NACH ALTER Überlieferung brachten Joachim und Anna – Anna bedeutet „Der Herr hat Erbarmen gehabt“ – ihre dreijährige Tochter Maria in den Tempel von Jerusalem, um sie dort Gott zu weihen, wie sie es vor der Geburt versprochen hatten. Dort sollte sie mit anderen Mädchen bis zu ihrem zwölften Lebensjahr nbsp;in den Traditionen und der Frömmigkeit Israels unterrichtet werden. Das Alte Testament enthält eine Parallelgeschichte: Hier wird berichtet, dass Hanna, die Mutter des Propheten Samuel, ihren von Gott erbetenen Sohn in den Tempel brachte, damit er dort sein Leben lang im Dienst des Herrn stehen könne (vgl. 1 Sam 1,21-28).
Nach ihrer Zeit im Tempel führte Maria ein gewöhnliches Leben im Haus ihrer Eltern. Sie wuchs wie andere Frauen ihres Volkes heran. Als fromme Jüdin richtete sie ihr ganzes Leben auf den Herrn aus. Das heutige Fest, das in der Ostkirche schon sehr früh begangen wurde, feiert kurz vor Beginn der Adventszeit Marias Zugehörigkeit zu Gott und ihre vollkommene, lebenslange Hingabe an das Heilsgeheimnis.
Darauf anspielend lädt uns der heilige Alfons Maria von Liguori ein, uns Maria ganz und gar anzuvertrauen. Er schrieb: „Wie das heilige Kind Maria sich Gott im Tempel sofort und als Ganzes darbrachte, so wollen auch wir uns am heutigen Tag ohne Zögern und Vorbehalt Maria darbringen.“1 Maria wird uns immer zu Jesus führen. „Ihre Hände, ihre Augen, ihre Haltung sind ein lebendiger ,Katechismus‘“, so sagte Papst Franziskus, „und verweisen stets auf Jesus als den Angelpunkt und die Mitte.“2
JESUS lehrte vor einer größeren Menschenmenge, als ihn jemand unterbrach und zu ihm sagte: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? (...) Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter (Mt 12,46-50).
Auf den ersten Blick scheint es, als ob Jesus die Bedeutung der Beziehung zu seiner Mutter herabsetzen wollte. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass er vielmehr die innere Tiefe dieser Verbindung betont. Maria ist nicht nur deshalb mit Jesus verbunden, weil sie ihn geboren hat, sondern vor allem, weil sie Gottes Willen vollkommen angenommen hat. Der heilige Augustinus legte Jesus folgende Worte in den Mund: „Meine Mutter, die ihr selig nennt, ist deshalb selig, weil sie das Wort Gottes bewahrt; nicht weil in ihr das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat, sondern weil sie dieses Wort Gottes bewahrt, durch welches sie geworden ist und welches in ihr Fleisch geworden ist.“3
Mit seinen Worten weist Jesus also darauf hin, dass alle, die den Willen Gottes tun, Teil seiner Familie werden können. Wer mit ihm sein Leben teilt und nach dem Willen des Vaters strebt, ist somit mehr als nur ein Mitarbeiter an einem Projekt zum Wohle der Gesellschaft. Der Katechismus bringt dies auf den Punkt: „Jünger Jesu werden heißt, die Einladung annehmen, zur Familie Gottes zu gehören und so zu leben wie er.“4
IN DEN Evangelien finden wir zahlreiche Beispiele, die Marias unerschütterliche Treue zum Willen Gottes illustrieren. Ihr „Ja“ bei der Verkündigung durch den Engel war, wie Papst Franziskus sagt, „der erste Schritt einer langen Reihe von Gehorsamsakten (...), die ihren Weg als Mutter säumen werden“5. Den tiefsten Ausdruck fand diese Treue am Fuße des Kreuzes, an dem ihr Sohn sterbend hing. Die Evangelisten treffen keine Aussage über Gesten oder Worte der Gottesmutter, sondern betonen lediglich: „Sie war da.“ Durch ihre bloße Anwesenheit spendete sie Jesus Trost und fand eben darin die Kraft, diesen übermenschlichen Schmerz zu ertragen. Sie hatte entdeckt, dass das größte Glück – diesmal gepaart mit unsäglichem Schmerz – darin lag, bei ihrem Sohn zu „sein“.
Auch sonst bewies Maria unaufhörlich ihre Treue, selbst wenn die Evangelien darüber nicht explizit berichten. Ihr Alltag dürfte wie der der meisten Frauen ihrer Zeit verlaufen sein: In ihren täglichen Aufgaben erkannte und erfüllte sie den Willen Gottes. Sie heiligte das Kleine und Große, das jeder Tag mit sich brachte, das, was auf den ersten Blick nach wenig aussieht und doch viel bedeutete. Sie verstand es, in alles Liebe hineinzulegen. Wie der heilige Josefmaria schrieb, ging ihre Liebe „bis zum Äußersten, bis zum völligen Sich-selbst-vergessen“: „Glücklich an dem Ort, an dem Gott sie haben wollte, erfüllte Maria mit wachem Interesse seinen Willen. Dadurch ist selbst die unscheinbarste Geste bei ihr niemals leer, sondern erweist sich stets voller Bedeutung.“6
In ihrem Leben setzte unsere himmlische Mutter um, was Jesus später die Jünger lehren sollte: Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen (Lk 16,10). Seit ihrer Darstellung im Tempel drehte sich Marias gesamtes Leben um Gott. Suchen wir ihre Hilfe, damit auch wir unter der Leitung des Heiligen Geistes das Abenteuer der Treue entdecken können.
1 Hl. Alfons Maria von Liguori, Die Herrlichkeiten Mariens, Sarto Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2018, Teil II, Kapitel III.
2 Franziskus, Audienz, 24.3.2021.
3 Hl. Augustinus, In Ioannis Evangelium 10,3.
4 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2233.
5 Franziskus, Audienz, 10.5.2017.
6 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 148.

