SELIG, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden (Mt 5,6). Als Jesus diese Seligpreisung verkündete, sprach er nicht von körperlichem Hunger oder sozialem Gerechtigkeitsstreben. Er meinte einen Hunger, der tiefer reicht – ein Verlangen, das das Herz erfüllt und zugleich unruhig macht. Der Psalmist bringt es zur Sprache: Gott, mein Gott bist du, dich suche ich, es dürstet nach dir meine Seele. Nach dir schmachtet mein Fleisch wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser (Ps 63,2). Es ist ein Hunger, den keine irdische Nahrung stillt. Darum schrieb der heilige Augustinus: „Du hast uns für dich geschaffen, Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir.“1
Diese Unruhe erfüllte Maria, als sie während der Heimreise vom Paschafest bemerkte, dass Jesus nicht in der Pilgergruppe war. Sie und Josef glaubten, er gehe mit Verwandten oder Bekannten – doch er war nirgends zu finden. Sie suchten ihn voller Sorge, dann kehrten sie nach Jerusalem zurück (vgl. Lk 2,44–45). Man spürt die innere Erschütterung dieser Stunde. Der heilige Josefmaria versetzt sich in die Szene: „Wo ist Jesus? Herrin, das Kind ... Wo ist es? Maria weint. Vergeblich laufen du und ich von einer Gruppe zur anderen, von einer Reisegesellschaft zur nächsten: Sie haben ihn nicht gesehen. Josef versucht, seine Tränen zurückzuhalten, aber nun weint auch er … Und du … und ich …“2
In jedem Menschen lebt dieses Verlangen nach Fülle – ein innerer Hunger, der ein Abdruck Gottes in unserer Seele ist. Er zeigt uns, wer wir sind und wozu wir geschaffen wurden. Papst Franziskus beschreibt dieses Streben als eine Kraft, die „die Saiten unseres Innersten zum Schwingen bringt“. Schwierigkeiten ersticken es nicht; im Gegenteil: „Es ist wie mit dem Durst: Wenn wir nichts zu trinken finden, heißt das nicht, dass wir aufgeben; im Gegenteil, die Suche beschäftigt unser Denken und Tun immer mehr, bis wir bereit sind, jedes Opfer zu bringen, um unser Bedürfnis zu stillen.“3 Maria erlebte diesen Hunger in seiner reinsten Form: Für einen Augenblick hatte sie den verloren, der ihrem Leben Sinn, Richtung und Licht gab.
NACH DREI Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten (Lk 2,46-47). Die Suche hatte ihr Ziel gefunden – doch Maria empfand nicht nur Freude, sondern auch Verwunderung: Was trieb dieses Kind an, die Gelehrten Israels zu belehren?
Jesus erkannte den geistlichen Hunger der Menschen um ihn herum – den Hunger nach Gott, den zu stillen er gekommen war. Vielleicht verspürte er vor den Lehrern im Tempel eine ähnliche innere Regung wie später vor der Brotvermehrung: Ich habe Mitleid mit diesen Menschen; sie sind schon drei Tage bei mir und haben nichts mehr zu essen (Mt 15,32). Der Herr fühlt mit den Nöten der Menschen mit und fordert uns auf wie seine Apostel, aktiv zu werden: Gebt ihr ihnen zu essen! (Mk 6,37). Der heilige Josefmaria beschreibt das Panorama, das vor uns liegt: „Wir wünschen uns das Wohl, das Glück und die Freude der Menschen, die uns nahestehen; uns bedrückt das Los jener, die nach Brot und nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, die die Bitternis der Einsamkeit spüren und die an ihrem Lebensabend keinen liebevollen Blick und keine helfende Hand finden.“4
Maria beweist ein ums andere Mal ihre Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen: Sie erkennt, dass Elisabeth in ihrer Schwangerschaft Hilfe gebrauchen könnte, sie bemerkt bei der Hochzeit in Kana, dass der Wein ausgeht, und sie begleitet die Apostel in den ersten Tagen der Kirche. Mit ihrer Fürsorge ist sie auch heute an der Seite ihrer Kinder.
ALS MARIA und Josef ihren Sohn im Tempel fanden, fragte ihn seine Mutter: Warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Jesus antwortet überraschend: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? (Lk 2,48-49). Dies sind die ersten Worte Jesu im Evangelium – und sie offenbaren sein Herz: Seine tiefste Sehnsucht ist es, den Willen des Vaters zu tun. Er bestätigt dies später erneut im Gespräch mit der Samariterin. Obwohl er körperlich erschöpft und durstig ist, bleibt sein eigentliches Verlangen ein anderes. Als die Jünger ihn drängen zu essen, sagt er: Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden (Joh 4,34).
Das Heil zu verkünden – das ist, wonach Jesus hungert. Er weist später noch einmal darauf hin: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt (Mt 4,4). Und Papst Franziskus betont: „Die Verkündigung der Frohbotschaft ist die größte Gerechtigkeit, die dem Herzen der Menschheit angeboten werden kann. Die Menschen brauchen sie, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind.“5.
Maria und Josef verstanden diese Worte damals nicht völlig. Doch bewahrte Maria alles in ihrem Herzen (vgl. Lk 2,51). So wurde sie zum Vorbild jener Haltung, die Jesus später loben würde: Wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter (Mt 12,50). Maria weiß, was es bedeutet, nach Jesus zu hungern – ihn zu suchen, ihn zu verlieren, ihn wiederzufinden. Sie weiß, was es heißt, von Gott erfüllt und zugleich von Sehnsucht getrieben zu sein. Bitten wir Maria, uns zu lehren, wie wir uns von dieser göttlichen Speise nähren können, die allein unseren tiefsten Hunger und Durst stillt.
1 Hl. Augustinus, Bekenntnisse I, 1.
2 Hl. Josefmaria, Der Rosenkranz, 5. Freudenreiches Geheimnis.
3 Franziskus, Audienz, 12.10.2022.
4 Hl. Josefmaria, Liebe zur Kirche, Nr. 47.
5 Franziskus, Audienz, 11.3.2020.
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