JESUS war von der Menge umringt, als jemand auf ihn zukam und zu ihm sagte: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Der Herr antwortete daraufhin: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und mit Blick auf die Leute, die bei ihm standen, fügte er hinzu: Siehe, meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter (Mt 12,46-50).
Aufs erste mag die Reaktion von Christus kühl wirken. Er scheint seiner Mutter nicht viel Aufmerksamkeit zu schenken. Später aber lobt er sie in höchsten Tönen, denn Maria hat wie niemand anderer den Willen Gottes erfüllt. Vom heiligen Augustinus stammt der bemerkenswerte Satz, dass Maria gesegnet sei, weil sie die Wahrheit zuerst in ihrem Geist und danach in ihrem Schoß bewahrte.1 Die Aussage ist kühn: Maria ist mehr durch ihren Glauben als von Natur her die Mutter Christi. Sie hat den Willen Gottes erfüllt, als sie den Antrag des Engels annahm, die Mutter des Messias zu sein. Und nicht nur dann. Denn später gab es für sie noch mehr Gelegenheiten, sich auf Gottes Pläne einzulassen.
„Die Mutter Gottes hat ihr fiat nicht nur gesagt“, kommentierte der heilige Josefmaria, „sondern diesen festen, unwiderruflichen Entschluss auch in jedem Augenblick ihres Lebens umgesetzt. So auch wir: Wenn die Gottesliebe an unserem Herzen anklopft und wir den göttlichen Wunsch erkennen, sollen wir den Entschluss fassen, treu und loyal zu sein, und es auch wirklich sein.“2 Im Laufe unseres Lebens werden wir viele Gelegenheiten haben, den Willen Gottes zu erfüllen, im Kleinen und im Großen. Die Haltung Marias zeigt uns, dass uns nichts glücklicher macht, als aus Liebe und in Freiheit den Plänen zu folgen, die der Herr für uns im Sinn hat. Der heilige Josefmaria rät: „Sage ohne Angst Ja zum Willen Gottes! Nimm dir fest vor, dein ganzes Leben auf das Fundament der Lehre und der Forderungen unseres Glaubens zu gründen. Ich versichere dir, wenn du das tust, wirst du auch in einem Meer von Sorgen und sogar von Verleumdungen glücklich sein. Und dieses Glücksgefühl wird dich dazu drängen, die Mitmenschen zu lieben und sie an deiner übernatürlichen Freude teilhaben zu lassen.“3
MARIA löste durch ihren Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen die Knoten, die Evas Ungehorsam verursacht hatte.4 Der Wunsch der ersten Frau, wie Gott zu sein, hatte die menschliche Natur zutiefst verletzt. Maria hingegen bekannte sich als Magd des Herrn und erlaubte es somit Gott, Mensch zu werden, um uns von der Sklaverei der Sünde zu befreien. Das Ja der Gottesmutter hat dazu beigetragen, uns eine neue Freiheit zu schenken.
Gehorsam und Freiheit können manchmal als zwei gegensätzliche Realitäten angesehen werden. Es wird dann angenommen, dass die Entscheidung für den einen stets zum Nachteil des anderen ist. Dies wäre in einem von der Sünde geprägten Kontext tatsächlich der Fall. Denn der Gehorsam gegenüber dem Diktat des Bösen trägt tatsächlich dazu bei, die eigene Freiheit zu schmälern. In der Folge verliert der Mensch nach und nach seine Autonomie, das Gute zu wählen, und fühlt sich unfähig, aus Liebe zu handeln. Er handelt dann weniger wegen eines Ideals, das die eigene Existenz inspiriert und mit Freude erfüllt, als wegen der unwiderstehlichen Kraft, mit der sich die Sünde zeigt.
Maria hingegen lehrt uns, dass es möglich ist, Gott zu gehorchen und wirklich frei zu sein. „Freiheit und Hingabe sind kein Widerspruch“, schrieb der heilige Josefmaria. „Sie stützen einander gegenseitig. Die Freiheit kann man nur aus Liebe hingeben; jede andere Art des Verzichts darauf ist mir unbegreiflich. (…) In der freiwilligen Hingabe, in jedem Moment dieser Hingabe, erneuert die Freiheit die Liebe; und sich erneuern bedeutet, stets jung und großzügig sowie zu großen Idealen und Opfern fähig zu bleiben.“5 Deshalb ist der Gehorsam gegenüber Gott, wenn er aus Liebe geschieht, „nicht nur ein freier Akt, sondern auch ein befreiender Akt“6, wie der Prälat des Opus Dei betont. Er befreit uns von den Fesseln der Sünde und erlaubt uns, das Gute zu entdecken, das die Erfüllung des Willens Gottes für unser eigenes Leben bedeutet. Das ist das Glück, von dem der Psalmist singt: Die Befehle des Herrn sind gerade, sie erfüllen das Herz mit Freude. Das Gebot des Herrn ist rein, es erleuchtet die Augen (Ps 19,9).
IM LAUFE der Heilsgeschichte hat der Herr seinen Willen immer wieder durch bestimmte Personen offenbart. Einige Propheten zum Beispiel ermahnten ihre jüdischen Zeitgenossen, fremde Kulte aufzugeben und allein den Gott Israels anzubeten. Samuel war von Gott beauftragt, David zum König von Israel zu salben. Gott kann uns seinen Willen, wie der Prälat des Werkes schrieb, „auch durch unsere Mitmenschen erkennen lassen, die mit mehr oder weniger Autorität ausgestattet sind, je nach Situation und Kontext. Zu wissen, dass Gott durch andere Menschen oder auch durch mehr oder weniger gewöhnliche Ereignisse zu uns sprechen kann, die Überzeugung, dass wir ihn darin hören können, lässt in uns eine Haltung der Fügsamkeit gegenüber seinen Plänen entstehen, die auch in den Worten derer verborgen sein können, die mit uns auf dem Weg sind.“7
Das soll natürlich nicht heißen, dass alle Ratschläge, die wir erhalten, unfehlbar sind. „Gott verpflichtet uns nicht zu einem blinden, sondern zu einem intelligenten Gehorsam“8, sagte der heilige Josefmaria. Das bedeutet, dass wir das, was uns gesagt wird, mit unseren eigenen Gedanken vergleichen, in einem offenen Dialog mit der anderen Person, der wir demütig und vertrauensvoll unsere Sichtweise darlegen. Der Prälat des Werkes erinnert daran, dass „wer eine Leitungsaufgabe innehat, äußerstes Fingerspitzengefühl walten lassen muss, um niemandem unnötig seine eigenen Kriterien aufzuerlegen; und um zu verhindern, dass seine Hinweise und Ratschläge als solche als kristallklarer Ausdruck des göttlichen Willens aufgefasst werden können.“9
Es wird Zeiten geben, in denen uns jemand den Willen Gottes vermittelt, weil er uns an ein Gebot der Lehre des katholischen Glaubens erinnert. Meist ist es aber weniger eindeutig und können mehrere Möglichkeiten gut sein: eine Arbeit annehmen oder ablehnen, etwas kaufen oder darauf verzichten, einen Plan durchziehen oder nicht ... Der Rat einer Person, die uns liebt und die die Gnade des Herrn hat, uns zu helfen, kann uns Licht geben, weil wir unsere eigene Unzulänglichkeit kennen und uns bewusst ist, dass unsere Gefühle die Objektivität unseres Urteils beeinträchtigen können. Dieser Ratschlag ist eine Hilfe für jeden von uns, um in völliger Freiheit eine weise Entscheidung zu treffen. Unsere himmlische Mutter möge uns helfen, stets den Willen Gottes zu tun und zu lieben, weil wir wissen, dass der Herr an unserem Glück interessiert ist und unsere Freiheit immer größer und wertvoller macht.
1 Vgl. Hl. Augustinus, Sermo 72 A, 3. 7-8.
2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 173.
3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 814.
4 Vgl. Hl. Ireneus, Gegen die Häresien, III, 22, 4.
5 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 31.
6 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 9.1.2018, n. 7.
7 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 10.2.2024, n. 6.
8 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 17.
9 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 10.2.2024, n. 7.