IN DEN JAHREN seines irdischen Wirkens begegnete Jesus vielen Menschen, die ihm aufrichtig ihr Herz öffneten. Und er traf auch andere, die keine solche Liebe zur Wahrheit an den Tag legten; vielleicht vollbrachten sie gute Taten, ihre Absichten waren jedoch nicht immer lauter. In einer solchen Situation rief der Herr aus: Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird (Mt 10,26).
Christus kennt uns genau. Für ihn gibt es keine Schminke, mit der sich Mängel zudecken und Stärken unterstreichen ließen: Er wünscht sich, dass unsere Beziehung zu ihm schlicht und aufrichtig ist. Wie der Psalmist wollen wir beten: Herr, du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen (Ps 139,1-4).
Der Herr ist mit all unseren Bemühungen und Kämpfen vertraut. Und selbst wenn wir versagen, brauchen wir unseren inneren Frieden nicht zu verlieren, denn er kennt die tiefsten Absichten unseres Herzens. Deshalb wollte uns der heilige Josefmaria alle Angst nehmen, uns so zu sehen, wie wir vor Gott sind: „Wie du offen und einfach wirst? Vernimm und betrachte in deinem Herzen die Worte des Petrus: Domine, tu omnia nosti ... – Herr, du weißt alles!“1 Nichts gibt uns mehr Frieden als diese Nähe zu Gott, dem auch nicht die kleinste Absicht der Liebe entgeht.
DIE AUFRICHTIGKEIT im Umgang mit Gott führt uns dazu, uns selbst genau zu kennen, unsere Persönlichkeit und unsere Wesensart, mit all ihren Möglichkeiten, den anderen zu dienen, und auch ihren Grenzen. Beim heiligen Josefmaria lesen wir: „Du hast begriffen, was Aufrichtigkeit ist, da du schreibst: ,Ich versuche, mich daran zu gewöhnen, die Dinge beim Namen zu nennen und vor allem, keine Bezeichnungen für Dinge zu suchen, die es gar nicht gibt.‘“2
Deutlich mahnte der Apostel Johannes zur Selbsterkenntnis: Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in uns (1 Joh 1,8). Und Papst Franziskus betont: „Wir alle haben gesündigt, wir alle sind Sünder.“ Allerdings genügt diese Einsicht nicht, erklärte der Papst, wir könnten uns darin sogar sehr täuschen. Denn „wenn wir sagen: ,Wir alle sind Sünder‘, wie andere ,Guten Morgen‘ oder ,Guten Tag‘ sagen – wie eine Gewohnheit oder sogar eine soziale Gepflogenheit –, dann haben wir kein wirkliches Sündenbewusstsein.“3 Solange wir es bei einer allgemeinen Einsicht belassen, wird es uns sehr schwer fallen, konkrete Fehler zuzugeben und uns bedürftig zu sehen. Doch gerade durch ein konkretes Eingeständnis finden wir Gottes Vergebung und Hilfe, um rein zu werden, wie Johannes sagt: Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht; er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht (1 Joh 1,9).
Die Sünde ist kein abstraktes Wesen, sondern eine Realität, die sich im Alltag zeigt. Im aufrichtigen Dialog mit Gott lernen wir, die Haltungen zu benennen, die uns ihm und den anderen entfremdet haben, und aus diesen Einsichten Vorsätze zu gewinnen, die unser Streben nach Heiligkeit nähren werden. Wir bitten den Herrn um die nötige Weisheit, um uns selbst gegenüber aufrichtig zu sein und somit Gott und unsere Mitmenschen jeden Tag besser zu lieben.
IN DER STUNDE der Selbsterkenntnis sind wir selbst oft nicht der beste Richter. Die Volksweisheit gelangte daher zu folgender Einsicht: „Ein guter Arzt behandelt nicht sich selbst.“ Uns fehlt leicht der nötige Abstand, um mit Ruhe und Gelassenheit zu beurteilen, wie wir bestimmte Phasen unseres Lebens angehen sollen. Deshalb stellt Gott uns Menschen an die Seite, die uns helfen können, Licht in diese Phasen zu bringen. Wenn wir mit jemandem über unser Leben reden, der unser Vertrauen gewonnen hat, schafft das, wie Papst Franziskus sagte, „eine der schönsten und innigsten Formen der Kommunikation, (...). Es lässt uns bis dahin unbekannte Dinge entdecken, kleine und einfache Dinge – doch, wie es im Evangelium heißt, entstehen gerade aus den kleinen Dingen die großen Dinge.“4
In der geistlichen Führung finden wir die Begleitung durch einen Menschen, der uns vielleicht allein durch seine Anwesenheit oder die Weisheit seiner Erfahrung helfen kann, Gott und uns selbst besser zu kennen. Der heilige Josefmaria gab uns einen Ratschlag für solche Gespräche: „Wenn du dein Herz öffnest, bring zuerst das zur Sprache, wovon du nicht möchtest, dass es bekannt wird. Auf diese Weise wird der Teufel jedes Mal besiegt. Öffne die Tore deiner Seele sperrangelweit, sei ganz klar und einfach, damit die Sonne der Liebe Gottes sie bis in den letzten Winkel hinein erleuchten kann.“5
Die Hilfe der geistlichen Führung wird sich nicht immer in konkreten Vorschlägen für den Umgang mit einem Problem niederschlagen. Manchmal finden wir Licht, indem wir einfach aufrichtig sind, ein Anliegen in Worte fassen und demütig zugeben, dass wir Hilfe brauchen. Auch der heilige Josefmaria bemerkte nach vielen Jahren der Erfahrung des geistlichen Begleitens und Begleitetwerdens: „In aller Aufrichtigkeit hast du in der Gegenwart Gottes deinem Leiter das Herz ausgeschüttet ... Und es war wunderbar zu sehen, wie du von allein allmählich die rechten Antworten auf deine ,Ausweichmanöver‘ fandest.“6 Bitten wir Maria, dass sie uns jene Aufrichtigkeit gegenüber Gott, gegenüber uns selbst und gegenüber den anderen schenke, die uns immer einfachere Seelen werden lässt.
1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 326.
2 Ebd., Nr. 332.
3 Franziskus, Predigt, 29.4.2020.
4 Franziskus, Audienz, 19.10.2022.
5 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 126.
6 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 152.