt.

Im Sommer 1957 also erfuhren wir, daß uns der selige Josemaría auf der Durchreise besuchen wollte. Rücksichtsvoll, wie er war, fragte er uns, wann es uns am besten auskomme. Für mich war es die erste Gelegenheit, den Vater – wie wir ihn familiär nannten – kennenzulernen, für die anderen, ihn wiederzusehen. Er kam zusammen mit Alvaro del Portillo. Wie gewöhnlich, ging er zuerst in die Kapelle, um den Herrn im Tabernakel mit einer andächtigen Kniebeuge zu begrüßen, die etwas von seiner gelebten Gegenwart Gottes verriet. Dann kam er zu uns. Er erkundigte sich, ob wir gesund und zufrieden seien. Im Laufe des Gesprächs wollte er sogar wissen, ob wir genügend elektrische Haushaltsgeräte hätten zur Pflege der zwei Etagen, in denen das Studentinnenheim untergebracht war. Seit damals ist mir zutiefst das Bild eines Vaters oder mehr noch das Bild einer Mutter haften geblieben, die möchte, daß ihre Kinder froh und glücklich sind.

Ich habe nie vergessen, was er mir damals sagte: Ich sei eine der ersten in diesem Land, der Gott eine Berufung zum Opus Dei geschenkt hätte, das sei eine besondere Gnade des Herrn, der ich in Treue und mit Freude entsprechen solle. Ich war nicht wenig überrascht, daß er mich persönlich ansprach (ich kannte ihn ja noch kaum), schließlich gab es andere unter uns, die älter waren als ich. Damals fiel mir auf, wie zutiefst menschlich und übernatürlich der Gründer des Werkes jeder seiner Töchter begegnete.

Am nächsten Tag erfuhren wir, daß der Vater sich nicht wohlfühlte, weil er die ganze Nacht nicht hatte schlafen können. Außerdem war er angerufen worden und mußte umgehend nach Rom zurückkehren. Das hieß für ihn, seinen Deutschlandbesuch vorzeitig zu beenden. Es muß für ihn ein Opfer gewesen sein, und ich bin davon überzeugt, daß er es dem Apostolat in Deutschland zuliebe Gott darbrachte. So trug dieser Aufenthalt des Seligen in Köln – wie so viele andere Augenblicke seines Lebens – das Siegel des Kreuzes.

Doch bevor er am 24. August abfuhr, feierte er in der Kapelle des Studentinnenheims die heilige Messe, und anschließend konnten wir noch eine Weile mit ihm zusammen sein. Er interessierte sich für unsere alltäglichen Belange: Emilia Llamas fragte er, wie sie mit der deutschen Sprache beim Einkaufen zurechtkomme. Er bemerkte, daß Carmen Mouriz und Pelancho Gaona abgenommen hatten, und mich fragte er nach meinen Freundinnen. Als ich ihn um sein Gebet für eine Kommilitonin bat, sagte er, er werde in der heiligen Messe am nächsten Tag für sie alle beten.

Er hatte einige Postkarten vom Kölner Dom an seine Töchter in Rom geschrieben und fragte uns, ob wir nicht etwas hinzufügen wollten. Er selbst hatte in seiner klaren und festen Handschrift geschrieben: »Noch einmal voller Liebe ein Segen, Mariano«1. Beim Abschied sagte er, ihm habe unser Studentinnenheim gefallen, das zwar mit wenigen Mitteln, doch geschmackvoll eingerichtet sei. Es erinnere ihn an das Studentenheim Ferraz in Madrid.2 Er riet uns, ein größeres Haus zu suchen, am besten selbst eines zu bauen, damit es von vorneherein als Studentinnenheim geplant werden und in dem neuen Haus eine größere Zahl Studentinnen untergebracht werden könne.

Damals gab es in Deutschland erst wenige Frauen vom Werk. Die meisten waren Spanierinnen, die sich mit der deutschen Sprache noch etwas schwertaten, außer Käthe Retz, die ihr Psychologiestudium bereits abgeschlossen hatte, und mir. Und ich war unerfahren, konnte keine Mittel beisteuern und hatte erst gerade mit dem Studium begonnen.

Wenn der selige Josemaría von seinen apostolischen Plänen für Deutschland sprach, konnte er also weder auf die menschlichen Fähigkeiten seiner Töchter bauen, noch mit finanziellen Mitteln rechnen. Doch für Gott ist nichts unmöglich. »Mit Gottes Gnade und mit frohem Herzen ist alles möglich«, hatte er uns liebevoll gesagt. Erst später verstand ich, daß diese so menschliche und gleichzeitig übernatürliche Art, apostolische Unternehmungen anzuregen, Ausdruck seines heiligmäßigen Lebens war. Er wollte uns angesichts der damaligen Lage nicht beunruhigen, uns aber gleichzeitig anspornen, ein besseres Haus zu suchen, um mehr Menschen (mit unserer apostolischen Arbeit) erreichen zu können.

Das alles heißt nicht, daß er gewartet hätte, bis daß die materiellen Mittel vom Himmel fielen. Nein, aber als Kind Gottes vertraute er auf die göttliche Vorsehung. Dieser Glaube ließ ihn Dinge tun, die – rein menschlich gesehen – unmöglich waren. Es war ein Glaube, der ihn angesichts vieler Hindernisse nicht zurückschrecken ließ. Sein ganzes Leben lang hatte er mit Schwierigkeiten zu tun: Mittellosigkeit, Unverständnis, Verleumdungen … Man spürte, der selige Josemaría besaß ein klares Bild von der Sendung, die Gott ihm anvertraut hatte. Diesen Glauben konnte er an die anderen weitergeben. Da es ihm um die Menschen zu tun war, verfolgte er zum Beispiel mit großem Interesse die Planung jenes Studentinnenheims in Köln. Einige Jahre später, 1966, war das Studentinnenheim Müngersdorf fertig. Jetzt sind es bereits Hunderte junger Frauen, die sich dank Müngersdorf dem katholischen Glauben genähert, ihr Glaubensleben vertieft, einem Ruf des Herrn, ganz in seiner Nähe zu leben, gefolgt sind oder einfach während ihres Studiums eine familiäre und freundschaftliche Atmosphäre erlebt haben.

In jenem Beisammensein machte uns der selige Josemaría Mut. Zu Beginn einer apostolischen Arbeit müsse das Feld zunächst umbrochen werden. Später werde dann alles blühen und gedeihen und Früchte tragen. Er konnte wirklich auf mitreißende Weise überzeugen. Alles komme darauf an, beständig mit dem Herrn im Gespräch zu bleiben, sich um die Menschen zu kümmern, an erster Stelle um diejenigen, mit denen wir zusammenleben, sich anzustrengen, gut zu arbeiten und unser Tun dem Herrn aufzuopfern. Dann werde alles gedeihen, Haus und Studentinnen. Von uns, die wir die apostolische Arbeit begonnen hätten, von unserer Treue zum Herrn hänge es ab, daß viele Menschen in unserem Land durch den Geist des Opus Dei Gott in ihrem alltäglichen Tun finden. Schließlich gab er uns noch seinen Segen, bevor er die Rückreise antrat.

Als ich danach wieder an die Arbeit ging – und den anderen mag es nicht anders ergangen sein – war alles so wie vorher, und doch war alles ganz anders. Es begann eine neue Etappe: der Vater war dagewesen.

Hier möchte ich einen Einschub machen, der vielleicht für uns, die wir das Glück hatten, den seligen Josemaría kennenzulernen, nicht nötig ist. Wenn ich sage, daß eine neue Etappe begann, ist das kein Hinweis auf eine mehr oder weniger menschliche Begeisterung, die vielleicht diejenigen erfaßt, die einem Leader folgen. Der Gründer des Opus Dei, dessen Lebensmotto es war, »sich verbergen und verschwinden«, wollte keine Anhänger um sich scharen. Er war ein Vulkan der Gottesliebe und konnte an andere diese Liebe weitergeben. Ich habe im Laufe der Jahre von vielen Menschen erfahren, daß sie sich, wenn sie auch nur kurze Zeit mit ihm zusammentrafen, angespornt fühlten, Christus entschiedener zu folgen, ihn zu suchen im Gebet und im Opfer. Er ermunterte sie, apostolisch zu sein und sich zu bemühen, Freunde und Kollegen Gott näherzubringen, intensiv zu arbeiten … Wie oft habe ich gehört, daß er auf eine berechtigte Äußerung des Dankes antwortete: »Danken soll man Gott!« Fragte ihn jemand, wie er ihn in einer bestimmten Tugend nachahmen könne, antwortete er: »Mich nachahmen? Ich bin kein Vorbild, das einzige Vorbild ist Jesus Christus.« Die tiefe Demut zeigte sich in seinem Wunsch, den Menschen zu dienen, dazusein, wenn jemand ihn brauchte. Ich habe oft erlebt, daß jemand zu ihm kam und mit ihm sprechen wollte. Er hörte aufmerksam zu mit väterlicher und mütterlicher Liebe und ganz ohne Eile. Wie wichtig auch immer alles andere sein mochte, das er zu erledigen hatte, in diesem Moment war dieses Gespräch für ihn das einzig Wichtige. Es ging ihm nie um seine eigene Person. Immer paßte er sich mit Liebenswürdigkeit der jeweiligen Situation an. So war es schwer, seine persönlichen Vorlieben zu kennen, obwohl er sie zweifelsohne hatte. Gleichzeitig blieb er jedoch, was die Lehre der Kirche oder den Geist des Werkes anging, ganz fest, denn er sah sich als Werkzeug in Gottes Händen. Er duldete keine Kompromisse auf Kosten der Wahrheit, brachte aber gleichzeitig jedem Menschen großes Verständnis entgegen.

Jetzt mache ich einen Sprung von 18 Jahren. Es war am Nachmittag des 10. Juni 1975: Ich wohnte seit einiger Zeit in Rom und arbeitete in der Zentralleitung des Opus Dei. Am nächsten Tag sollte ich für einige Wochen nach Deutschland fahren. Wie immer bei solchen Reisen, gab mir der selige Josemaría den Reisesegen mit Worten aus dem Buch Tobit.3 Nach einigen Empfehlungen für die Arbeit trug er mir Grüße an seine Töchter in Deutschland auf: »Sag ihnen, daß sie sehr heilig sein sollen«, wiederholte er zweimal und fügte hinzu: »Alles andere ist unwichtig«. Es waren für mich seine letzten Worte. Ich konnte nicht ahnen, daß der Vater bereits auf dem Weg zum Himmel war. Trotz Alterserscheinungen und gesundheitlicher Einschränkungen, die er mit Eleganz, Humor und mit großer Liebe zu Gott trug, gab er wie immer Impulse für die Leitung des Werkes und für jedes seiner Kinder. Zwei Wochen später, am 26. Juni mittags, rief Gott ihn in seine ewige Gegenwart.

Wenn ich diese Worte: »Sie sollen sehr heilig sein, alles andere ist unwichtig« noch einmal bedenke, spricht aus ihnen, wovon er bis zu seinem Lebensende überzeugt war und was er immer gelehrt hat: porro unum est necessarium (nur eines ist notwendig)4. Niemand solle sich durch äußeren Schein oder einen Aktivismus ohne Frömmigkeit täuschen lassen, empfahl er. Diese Wahrheit hatte er schon vor so vielen Jahren in seinem Buch Der Weg niedergeschrieben: »Einzig wichtig ist, daß du glücklich, daß du gerettet wirst.«

Anmerkungen

1 Während des spanischen Bürgerkrieges hatte der Gründer des Opus Dei, um die damalige Zensur zu umgehen, angefangen, mit Mariano zu unterschreiben, neben José, María und Julián einer seiner Taufnamen. Später benutzte er diesen Namen weiter in Familienbriefen als Zeichen seiner Marienverehrung.

2 Das Studentenheim Ferraz wurde 1934 in Madrid eröffnet, zu Beginn der apostolischen Arbeit des Opus Dei in Spanien. Es war nicht nur ein Studentenheim, sondern dorthin kamen auch Studenten, die nicht dort wohnten, um an Seminaren und Kursen christlicher Bildung teilzunehmen.

3 Vgl. Tob 5,22

4 Vgl. Lk 10,42.

5 Vgl. Der Weg, 297.

Entnommen dem Band: Josemaría Escrivá – Profile einer Gründergestalt, César Ortiz (Hrsg.), Köln, 2002