„DER HERR ist nahe.“1 Unsere Erwartung wächst von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde. Unsere Herzen sehnen sich nach der Ankunft des Immanuel. Vor uns haben schon viele auf ihn gewartet – ohne ihn am Ende zu sehen. Das heutige Evangelium führt uns die Generationen vor Augen, die in Erwartung des Messias gelebt haben: vierzehn Generationen von Abraham bis David, vierzehn bis zur Babylonischen Gefangenschaft und weitere vierzehn bis zu Josef, dem Mann Marias (Mt 1, 1-17). Wir sind später geboren, jedoch Erben derselben Verheißung. Dennoch können wir die Tiefe der Sehnsucht so vieler Generationen des jüdischen Volkes kaum nachvollziehen. Die Liturgie lässt sie uns lediglich ahnen, indem sie die unbeschreibliche Freude über die bevorstehende Ankunft Jesu mit herrlichen Worten des Jesaja zum Ausdruck bringt: Jubelt, ihr Himmel, jauchze, o Erde (Jes 49,13).
Abraham steht am Anfang dieser langen Kette. Dank seines Vertrauens erfüllte sich die göttliche Verheißung: Sieh zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst! So zahlreich werden deine Nachkommen sein (Gen 15,5). Gott hat sich der Treue Abrahams und der vieler anderer bedient, um uns seinen Sohn zu senden, der die verlorene Vertrautheit zwischen Gott und Mensch wiederhergestellt und unsere Würde in unvorstellbare Höhe gehoben hat: Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (1 Kor 2,9).
Von tiefer Freude erfüllt, da wir uns gerettet, erlöst und geheilt wissen, singen wir „mit den Engeln und Erzengeln, den Thronen und Mächten und mit allen Scharen des himmlischen Heeres den Hochgesang von deiner göttlichen Herrlichkeit.“2 Vielleicht klingt unser Gesang nicht immer harmonisch, doch der Heilige Geist kommt unserer Schwachheit zu Hilfe und tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern (vgl. Röm 8,26).
WIR ALLE haben einen Stammbaum – und auch Jesus Christus wollte einen haben. In Maria, seiner Mutter, tritt er endgültig in die Geschichte der Menschen ein und verbindet sich mit uns für immer. In der Menschwerdung weist Gott nichts Menschliches zurück, sondern nimmt die Geschichte jedes Einzelnen an, um allen einen Platz im ewigen Leben zu eröffnen. Der Schöpfer des Himmels und der Erde wollte Teil der menschlichen Familie werden.
Benedikt XVI. lehrte: „Im Stall zu Bethlehem berühren sich Himmel und Erde. Der Himmel gehört nicht der Geographie des Raumes an, sondern der des Herzens. Und das Herz Gottes hat sich in der Heiligen Nacht in den Stall hinabgebeugt: Die Demut Gottes ist der Himmel. Und wenn wir auf diese Demut zugehen, dann berühren wir den Himmel. Dann wird auch die Erde neu.“3 Oft meinen wir, Gott könne nicht dort sein, wo Schwäche, Gebrechlichkeit oder Mittelmäßigkeit vorherrschen. Doch wenn wir die wahren Güter des Lebens erlangen und uns nicht mit der Sünde abfinden wollen, wird Gott in seiner Demut den Stall unseres Herzens nicht zurückweisen. Er bringt den Himmel in unseren Alltag, in unser Zuhause, in jeden Augenblick unseres Lebens.
Diese vielen Glieder der Kette haben über Jahrhunderte hinweg eine Sehnsucht wachgehalten, die nur das neugeborene Kind von Bethlehem erfüllen kann. Manche haben vielleicht nur undeutlich geahnt, worauf sie hofften; andere suchten Zuflucht bei Götzen, die greifbarer erschienen. Die Sehnsucht nach Erlösung lebt bis heute in allen Menschen fort – oft unausgesprochen, manchmal kaum bewusst. Wir dürfen uns glücklich schätzen, die frohe Botschaft von Weihnachten zu kennen. Wir erwarten Jesus – und wünschen uns, dass diese Hoffnung auch noch das ärmste Herz im entlegensten Winkel der Erde erreicht.
„WIR PREISEN DICH, Herr, Herr, höchster Gott, der du dich um unseretwillen deiner Herrlichkeit entäußert hast“4, so betete Papst Franziskus – und wir denken oft das Gegenteil: Wir halten uns für groß und mächtig. Der heilige Augustinus kannte diese Versuchung: „Du, o Mensch, wolltest Gott sein und starbst. Er, Gott, wollte Mensch werden und rettete dich. So weit reichte der menschliche Stolz, dass es der göttlichen Demut bedurfte, um ihn zu heilen!“5
Der Stolz schenkt nur flüchtige Befriedigung – sie währt nur kurz und fordert rasch ihren Preis. Unruhe folgt auf ihr auf den Fuß, denn der Hochmut verlangt stets neue Vergleiche und Selbstbestätigungen. Er bringt weder Frieden noch Erfüllung. Der heilige Josefmaria sprach mit feinem Humor von dieser menschlichen Schwäche: „Ich kenne einen so armseligen kleinen Esel, der, wenn er in Betlehem neben dem Ochsen gestanden wäre, statt den Schöpfer ehrfurchtsvoll anzubeten, das Stroh der Krippe gefressen hätte …“6
Allein die Liebe Gottes vermag unser Herz zu erfüllen. Sie ist größer als was wir begreifen können. In der heutigen Präfation heißt es: „Die jungfräuliche Mutter trug ihn voll Liebe in ihrem Schoß.“ In der Vertrautheit des Gebets wird die heilige Maria uns in dieses Geheimnis einführen, das sie aus erster Hand kennt. Und als Mutter vermag sie immer – mit einer Geste, einer Liebkosung – zu zeigen, was Worte nicht ausdrücken können.
1 Stundengebet, Antiphon zum Invitatorium, 17. Dezember.
2 Präfation vom Advent II.
3 Benedikt XVI., Predigt, 24.12.2007.
4 Franziskus, Predigt, 24.12.2014.
5 Hl. Augustinus, Sermo 183.
6 Hl. Josefmaria, Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 181 (25.3.1931).

