„VOLL FREUDE feiern wir das Geburtsfest der Jungfrau Maria, aus ihr ist hervorgegangen die Sonne der Gerechtigkeit, Christus, unser Gott.“1 So eröffnet die Liturgie das heutige Fest. Wie die Morgenröte den neuen Tag ankündigt, so ist die Geburt der Gottesmutter „die Morgenröte des Heils und das Zeichen der Hoffnung“2. Von Generation zu Generation hatten die frommen Israeliten auf das Kommen des Messias gewartet: Sie harrten aus, bis zu der Zeit, da die Gebärende geboren hat (Mi 5,2). Mit Marias Geburt steht die Erlösung unmittelbar bevor.
Joseph Ratzinger hat einmal geschrieben: „Vielleicht können wir besser verstehen, was die Geburt der Jungfrau für die Menschheit bedeutet, wenn wir uns die Lage eines Gefangenen vor Augen führen. Die Tage eines Gefangenen sind lang, endlos ... Er zählt jede Minute der letzten Nacht, die er im Gefängnis verbringt. Dann, endlich, öffnen sich die Türen: Die lang ersehnte Stunde der Freiheit ist gekommen! Diese endlosen Minuten, jede einzeln gezählt, erinnern uns an die langen Genealogien Jesu im Evangelium. Monoton folgt ein Name nach dem anderen (...). Bis endlich die von Gott gewollte Stunde schlägt, die Fülle der Zeit, der Beginn des Lichts, die Morgenröte des Heils: Jakob zeugte Josef, den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird (Mt 1,16).“3
Das heutige Fest ist eine Einladung zur Freude. Singen will ich dem Herrn, weil er mir Gutes getan hat (Ps 13,6). Ein Kirchenvater ruft zum Geburtstag der Jungfrau aus: „Die ganze Schöpfung soll sich freuen (...) und alles, was in der Welt und über der Welt ist, soll sie mit Freude feiern. Heute ist in der Tat das Heiligtum des Schöpfers aller Dinge errichtet worden, und die Schöpfung ist auf neue und würdigere Weise bereit, den höchsten Schöpfer zu empfangen.“4
MARIA WURDE geboren, um durch ihr großzügiges Fiat – es geschehe – die Mutter des Erlösers zu werden. Sie nimmt im Heilsplan Gottes zur Rettung der Menschheit eine Schlüsselstellung ein. Über Jahrhunderte bereitete der Herr das Geschlecht vor, dem sie entstammen sollte. Und vom ersten Augenblick ihres Daseins an heiligte er sie auf wunderbare Weise, indem er sie voll der Gnade (Lk 1,28) erschuf: Durch ein göttliches Vorrecht ist sie unbefleckt empfangen, damit sie die Mutter des Sohnes Gottes sei. Auch wenn keiner ihrer Mitbürger irgendetwas bemerkte, „ist dieses Kind, noch klein und zart, die ,Frau‘ der ersten Verheißung, die Gott der verführerischen Schlange entgegenstellte (vgl. Gen 3,15)“5.
Darum bezeichneten die Heiligen Maria ohne Scheu als das Meisterwerk der Schöpfung, als das schönste aller Geschöpfe. Der heilige Johannes von Damaskus zum Beispiel schreibt, dass „der, der einst das Firmament von den Wassern trennte und es in die Höhe erhob, heute auf Erden einen neuen Himmel aus irdischer Natur geschaffen hat – und dieser Himmel ist ungleich schöner und göttlicher als der erste“6.
Die Jungfrau ist Gottes liebstes Geschöpf, die Pforte, durch die er auf diese Erde kommt. Doch so sehr sie von Ewigkeit her für diese einzigartige Sendung erwählt war – Gott wartete auf ihre freie Zustimmung. Der heilige Josefmaria führt uns in die Szene ein: „Betrachten wir nun den erhabenen Augenblick, da der Erzengel Gabriel Unserer Lieben Frau den göttlichen Ratschluss verkündet. Unsere Mutter hört, fragt nach, um ganz zu verstehen, was Gott von ihr will, und gibt gleich darauf die entschiedene Antwort: fiat! (Lk 1,38) ‒ Mir geschehe nach deinem Wort! Es ist der Ausdruck höchster Freiheit – der Freiheit, sich für Gott zu entscheiden.“7
MIT DER Freude über Marias Geburt verbindet die Liturgie den Gedanken an die Vorsehung Gottes für uns. Er trägt Sorge für unser persönliches Leben und für die Geschichte des ganzen Volkes. Papst Franziskus betont: „Dieses Fest erinnert uns daran, dass Gott seinen Verheißungen treu ist und dass er durch Maria, die Heiligste, unter uns wohnen wollte.“8 Der Stammbaum Jesu Christi, den wir im Evangelium hören, ist nämlich weit mehr als eine Liste von Namen, die mit Abraham beginnt und mit Jesus endet. In ihm finden wir leuchtende Gestalten wie die Patriarchen, die Gottes Stimme treu waren; wir stoßen aber auch auf dunkle Kapitel menschlicher Schuld.
Daraus wird sichtbar, was der heilige Josefmaria in einem Bild ausdrückte: „Wie wir Menschen mit einer Feder schreiben, so schreibt Gott mit einem Tischbein – damit niemand übersehen kann, dass er es ist, der schreibt.“9 Nichts kann Gott hindern, seinen Heilsplan zu vollbringen. Er respektiert unsere Freiheit, doch selbst in unserem Versagen findet er neue Wege seiner Liebe. Gott scheitert nicht. So wird der Stammbaum Jesu zu einem Zeugnis seiner Treue, zu einer Gewähr dafür, dass er uns niemals verlässt. Zugleich ist er eine Einladung, unser Leben stets neu nach Christus auszurichten.10
Maria betrachten heißt, auf das Beispiel zu schauen, das Gott uns selbst vor Augen stellt. In der Lauretanischen Litanei nennen wir sie „treue Jungfrau“ und „Ursache unserer Freude“. An ihrem Festtag dürfen wir sie bitten, uns zu helfen, unser Glück darin zu finden, täglich den Plänen Gottes zu entsprechen – so wie sie es getan hat.
1 Eröffnungsvers.
2 Schlussgebet.
3 Joseph Ratzinger, El Rostro de Dios, ed. Sígueme, Salamanca, 1983.
4 Hl. Andreas von Kreta, Rede 1, PG. 97, Nr. 806-810.
5 Hl. Johannes Paul II., Predigt, 8.9.1980.
6 Hl. Johannes von Damaskus, Predigt zu Mariä Geburt, PG 96, Nr. 661f.
7 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 25.
8 Franziskus, Audienz, 8.9.2021.
9 Hl. Josefmaria, Betrachtung, 2.10.1962.
10 Vgl. Benedikt XVI., Predigt, 8.9.2007.

