Betrachtungstext: 19. Woche im Jahreskreis – Dienstag

Kinder sein, die die anderen brauchen – Die Logik des Spiels – Die Armen zeigen uns Gott

VON DEN fünf großen Reden Jesu, die Matthäus überliefert, nimmt eine ihren Anfang bei einer Frage der Jünger: Wer ist denn im Himmelreich der Größte? (Mt 18,1). Der Herr antwortete nicht gleich, sondern rief ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte dann: Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen (Mt 18,2-3). Vor einer Zuhörerschaft, die möglicherweise auf die Erlangung von Sonderrechten und Begünstigungen hoffte, macht Christus klar: Es sind nicht unsere Leistungen, die uns einen Ehrenplatz im Reich Gottes sichern, sondern das Ringen darum, wie Kinder zu werden und unsere Grenzen demütig anzunehmen. Kinder überlassen sich – im Vertrauen darauf, dass die Erwachsenen die Probleme schon lösen werden –, und sind unbesorgt, was ihren Ruf anbelangt. Ihr Reichtum liegt in dem, womit sie von Gott, den Eltern, Großeltern und Geschwistern beschenkt werden.

Wenn wir Kinder beobachten, werden wir feststellen, dass sie häufig die Aufmerksamkeit der Erwachsenen suchen. Papst Franziskus sagte: „Die Kinder wollen unsere Aufmerksamkeit. Und warum wollen sie im Mittelpunkt stehen? Weil sie stolz sind? Nein! Weil sie sich beschützt fühlen wollen.“1 Kinder wissen, dass sie alleine nichts zustande bringen. Im Laufe der Jahre werden sie unabhängiger, und in der Pubertät fallen viele sogar ins andere Extrem: Sie meinen, autark zu sein und von anderen nichts zu brauchen. Der nächste Schritt der Reife besteht darin, zu erkennen, dass die Menschen um uns herum viel zu unserer Entwicklung beigetragen haben und weiterhin beitragen: Ohne sie wären wir nicht dieselbe Person.

Ähnliches kann im inneren Leben geschehen. Wir lernen von unseren Eltern, einem Katecheten oder einem Priester, eine Beziehung zu Gott aufzubauen, und denken vielleicht, dass wir die Hilfe der anderen eines Tages nicht mehr benötigen werden. Davor warnte jedoch der heilige Josefmaria, indem er darauf hinwies, dass die großen Fehltritte, die Menschen machen, „ihren Ursprung immer im Stolz haben, sich für erwachsen und selbstständig zu halten. In diesen Fällen waltet in der Seele eine Art Unvermögen, den, der helfen kann, um Hilfe zu bitten: nicht nur Gott, sondern auch den Freund oder den Priester. Und so verliert die arme, in ihrem Unglück sich selbst überlassene Seele jegliche Orientierung.“2 Daher empfahl der Gründer des Opus Dei, wie die Kinder sein zu wollen, damit das eigene Leben Größe entfalten kann: „Möget ihr echte Kinder sein! Je mehr, desto besser. Dies sage ich euch mit der Erfahrung eines Priesters, der sich im Laufe von sechsunddreißig Jahren (...) sehr oft wieder aufrappeln musste. Etwas hat mir stets dabei geholfen: dass ich Kind bleibe und Zuflucht suche beim Schoß meiner Mutter und beim Herzen Christi, meines Herrn.“3


WENN wir uns nochmals ansehen, wie Kinder sind, können wir einen weiteren Aspekt entdecken: Sie spielen gerne – und sie geben sich oft nicht damit zufrieden, mit Gleichaltrigen Spaß zu haben, sondern wollen, dass auch die Eltern mitspielen. Für einen Erwachsenen bedeutet dies, wieder klein zu werden. Papst Franziskus ermuntert zum Mitmachen: „Wenn wir wollen, dass das Kind sich vergnügt, dann müssen wir verstehen, was ihm gefällt – und dürfen nicht egoistisch sein.“4 In gewisser Weise heißt dies, dass wir persönliche Sorgen – die sicher ihre Dringlichkeit haben – zurückstellen und überlegen, was das Kind in diesem Moment von seinen Eltern erwartet. Diese Haltung können wir ebenso gegenüber unseren Mitmenschen entwickeln. Wenn wir jemandem anderen eine Geste des Dienstes oder der Zuneigung schenken, folgen wir der Logik des Spiels: Wir erkennen, was der andere vielleicht braucht, und versuchen, es zu ermöglichen.

Manchmal ist es in der Tat nicht leicht, Zeit zum „Spielen“ zu finden, d. h. anderen Aufmerksamkeiten zukommen zu lassen. Der heilige Josefmaria sah in diesen Zeichen der Wertschätzung dennoch einen wichtigen Schlüssel für das eigene Glück und das der anderen und ermutigte seine Söhne und Töchter: „Es macht mir nichts aus, es einmal und immer wieder zu sagen. Zuneigung brauchen alle Menschen, auch im Werk. Bemüht euch, dass die Zuwendung zu euren Brüdern und Schwestern – ohne Gefühlsduselei – immer tiefer wird. Alles, was einen Sohn oder eine Tochter von mir betrifft, soll euch ganz persönlich zu Herzen gehen. An dem Tag, an dem wir fremd oder gleichgültig nebeneinander her leben, haben wir das Opus Dei zerstört.“5 Das Bemühen, an unsere Mitmenschen zu denken, macht uns nicht nur froh, sondern lässt uns auch leichter erkennen, dass der Herr der erste ist, der mit uns spielt. Papst Benedikt schrieb: „Nur wenn ich bereit bin, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu zeigen, werde ich auch zartfühlend Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen für das, was Gott für mich tut und wie sehr er mich liebt.“6


ZU EINEM HOHEN MASS können wir Gott in jenen erkennen, die uns rein materiell betrachtet wenig geben können: Kinder, Kranke, alte Menschen ... In diesem Sinne sagte der heilige Josefmaria: „Die Armen sind mein bestes geistliches Buch und das Hauptthema meines Gebetes. Sie schmerzen mich, und Christus schmerzt mich in ihnen … Und dieser Schmerz lässt mich erkennen, dass ich ihn liebe und dass ich sie liebe.“7 Der Gründer des Opus Dei war sich von Beginn seines pastoralen Wirkens an über die von Jesus verkündete Hierarchie im Klaren. „Kind. – Kranker. – Seid ihr nicht versucht, diese Worte ganz in Großbuchstaben zu schreiben? Für einen in Gott verliebten Menschen sind die Kinder und Kranken er.“8 Worte, die die Erfahrung des jungen Priesters aus der seelsorgerischen Betreuung von Notleidenden im Patronat von Santa Isabel in Madrid in den 1930er Jahren widerspiegeln!

Die Fürsorge für die Schwächsten der Gesellschaft bringt uns dem Herrn näher. Erstens, weil alles, was wir für sie tun, so ist, als ob wir es für Gott selber tun: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,40). Zweitens werden wir Jesus in gewisser Weise gleich, denn wir übernehmen seinen Lebensstil – er ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen (Mt 20,28) – und werden seine Botschafter sein, da wir unseren Mitmenschen den Trost Gottes bringen. Außerdem beginnt unser Herz dem des Herrn zu ähneln, der liebt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Doch obwohl wahr ist, dass diese Menschen uns materiell wenig geben können, geben sie uns in Wirklichkeit das Beste: Sie zeigen uns Gott selbst.

„Wenn du jemandem deine ganze Liebe schenkst, kannst du dir nie sicher sein, ob er dich auch liebt“, sagte die heilige Teresa von Kalkutta. „Erwarte nicht, dass du zurückgeliebt wirst; erwarte nur, dass die Liebe im Herzen des anderen wächst. Wenn sie nicht wächst, sei froh, dass sie in deinem Herzen gewachsen ist. Es gibt Dinge, die du gerne hören würdest, die du aber nie von jener Person hörst, von der du sie gerne hören würdest. Sei nicht so taub, sie nicht von demjenigen zu hören, der sie dir von Herzen sagt.“9 Oft drücken das Kind, der Kranke oder der alte Mensch, den wir betreuen, ihre Dankbarkeit uns gegenüber nicht direkt aus. Damit bieten sie uns eine weitere Möglichkeit, Gott ähnlich zu werden, denn auch er schenkt uns ständig seine Zuneigung – und wir merken es nicht einmal. Maria möge uns helfen, ein mütterliches Herz wie das ihre zu haben, das sich nicht scheut, sich zu verschenken.


1 Franziskus, Audienz, 30.12.2015.

2 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 147.

3 Ebd.

4 Franziskus, Audienz, 30.12.2015.

5 Hl. Josefmaria, Brief, 14.2.1974, Nr. 23.

6 Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 18.

7 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 827.

8 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 419.

9 Hl. Mutter Teresa von Kalkutta, Pobre entre los más pobres, Ediciones Paulinas, 2003, p. 31.