SOWOHL Lukas als auch Matthäus berichten in ihren Evangelien von der berühmten Weherede, in der Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern die Widersprüchlichkeit ihres Lebens vor Augen führt. Der Herr kritisiert die Führer des Volkes mit scharfen Worten, weil sie sich mehr um den äußeren Schein als um die Wahrheit kümmerten. Weh auch euch Gesetzeslehrern! Ihr ladet den Menschen unerträgliche Lasten auf, selbst aber rührt ihr die Lasten mit keinem Finger an. Weh euch! Ihr errichtet Denkmäler für die Propheten, die von euren Vätern umgebracht wurden. (...) Weh euch Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen (Lk 11, 46-47.52).
Anstatt Jesu Worte ernst zu nehmen, begannen die Angesprochenen, ihn mit vielerlei Fragen hartnäckig zu bedrängen (Lk 11,53). Sicher, der Herr sprach streng zu ihnen, doch hätten sie sich mit ein wenig Mut und Ehrlichkeit selbst geprüft, hätten sie erkennen können, dass seine Vorwürfe gerechtfertigt waren. Was ihnen fehlte, war Demut – jene Tugend, die es ermöglicht, Zurechtweisungen anzunehmen und den Weg der Umkehr zu beschreiten, wie es der Herr verlangt. Demut, so sagt Papst Franziskus, „ist der Weg, der uns zu Gott führt. Und weil sie uns zu ihm führt, führt sie uns auch zu dem, was im Leben wirklich zählt, zu seiner tiefsten Bedeutung, zu dem verlässlichsten Grund, warum das Leben lebenswert ist. Nur die Demut öffnet uns für die Erfahrung der Wahrheit, der echten Freude, der Erkenntnis, die zählt. Ohne Demut sind wir ,abgeschnitten‘ (…) vom Verständnis Gottes, vom Verständnis unserer selbst.“1
Andere Male sehen wir, wie Jesus von der Einfachheit der Kinder berührt ist, die zu ihm kommen, ohne je gelernt zu haben zu lügen; oder von den Aussätzigen, die ihn, ohne nach der Meinung der Leute zu fragen, um Heilung bitten; oder von der Aufrichtigkeit jener, die ihn aus einem echten Verlangen nach Wahrheit aufsuchen. Der Herr schätzt Authentizität und Redlichkeit. Daher sagt er auch: Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen (Mt 5,37).
DIE NEIGUNG der Pharisäer und Schriftgelehrten zur Selbstrechtfertigung ist so alt wie die Menschheit selbst. Schon im Paradies versuchte Adam, sich vor Gott herauszureden, als dieser ihn nach dem Verzehr der verbotenen Frucht zur Rede stellte. Adam schob die Schuld auf Eva, um sich selbst zu entlasten: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben (Gen 3,12).
Don Javier Echevarría berichtet in seinen Erinnerungen, dass der heilige Josefmaria stets gegen jede Art von Ausflüchten kämpfte, selbst wenn sie vor dem Herrn nicht als schwerwiegende Verfehlung erschienen. Denn, so sagte er, „in diesen Feinheiten zeigt sich die Liebe“. Er zählte gerne fünf verbreitete Rechtfertigungen auf, die es zu vermeiden gelte, und bezeichnete sie drastisch als „Teufel“: „Die Sache ist die ..., ich dachte, ich glaubte, morgen, später.“2 Ein wachsames Herz erkennt, dass in diesen Ausreden unsere Aufrichtigkeit und Treue auf dem Spiel stehen.
Die Gewissenserforschung ist ein wichtiges Mittel, um uns selbst besser kennenzulernen und Gottes Rufe in unserem Alltag wahrzunehmen. Wenn wir erkennen, dass wir diesen Rufen manchmal nicht gefolgt sind, können wir den Herrn um die Gnade bitten, neu zu beginnen. Der heilige Josefmaria betonte oft: „Unser Leben – das der Christen – soll einfach sein: Wir bemühen uns, unsere alltäglichen Pflichten gut zu erfüllen und unsere göttliche Sendung in der Welt umzusetzen, indem wir den kleinen Anforderungen jedes Augenblicks gerecht werden. Und wenn es uns nicht gelingt, sagen wir dem Herrn abends in unserer Gewissenserforschung: Heute kann ich dir keine Tugenden anbieten, nur Fehler. Aber mit deiner Gnade werde ich vorankommen und am Ende als Sieger hervorgehen.“3
DER RUF und die Nachfolge Christi verlangen, dass wir uns in unserer Liebe zu Gott ehrlich prüfen. Im Gebet und im Gespräch mit Gott müssen wir uns ohne Angst unseren Schwächen stellen und in einer aufrichtigen Gewissenserforschung den Mut haben, den Dingen einen Namen zu geben. Der selige Álvaro del Portillo ermutigte uns in einem seiner ersten Hirtenbriefe, „die Gewissenserforschung gewissenhaft zu machen“4. Er rief uns als seine geistlichen Kinder dazu auf, ins Innere unseres Herzens zu schauen, in die Tiefe zu gehen und die Wurzeln unserer Schwächen zu erkennen.
Diese Selbsterkenntnis wird uns helfen, in der Freiheit zu wachsen und authentisch zu sein – genau das ist es, was sich der Herr für uns wünscht. Papst Franziskus sagte: „Gottes Gegenwart in unserem Leben zu vergessen, geht einher mit der Unkenntnis über uns selbst – Gott nicht zu kennen bedeutet, uns selbst nicht zu kennen.“5 In der Gewissenserforschung können wir unsere Ideale erneuern und Gott um seine Hilfe bitten, unser Leben nach unserer Berufung auszurichten. So werden wir fähig, dem Herrn zu folgen, ohne uns von Dingen faszinieren zu lassen, die uns von ihm wegziehen.
Der heilige Josefmaria betonte, dass die Apostel, als Jesus sie rief, „alles verließen … Alles!“ Er warnte jedoch, dass es uns, die wir den Aposteln nachfolgen möchten, manchmal schwerfallen kann, wirklich „alles“ loszulassen. Oft behalten wir bestimmte Anhänglichkeiten oder Unstimmigkeiten in unserem Leben zurück, die wir nicht aufgeben wollen, um sie Gott als Opfer darzubringen. Er forderte dazu auf: „Wirst du dein Herz bis in die Tiefe prüfen? Nichts soll bleiben, was nicht ihm gehört; sonst lieben wir ihn nicht ganz, weder du noch ich.“6
Die Jungfrau Maria verstand es, ihre Liebe vollständig auf die Sendung auszurichten, die ihr der Engel verkündet hatte: die Mutter Gottes zu sein. Von diesem Moment an prägte diese Berufung ihr ganzes Leben, bis in die kleinsten Details. Möge sie uns helfen, in den Anrufungen des Herrn die Einladung zu erkennen, mehr wir selbst zu werden.
1 Franziskus, Audienz, 22.12.2021.
2 Javier Echevarría, Memoria del beato Josemaría (nicht auf Deutsch erhältlich).
3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 616.
4 Seliger Alvaro del Portillo, Brief 8.12.1976, Nr. 8.
5 Franziskus, Audienz, 5.10.2022.
6 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 356.

