Ein großer Heiliger für diese Zeit

Bischof Klaus Küng (Feldkirch) kennt den neuen Heiligen aus eigenem Erleben. Er stellt ihn hier vor.

Kardinal Schönborn (li.) im Gespräch mit Bischof Küng (re.)

Zum ersten Mal begegnete ich Josemaría Escrivá de Balaguer 1961 in London. Ich studierte damals Medizin in Wien und verbrachte während der Ferien zur Verbesserung der Sprachkenntnisse zusammen mit einer Vorarlberger Gruppe von Jugendlichen einen Monat in England. Wenige Wochen vorher hatte ich in Wien um Aufnahme in das Opus Dei gebeten.

Es war ein unvergeßliches Erlebnis: Der "Vater" - so nannten wir Josemaría Escrivá im Werk - begrüßte mich sehr herzlich. Obwohl ich ihn vorher nie gesehen hatte, empfand ich vom ersten Augenblick Vertrauen zu ihm und hatte den Eindruck, daß wir uns schon seit langem kannten. Er schenkte mir zwei Eselchen aus Ton und sprach davon, diese Tiere seien sehr genügsam und bereit, schwere Lasten zu tragen. Sie seien ein Symbol für eine selbstlose Hingabe. Er erzählte aber auch von einer Schnitzerei auf einem Chorgestühl einer Kapelle in Rom mit der Darstellung eines Esels, der ein großes Buch aufgeschlagen hat und eifrig in ihm liest.

Wer in dieser unserer Zeit apostolisch wirksam sein wolle, müsse viel studieren. Er erzählte mir von seinen Besuchen in Wien, durch die er die apostolische Tätigkeit des Opus Dei in Österreich vorbereitet hatte, und sprach von seinen hohen Erwartungen in unser Land. Er betrachtete Wien als Tor für die damals noch kommunistisch beherrschten Länder des Ostens. Ich hatte bei der Begegnung den Eindruck, jedes Wort zu verstehen, obwohl er Spanisch sprach (es wurde ins Englische übersetzt), und kehrte sehr froh und bestärkt in meine Heimat zurück.

Der neue Heilige hatte eine sehr anziehende Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung. Bei vielen Gelegenheiten durfte ich das eindrücklich erleben, insbesondere während meines vierjährigen Aufenthaltes in Rom, einer Zeit intensiver Ausbildung in der Spiritualität des Opus Dei und des Theologiestudiums an der Lateran-Universität. Es war eine schöne Zeit.

Eine bunte Familie

Damals, in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre, war das internationale Studienzentrum des Opus Dei in Rom noch notdürftig im Zentralsitz untergebracht, wo Escrivá lebte und wirkte. Das 1928 gegründete Opus Dei hatte bereits Gestalt angenommen und in vielen Ländern der Welt Fuß gefaßt. Dementsprechend bildeten wir im "Collegium Romanum" eine bunte Familie.

Wir waren eine sehr vielseitige Mischung von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft, auch mit unterschiedlichen Berufen und Lebens-erfahrungen. Dennoch herrschte im Haus eine außerordentlich herzliche Atmosphäre. Josemaría Escrivá erklärte diese faszinierende Einheit in der Vielfalt mit dem kleinen "gemeinsamen Nenner", den sich jene aneignen, die sich nach dem Geist des Opus Dei im Beruf und in den jeweiligen Umständen ernsthaft um Nachfolge Christi bemühen. Dabei ist die Wahrung der eigenen Persönlichkeit und die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten wichtig.

Josemaría Escrivá war in seinem Auftreten sehr schlicht und natürlich, er kam oft zu uns. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, zugleich sehr eng mit Gott verbunden. Er sprach gerne vom Gebet eines Menschen, der mitten in der Welt lebt, von der hl. Messe, die für jeden Christen Mitte und Wurzel des christlichen Lebens ist, von der Liebe zur Kirche, davon, dass wir uns lieben sollen und von der Dringlichkeit des Apostolates. Er versuchte uns so die spezifischen Merkmale der Spiritualität des Opus Dei einzuprägen. Er konnte sehr spontan und direkt sein und von humorvollen Kommentaren über Alltägliches unmittelbar zu tiefen Erwägungen des Glaubens übergehen. Man spürte sofort den Vater, der alle gerne hatte und den alle verehrten.

Er verstand es wie selten jemand, seine Zuhörer anzusprechen und mitzureißen. Gerade auch im Zusammenhang mit Alltäglichem eröffnete er oft überraschend tiefe und weite Horizonte und war doch gleichzeitig sehr konkret und realitätsbezogen. Zudem hatte er eine außerordentliche Gabe, von großen Geheimnissen mit einfachen, gut verständlichen Worten zu sprechen. Er weckte in den Herzen derer, die ihm nahe waren, die Sehnsucht nach dem Großen, Bleibenden und vermittelte die Zuversicht: Das kannst auch du anstreben, kleine Schritte sind jedem möglich ... Er hatte ein großes Herz: Wer ihm begegnete, wusste sich verstanden. Bei aller Klarheit seiner Darlegungen mit der Aufforderung sich anzustrengen und nach echter Heiligkeit zu streben, betonte er die Güte und Barmherzigkeit Gottes, der uns immer, wenn wir ihn darum bitten, verzeiht, uns aufhilft, wenn wir gefallen sind, uns begleitet, stärkt und weiterführt.

Den Alltag heiligen

Josemaría Escrivá hat sehr praxisbezogen gelehrt, was es bedeutet, den Alltag zu heiligen. Es beeinflusst die innere Haltung bei der Verrichtung der verschiedenen Aufgaben und Pflichten. „Deo omnis gloria“, „Gott gehört die ganze Ehre“, wiederholte er gerne. Die Verbundenheit mit Gott im Alltag führt zu Dienstbereitschaft den anderen gegenüber, ohne Anerkennung zu erwarten, sowie zur Bemühung, die Arbeit auch in menschlicher Hinsicht möglichst gut zu verrichten, mit Beachtung der Einzelheiten als Ausdruck der Liebe zu Gott und den Menschen. Escrivá versuchte uns klar zu machen, dass wahre Liebe zu Gott menschlich macht, bzw. das Menschliche verbessert. Sie wird zum Ansporn, um in der Arbeit großzügig und beharrlich zu sein. Wenn etwas vergessen oder übersehen worden war, konnte Escrivá sehr klar und direkt das Fehlverhalten ansprechen, oft geschah es aber dann, dass er kurz darauf den gleichen Personen, die er getadelt hatte, mit einem Scherz begegnete, ihnen Pralinen brachte oder eine andere liebevolle Aufmerksamkeit erwies. Man merkte die Liebe des Vaters, die hinter allem stand, auch hinter seinem Tadel und konnte nur dankbar und froh sein, auch dafür, dass er uns auf unsere Nachlässigkeiten aufmerksam machte. Er berührte die Herzen der Menschen.

Das Bewusstsein, Kinder Gottes zu sein

Unvergesslich – und besonders kostbare Erinnerungen – sind mir die Weihnachtsfeste in seiner Nähe. Gewöhnlich kam er im Verlaufe des Heiligen Abends zu uns. Er ließ ein, sehr schön geschnitztes Jesuskind in Lebensgröße holen, das er bei einem Antiquitätenhändler Roms erworben hatte. Mit großer Natürlichkeit nahm er das Kind in seine Arme, reichte es uns, damit auch wir es verehrten, sprach von der Menschwerdung des Gottessohnes, von der Lehre, die uns Gott mit seinem Kleinwerden erteilt und davon, dass wir die Macht haben, Kinder Gottes zu werden. Gerne sang er mit uns Weihnachtslieder aus aller Welt und zeigte seine innige Verbundenheit mit allen. Es waren Momente besonderer Innigkeit und Herzlichkeit, die sich allen einprägten, die sie erleben durften.

Christus, das Zentrum unseres Lebens

Seine einzige Aufgabe sah er darin, die Menschen zu Christus zu führen und insbesondere jenen, die mitten in der Welt leben und wirken aufzuzeigen, dass auch für sie eine wahre, konsequente Nachfolge Christi möglich ist. Sich selbst stellte er nie in den Vordergrund. „Christus ist das einzige Modell und der Heilige Geist der Modellierer“, wiederholte er gerne. Manchmal fügte er hinzu: „Ich bin ein Sünder, der Christus liebt“.

Besonders zeigte sich seine Christuszentriertheit, wenn er die heilige Messe feierte. Wer dabei sein durfte, merkte: er sucht Christus, stützt sich auf ihn, vertraut ihm alle Anliegen an, holt von ihm Kraft und will ihn allen Menschen bringen. Das war sein Lebensinhalt, sein Ziel, seine Hoffnung. Zugleich ist dies das einzige Ziel des Opus Dei im Dienste der Kirche: Christus soll auch den Menschen von heute nahe gebracht werden. Sie sollen erkennen, dass Christus auch durch die Straßen unserer Zeit geht und sie anspricht, in ihr Leben eingreift, ihnen die Versöhnung mit Gott, mit den anderen und mit sich selbst vermittelt, sie für den Weg zu Gott stärkt, ja sie fähig macht, selbst zu einer Art Christus zu werden, zu einem „alter Christus, ipse Christus“, wie Escrivá gerne wiederholte.

Josemaría Escrivá ist ein großer Heiliger für unsere Zeit. Seine Schriften sind für viele eine Hilfe, Gott zu entdecken und einen Weg zu finden, der auch in den unterschiedlichsten Umständen und Aufgaben zu einem gottverbundenen Leben in Christus führt und zu wahrer Fruchtbarkeit befähigt. Der neue Heilige ist eine große Hoffnung!

L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 27.09.2002, Seite 6