01. Die Existenz Gottes

Die religiöse Dimension ist für den Menschen charakteristisch. Die verschiedenen, vom Aberglauben gereinigten Ausdrucksformen menschlicher Religiosität verweisen auf die Existenz eines Schöpfergottes.

1. Die religiöse Dimension der menschlichen Natur

Das menschliche Wesen ist von seinen Anfängen her religiös. Wenn man die verschiedenen Ausdrucksformen menschlicher Religiosität vom Aberglauben reinigt, der letztlich auf Unwissenheit und Sünde zurückgeht, dann bieten sie die Überzeugung von der Existenz eines Schöpfergottes, von dem die Welt und unsere persönliche Existenz abhängen. Es stimmt zwar, dass viele Abschnitte der menschlichen Geschichte vom Polytheismus begleitet waren, aber es ist ebenso wahr, dass die tiefsten Formen menschlicher Religiosität und philosophischer Weisheit die letzte Erklärung für die Welt und die Existenz des Menschen in einem einzigen Gott gesehen haben, der das Fundament aller Wirklichkeit und die Erfüllung unseres Glücksverlangens ist (vgl. Katechismus 28)1.

Den vielfältigen Äußerungen der Kunst, der Philosophie, der Literatur usw. in den Kulturen der Völker ist allen gemeinsam das Nachsinnen über Gott und über die zentralen Fragen der menschlichen Existenz wie Leben und Tod, Gut und Böse, letztes Ziel und Sinn aller Dinge 2. Diese Äußerungen des menschlichen Geistes bezeugen im Verlauf der ganzen Geschichte, dass der Gottesbezug zur menschlichen Kultur gehört und eine wesentliche Dimension der Gesellschaft und des Menschen überhaupt darstellt. Die Religionsfreiheit ist folglich das erste aller Grundrechte, und die Suche nach Gott ist unsere erste Pflicht. Alle Menschen sind „von ihrem eigenen Wesen gedrängt und zugleich durch eine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit zu suchen [... sowie] an der erkannten Wahrheit festzuhalten“ 3. Die Leugnung Gottes und das Bestreben, ihn aus Kultur und Gesellschaft zu verbannen, sind relativ junge Phänomene, die sich auf einige Zonen der westlichen Welt beschränken. Die großen religiösen und existentiellen Fragen bleiben zu allen Zeiten dieselben 4. Wodurch die Vorstellung widerlegt wird, dass die Religion zu einer „infantilen“ Phase der Menschheitsgeschichte gehört, die aufgrund des Fortschritts der Wissenschaften als überholt zu gelten hätte.

Das Christentum greift alles Gute auf – sowohl was die Forschung ans Licht bringt, als auch was verschiedene Formen der Anbetung Gottes im Lauf der Geschichte zeigen –, enthüllt aber zugleich die wahre Bedeutung dieser Einsichten: Sie sind Weg hin zu dem einzigen wahren Gott, der sich in der Heilsgeschichte seinem Volk Israel geoffenbart hat und auf uns zugeht, weil er in Jesus Christus, seinem ewigen Wort, Fleisch geworden ist 5.

2. Von den materiellen Geschöpfen zu Gott

Der menschliche Verstand kann, von der geschaffenen Welt ausgehend, auf zwei Wegen zur Erkenntnis Gottes gelangen: über die materiellen Geschöpfe und über die menschliche Person. Obwohl diese Wege besonders von christlichen Autoren entwickelt wurden, haben auch viele andere Philosophen und Denker unterschiedlicher Epochen und Kulturen, ausgehend von der Natur oder von den Äußerungen des menschlichen Geistes, diese Wege zu Gott dargelegt und beschritten.

Man nennt diese Wege zur Erkenntnis der Existenz Gottes auch „Gottesbeweise“. Sie sind allerdings nicht als Beweise im mathematischen oder naturwissenschaftlichen Sinn zu verstehen, sondern als in ihrer Konvergenz überzeugende philosophische Argumente, die der Mensch – je nach Veranlagung und Bildung – mehr oder weniger verstehen kann (vgl. Katechismus, 31). Dass diese Beweise für die Existenz Gottes nicht im selben Sinn zu aufgefasst werden können wie die Beweise der Naturwissenschaften, ergibt sich aus der simplen Tatsache, dass Gott nicht Gegenstand unserer Sinneserfahrung sein kann.

Jeder dieser Wege zu Gott erfasst nur einen konkreten Aspekt des absoluten göttlichen Seins, entsprechend dem besonderen philosophischen Kontext, in dem sich die Annäherung vollzieht: „Aus der Bewegung und dem Werden, aus der Kontingenz, der Ordnung und Schönheit der Welt kann man Gott als Ursprung und Ziel des Universums erkennen“ ( Katechismus, 32). Gottes Reichtum und Unermesslichkeit sind derart, dass man durch keinen dieser Wege zu einem vollständigen Bild des persönlichen Gottes gelangen kann. Immer erfasst man nur Teilaspekte: Existenz, Geistigkeit, Vorsehung usw.

Von den sogenannten kosmologischen Gottesbeweisen sind die berühmten, von Thomas von Aquin entwickelten „fünf Wege“ am bekanntesten. In sie sind zu einem guten Teil Überlegungen früherer Philosophen eingeflossen. Um sie zu verstehen, sind einige Kenntnisse der Metaphysik erforderlich. 6 Die beiden ersten Wege beruhen auf der Einsicht, dass die Ursachenreihen, die wir in der Natur beobachten (Übergang von der Potenz zum Akt bzw. von der Ursache zur Wirkung) nicht ins Unendliche zurücklaufen können, sondern zu einem ersten Beweger bzw. einer ersten Ursache führen. Der dritte Weg nimmt seinen Ausgang von der Kontingenz bzw. vom Werden und Vergehen der Dinge und kommt zum Schluss, dass sie auf ein unbedingtes und in sich notwendiges Wesen hinweisen. Der vierte betrachtet die verschiedenen Grade der Vollkommenheit und schließt daraus, dass es eine Vollkommenheit an sich geben muss, an der diese teilhaben. Der fünfte Weg geht von der in der Welt feststellbaren Ordnung und Zweckmäßigkeit aus, die auf besonderen Gesetzen beruht. Sie setzen eine ordnende Intelligenz voraus, die gleichzeitig die Finalursache aller Dinge ist.

Diese und andere analog gebaute Wege werden bis heute in unterschiedlichen Formen und Varianten von einer Reihe von Autoren vorgelegt und sind also nach wie vor aktuell. Um sie zu verstehen, bedarf es allerdings eines Erkenntnisrealismus (im Gegensatz zum ideologischen Denken), der sich nicht auf das empirisch oder experimentell Feststellbare beschränkt (also einen ontologischen Reduktionismus vermeidet), so dass das menschliche Denken aus sichtbaren Wirkungen auf unsichtbare Ursachen schließen kann (also Metaphysik für möglich hält).

Die Erkenntnis Gottes ist auch dem einfachen gesunden Menschenverstand möglich, also der philosophischen Spontanerkenntnis, die jedes menschliche Wesen aufgrund seiner existentiellen Erfahrung betreibt: das Staunen über die Schönheit und die Ordnung der Natur, die Dankbarkeit für das unverdiente Geschenk des Lebens, die Begründung des Guten und der Liebe usw. Diese Art von Einsicht ist auch wichtig, um zu erfassen, auf wen sich die philosophischen Gottesbeweise beziehen. Der heilige Thomas beschließt beispielsweise seine fünf Wege mit der Feststellung: „Und das ist es, was alle Gott nennen“.

Das Zeugnis der Heiligen Schrift (vgl. Weish 13,1-9; Röm 1,18-20; Apg 17,22-27) und die Aussagen des kirchlichen Lehramts bestätigen, dass der menschliche Verstand, von den Geschöpfen ausgehend, zur Erkenntnis der Existenz Gottes gelangen kann 7 (vgl. Katechismus, 36-38). Gleichzeitig wird sowohl in der Heiligen Schrift als auch vom Lehramt darauf hingewiesen, dass diese Erkenntnis durch die Sünde und durch schlechte sittliche Haltungen erschwert werden kann.

3. Der menschliche Geist bezeugt Gott

Der Mensch erfasst seine Einmaligkeit und seine Überlegenheit über den Rest der Natur. Wenn er auch viele Aspekte seines biologischen Lebens mit einigen Tierarten gemeinsam hat, so erkennt er doch einmalige Phänomene an sich. Er denkt über sich selbst nach, er ist zu kulturellem und technischem Fortschritt fähig, er erkennt die Sittlichkeit seiner Handlungen und überschreitet durch sein Erkennen und Wollen, vor allem aber durch seine Freiheit, den übrigen materiellen Kosmos 8. Der Mensch ist eindeutig Träger geistigen Lebens, durch das er die Materie, auch wenn er von ihr abhängig ist, überragt 9. Kultur und Religiosität der Völker haben von Anfang an diese Transzendenz des menschlichen Seins mit seiner Abhängigkeit von Gott erklärt, dessen Abglanz sich im menschlichen Leben zeigt. In Übereinstimmung mit dieser allgemeinen Einsicht der Vernunft lehrt die jüdisch-christliche Offenbarung, dass der Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes, ihm ähnlich, erschaffen wurde (vgl. Gen 1,26-28).

Die menschliche Person ist aus sich selbst unterwegs zu Gott. Die eigene Lebenserfahrung bestätigt das vielfach „Mit seiner Offenheit für die Wahrheit und Schönheit, mit seinem Sinn für das sittlich Gute, mit seiner Freiheit und der Stimme seines Gewissens, mit seinem Verlangen nach Unendlichkeit und Glück, fragt der Mensch nach dem Dasein Gottes. In all dem nimmt er Zeichen seiner Geist-Seele wahr“ ( Katechismus, 33).

Die Existenz eines Gewissens, welches das Gute, das wir vollbringen, bejaht und das Böse, das wir tun oder tun wollen, verwirft, führt zur Anerkennung eines höchsten Gutes, dem wir uns angleichen sollen und dessen Bote gleichsam unser Gewissen ist. Ausgehend von der Erfahrung des menschlichen Gewissens haben eine Reihe von Denkern seit der Antike – und ohne Kenntnis der biblischen Offenbarung – eine Reflexion über die ethische Dimension des menschlichen Handelns angestellt, zu der jeder Mensch befähigt ist, insofern er als Gottes Abbild erschaffen ist.

Der Mensch ist sich nicht nur seines Gewissens bewusst, sondern erkennt auch, dass er persönlich frei ist, denn das ist die Voraussetzung für sein sittliches Handeln. Indem der Mensch sich frei weiß, erfasst er die Verantwortung für sein Tun und die Existenz eines Wesens, dem er Rechtfertigung schuldet. Dieses Wesen muss größer sein als die materielle Natur, und es kann nicht geringer sein als seinesgleichen, denn wir alle sind ihm gegenüber in gleicher Weise verantwortlich. Die Tatsache der menschlichen Freiheit und Verantwortung verweist auf die Existenz eines Gottes, der für Gut und Böse bürgt und Schöpfer, Gesetzgeber und Richter ist.

Im derzeitigen kulturellen Umfeld wird die menschliche Freiheit häufig geleugnet und die Person auf ein höher entwickeltes Tier reduziert, dessen Handeln vor allem triebhaft bestimmt ist. Vielfach verlegt man auch den Sitz des geistigen Lebens (Verstand, Gewissen, Seele) in die Körperlichkeit des Gehirns, will nur neurophysiologische Vorgänge anerkennen und leugnet damit die menschliche Sittlichkeit. Diese Sichtweise kann mit Argumenten der Vernunft und der menschlichen Phänomenologie widerlegt werden, die die Selbsttranszendenz der Person aufzeigen, die Freiheit auch von durch die Natur konditionierten Wahlakten nachweisen und zeigen, dass man den Geist nicht auf das Gehirn reduzieren kann.

Viele sehen heute auch in der Existenz des Bösen und der Ungerechtigkeit in der Welt einen Beweis dafür, dass es Gott nicht gibt, weil er dergleichen nicht zulassen würde. Im Grunde ist dieses Unbehagen aber gleichfalls ein Ausgangspunkt für den „Weg“ zu Gott. Die menschliche Person empfindet ja das Böse und Ungerechte als Mangel, als Verkehrtheit, die nicht sein sollte und die auf ein Gutes und eine Gerechtigkeit hinweisen, nach denen der Mensch strebt. Wenn die innerste Verfasstheit unseres Seins nicht nach dem Guten verlangen würde, könnten wir im Bösen keinen Schaden oder Mangel sehen.

Der Mensch hat eine natürliche Sehnsucht nach Wahrheit, nach dem Guten und nach Glück. Sie ist Ausdruck unseres natürlichen Verlangens, Gott zu schauen. Würde dieses Verlangen unerfüllt bleiben, wäre der Mensch ein existentiell widersprüchliches Wesen, denn diese Sehnsucht bildet den tiefsten Kern des geistigen Lebens und der Würde der Person. Sie ist tief in unser Herzen eingeschrieben und weist auf die Existenz eines Schöpfers hin, der uns durch die Hoffnung, die wir auf ihn setzen, zu sich ruft. Wenn die „kosmologischen“ Wege nicht unbedingt zu einem persönlichen Gott führen, so lassen die vom Menschen und seiner Veranlagung ausgehenden „anthropologischen“ Wege eher erahnen, dass dieser Gott, von dem wir uns abhängig wissen, eine zur Liebe fähige Person sein muss, ein personales Wesen, das personalen Geschöpfen gegenübersteht.

Die Heilige Schrift lehrt ausdrücklich die Existenz eines Sittengesetzes, das Gott dem menschlichen Herzen eingeschrieben hat (vgl. Sir 15,11-20; Ps 19, Röm 2,12-16). Die christlich inspirierte Philosophie bezeichnet es als „natürliches Sittengesetz“, das allen Menschen aller Zeiten und Kulturen zugänglich ist, wenngleich seine Erkenntnis – ähnlich wie die der Existenz Gottes – durch die Sünde verdunkelt werden kann. Das kirchliche Lehramt hat wiederholt vom menschlichen Gewissen und von der Freiheit als Wegen zu Gott gesprochen 10.

4. Die Leugnung Gottes: Ursachen des Atheismus

Die verschiedenen philosophischen Überlegungen, die dem „Beweis“ der Existenz Gottes dienen, führen nicht notwendig zum Glauben an Gott, sondern zeigen nur, dass der Glaube vernünftig ist. Das hat verschiedene Gründe: a) Sie vermitteln einige philosophische Merkmale des Gottesbildes (Güte, Intellekt usw.), unter ihnen das Dasein Gottes selbst, sagen aber nichts darüber, wer das personale Wesen ist, auf das sich der Glaubensakt richtet. b) Der Glaube ist die freie Antwort des Menschen auf den sich offenbarenden Gott, keine zwingende philosophische Ableitung. c) Die Ursache des Glaubens ist Gott selbst. Er ist es, der sich in Freiheit zu erkennen gibt und durch seine Gnade das Herz des Menschen bewegt, sich ihm anzuschließen. d) Es muss die Dunkelheit und Unsicherheit in Betracht gezogen werden, mit der die Sünde die menschliche Vernunft behindert, und zwar sowohl im Hinblick auf die Anerkennung der Existenz Gottes als auch auf die gläubige Antwort auf sein Wort (vgl. Katechismus, 37). Aus diesen Gründen, vor allem dem zuletzt genannten, ist es immer möglich, dass der Mensch Gott leugnet 11.

Der Atheismus tritt als Theorie auf (als Versuch, auf rationalem Weg Gottes Existenz zu bestreiten) und als Praxis (Leugnung Gottes durch das eigene Verhalten, weil man so lebt, als ob es Gott nicht gäbe). Ein positiver Atheismus als Folge einer rationalen Analyse (wissenschaftlicher oder empirischer Art) ist in sich widersprüchlich, da Gott – wie wir gesehen haben – nicht Gegenstand von wissenschaftlich-experimenteller Erkenntnis sein kann. Ein positiver Atheismus, der auf philosophischem Weg zu seinem Ergebnis gelangt, ist möglich, wenn man a priori von einer (meist durch Ideologien wie den Materialismus) bestimmten Weltsicht ausgeht. Mit Hilfe der Metaphysik und einer realistischen Gnoseologie (Erkenntnistheorie) kann man die Inkongruenz solcher Sichtweisen aufzeigen.

Als weit verbreitete Begründung für den positiven Atheismus wird behauptet, Gottes Existenz wäre ein Unheil für den Menschen: Gäbe es Gott, dann wären wir nicht frei und würden auf Erden keine vollkommene Autonomie besitzen. Diese Auffassung berücksichtigt nicht die Tatsache, dass gerade die Abhängigkeit des Geschöpfes von Gott unsere Freiheit und Autonomie begründet 12. Wie die jüngere Geschichte der Völker und unserer Kulturepoche zeigt, führt die Leugnung Gottes schließlich auch zur Leugnung des Menschen und seiner transzendenten Würde.

Andere kommen zur Leugnung Gottes, weil sie der Ansicht sind, dass die Religion und insbesondere das Christentum auf Unwissenheit und Aberglauben beruht und deshalb ein Hindernis für den Fortschritt darstellt. Darauf kann man mit dem Verweis auf historische Fakten antworten. Man kann den positiven Einfluss der christlichen Offenbarung auf das Verständnis der menschlichen Person und ihrer Rechte hinweisen sowie auf den Ursprung und die Entwicklung der Wissenschaften. Die katholische Kirche hat die Unwissenheit immer (und mit Recht) als Hindernis für den wahren Glauben betrachtet. Wer Gott im Interesse des Fortschritts und der Weiterentwicklung der Menschheit leugnet, tut dies gewöhnlich aufgrund einer immanenten Sicht des geschichtlichen Fortschritts, die einer politischen Utopie verhaftet ist oder rein materiellen Wohlstand anstrebt, die freilich niemals die Erwartungen des menschlichen Herzens befriedigen können.

Zu den Ursachen des Atheismus, besonders des praktischen, zählt auch das schlechte Beispiel der Gläubigen, „insofern man sagen muss, dass sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch die Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren“ 13. Umgekehrt hat die Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil immer wieder darauf hingewiesen, dass das Zeugnis der Christen der positive Hauptfaktor der „Neuevangelisierung“ 14 ist.

5. Agnostizismus und religiöse Gleichgültigkeit

Der Agnostizismus, der besonders in intellektuellen Kreisen verbreitet ist, behauptet, dass der menschliche Verstand über Gott und seine Existenz nichts aussagen kann. Seine Verfechter plädieren vielfach für einen persönlichen und sozialen Einsatz ohne Bezug auf ein letztes Ziel. Sie wollen einen Humanismus ohne Gott. Der Agnostizismus läuft de facto meist auf einen praktischen Atheismus hinaus. Wer im Übrigen die Teilziele der Akte seines Alltags ohne Ausrichtung auf ein letztes Ziel leben möchte, hat in Wirklichkeit schon ein solches letztes Ziel gewählt, das freilich immanenten Charakter hat. Die Einstellung eines Agnostikers verdient jedenfalls Respekt, wobei man ihm freilich helfen muss, die Redlichkeit seiner Behauptung, Gottes Existenz nicht leugnen zu wollen, praktisch dadurch unter Beweis zu stellen, dass er sich der Anerkennung seiner Existenz und seiner Offenbarung in der Geschichte nicht verschließt.

Die religiöse Gleichgültigkeit – auch praktischer „Unglaube“ genannt – ist heute das vorherrschende Phänomen mangelnden Glaubens und zieht daher zunehmend die Aufmerksamkeit des Lehramtes auf sich 15. Die Frage nach Gott wird nicht ernst genommen oder nicht wirklich in Betracht gezogen, da sie in der Praxis durch ein auf materielle Güter orientiertes Leben erstickt wird. Religiöse Gleichgültigkeit koexistiert mit einer gewissen Sympathie für das Heilige oder das Pseudo-Religiöse, das sittlich unverantwortlich wie ein Konsumgut behandelt wird. Um eine Position religiöser Gleichgültigkeit auf Dauer durchzuhalten, braucht der Mensch ständig Zerstreuung, damit er keine Zeit findet, sich mit wichtigeren existentiellen Problemen zu befassen, die er daher aus seinem Leben und seinem Gewissen verdrängt: Sinn des Lebens und des Todes, sittlicher Wert der eigenen Handlungen usw. Da es aber im Leben eines Menschen immer wieder einschneidende Ereignisse gibt (Verliebtheit, Vater- oder Mutterschaft, unerwartete Todesfälle, schmerzhafte und beglückende Vorkommnisse usw.), kann eine Haltung religiöser Gleichgültigkeit nicht das ganze Leben fortdauern. Irgendwann stellt sich unvermeidlich die Frage nach Gott. Von derartigen existentiell bedeutsamen Ereignissen ausgehend, wird man versuchen, dem Gleichgültigen zu helfen, sich ernsthaft der Frage und der Suche nach Gott zu stellen.

6. Der religiöse Pluralismus. Es gibt nur einen einzigen wahren Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat

Menschliche Religiosität ist, wenn sie echt ist, ein Weg zur Anerkennung des einzigen Gottes. Sie hat sich bekundet und bekundet sich weiterhin auf verschiedenerlei Weisen in der Geschichte und in den Kulturen der Völker, zuweilen auch im Kult, der den Bildern oder Vorstellungen der Gottheit erwiesen wird. Die Religionen der Erde müssen, insofern sie Ausdruck aufrichtiger Suche nach Gott sind und die transzendente Würde des Menschen achten, respektiert werden. Die katholische Kirche ist der Ansicht, dass sich in ihnen ein Funke, ja fast eine Teilhabe an der göttlichen Wahrheit findet 16. Bei der Untersuchung der verschiedenen Religionen rät die menschliche Vernunft zu gebührender Unterscheidung. Es ist zu prüfen, ob Aberglaube oder Unwissenheit vorliegen, ob es Widervernünftiges gibt oder ob Praktiken geübt werden, die der Würde und Freiheit des Menschen nicht entsprechen.

Der interreligiöse Dialog steht nicht im Gegensatz zu Mission und Evangelisierung. Mehr noch, Ziel des Dialoges wird es immer sein, bei Achtung der Freiheit des Einzelnen Christus zu verkünden. Jene Samenkörner der Wahrheit, die sich in den nichtchristlichen Religionen finden können, sind de facto Samenkörner der einzigen Wahrheit, die Christus ist. Diese Religionen haben daher das Recht, die Offenbarung zu empfangen und durch die Verkündigung Christi, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, zur Reife geführt zu werden. Trotzdem verweigert Gott jenen nicht das Heil, die ohne eigene Schuld das Evangelium nicht kennen, dem natürlichen Sittengesetz gemäß leben und dessen Ursprung im einen wahren Gott anerkennen 17.

Das Christentum kann im interreligiösen Dialog aufzeigen, dass die in den verschiedenen Religionen vorliegenden echten Ausdrucksformen einer Bindung an den einzigen wahren Gott im Christentum ihre Erfüllung finden. Nur in Christus erschließt Gott dem Menschen selbst den Menschen, nur in ihm bietet er die Lösung für seine Rätsel und eröffnet den tiefen Sinn seiner Sehnsüchte. Er ist der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen 18.

Der Christ kann sich dem interreligiösen Dialog mit Optimismus und voll Hoffnung stellen, da er weiß, dass jeder Mensch nach dem Bild und Gleichnis des einzigen wahren Gottes geschaffen ist und in der Stille seines Herzens das Zeugnis des eigenen Gewissens wahrnehmen kann, das ihn nicht zuletzt zu dem einzigen Gott hinführt, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat. Jesus sagt vor Pilatus: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ ( Joh 18,37). In diesem Sinn kann der Christ ohne die Angst, intolerant zu sein, von Gott sprechen, denn der Gott, den er in der Natur und im eigenen Gewissen zu erkennen auffordert, der Schöpfer des Himmels und der Erde, ist auch der Gott der Heilsgeschichte, der sich dem Volk Israel offenbart hat und in Christus Mensch geworden ist. Das war der von den ersten Christen eingeschlagene Weg. Sie lehnten es ab, dass Christus als ein Gott mehr im römischen Pantheon angebetet würde, da sie von der Existenz eines einzigen wahren Gottes überzeugt waren. Gleichzeitig bemühten sie sich aufzuzeigen, dass der von den Philosophen als Ursache, Sinn und Fundament der Welt erahnte Gott kein anderer ist als der Gott Jesu Christi 19.

GIUSEPPE TANZELLA-NITTI

Grundlegende Literatur

  • Katechismus der katholischen Kirche , 27-49
  • II. Vatikanisches Konzil, Konstitution Gaudium et spes, 4-22
  • Johannes Paul II, Enzyklika Fides et ratio, 14.9.1998, 16-35
  • Benedikt XVI, Enzyklika Spe salvi, 30.11.2007, 4-12

1 Vgl. Johannes Paul II, Enzyklika Fides et ratio, 14.9.1998, Nr. 1.

2 Johannes Paul II., Ansprache vor der UNO, New York, 5.10.1995, Nr. 9: Wir können sehen, „dass es jenseits aller Verschiedenheiten, die die einzelnen Menschen und die Völker unterscheiden, eine grundlegende Gemeinsamkeit gibt, weil ja die verschiedenen Kulturen in Wirklichkeit nichts anderes als verschiedene Weisen sind, an die Frage über den Sinn des persönlichen Daseins heranzugehen. Und gerade hier können wir eine der Quellen feststellen, aus denen die Achtung entspringt, die jeder Kultur und jeder Nation gebührt: Jede Kultur ist ein Bemühen, über das Geheimnis der Welt und vor allem des Menschen nachzudenken; sie ist eine Weise, der transzendenten Dimension des menschlichen Lebens Ausdruck zu geben. Das Herz jeder Kultur ist ihr Streben, dem größten aller Geheimnisse näherzukommen, dem Geheimnis Gottes“.

3 II. Vatikanisches Konzil: Erklärung Dignitatis humanae, Nr.2.

4 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konstitution Gaudium et spes, Nr. 10.

5 Vgl. Johannes Paul II: Apost. Schreiben Tertio millennio adveniente , 10.11.1994, Nr. 6; Enzyklika Fides et ratio, Nr. 2.

6 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, I, q.2, a.3; Contra gentes , I, c.13. Genauere Darlegungen findet der Leser an den erwähnten Stellen bei Thomas von Aquin sowie in Handbüchern für Metaphysik oder Naturtheologie.

7 Vgl. I. Vatikanisches Konzil, Konstitution Dei Filius, 24.4.1870, DH 3004; Motu Proprio Sacrorum Antistitum, 1.9.1910, DH 3538; Kongregation für die Glaubenslehre, Instr. Donum veritatis , 24.5.1990, Nr. 10; Enzyklika Fideset ratio, Nr. 67.

8 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 24: „Voller Dankbarkeit haben wir erkannt, zu welcher Glückseligkeit wir berufen sind, und wir haben begriffen, dass alle Geschöpfe aus dem Nichts erschaffen wurden – von Gott und für Gott: wir Menschen als vernunftbegabte Wesen, auch wenn wir sehr häufig den Verstand verlieren; und ebenso die vernunftlosen Geschöpfe, sie alle, die auf der Erdoberfläche wohnen, oder in der Tiefe leben oder die Lüfte durchziehen, manche hoch aufsteigend, der Sonne entgegen. Aber innerhalb dieser wunderbaren Vielfalt vermögen nur wir Menschen – ich spreche hier nicht von den Engeln – uns mit dem Schöpfer in Freiheit zu vereinigen. Wir können dem Herrn die Ehre, die Ihm als dem Schöpfer der Welt zukommt, erweisen, aber wir können sie Ihm auch verweigern“.

9 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konst. Gaudium et spes , Nr. 18.

10 Vgl. ebd., Nr. 17-18. Besonders die Lehre über die moralische Seite des Gewissens und die mit der menschlichen Freiheit verbundene Verantwortung des Menschen als Abbild Gottes wurde von Johannes Paul II. ausführlich dargestellt in der Enzyklika Veritatis splendor, 6.8.1993, Nr. 54-64.

11 Vgl. II Vatikanisches Konzil, Konst. Gaudium et spes , 19-21.

12 Vgl. ebd., Nr. 36.

13 Ebd,, Nr. 19.

14 Vgl. ebd., Nr. 21; Paul VI., Enzyklika Evangelii nuntiandi , 8.12.1975, Nr. 21; Johannes Paul II., Enzyklika Veritatissplendor, Nr. 93; Apost. Schreiben Novo millennio ineunte , 6.1.2001, Kapitel III und IV.

15 Vgl. Johannes Paul II, Apost. Schreiben Christifideles lai ci, 30.12.1988, Nr. 34; Enzyklika Fides et ratio , Nr. 5.

16 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Nostra aetate, Nr. 2.

17 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konstitution Lumen gentium, Nr. 16.

18 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio, 7.12.1990, Nr. 5; Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus, 6.8.2000, Nr. 5; 13-15.

19 Vgl. Johannes Paul II,, Enzyklika Fides et ratio, Nr. 34; Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 30.11.2007, Nr. 5.