Schmerz als Erfahrung

Obwohl der Schmerz im Leben eine der gewöhnlichsten Erfahrungen ist, werden wir immer wieder durch ihn überrascht und müssen lernen, uns den dadurch entstehenden neuen Umständen anzupassen.

Niemand kann sich als „Schmerzexperte“ betrachten. Schmerz hat immer seine Eigenart: je nach der Weise, wie er sich zeigt, nach seinen Ursachen und bezüglich der verschiedenen Reaktionen, die er auslöst. Oft sind wir mit schwerem Leiden konfrontiert, aus Motiven oder Gründen, die wir niemals erwartet hätten.

Der Heilige Vater Johannes Paul II schreibt: „Menschliches Leid bewirkt Mitleid, ruft auch Achtung hervor; auf seine Weise flößt es aber auch Furcht ein“. In ihm verbirgt sich die Größe eines spezifischen Mysteriums. „Der Mensch in seinem Leiden bleibt ein unberührbares Geheimnis“1.

Die hervorstechendste Besonderheit menschlichen Leidens ist es, existentielle Fragen aufzuwerfen. „In jedem einzelnen Leiden, das der Mensch erfährt, und zugleich an der Wurzel der gesamten Welt der Leiden taucht unvermeidlich die Frage auf: Warum? Es ist eine Frage nach der Ursache und dem Grund, eine Frage nach dem Zweck (wozu?) und letztlich immer eine Frage nach dem Sinn“2.

Wenn man an die Suche nach dem Sinn des Schmerzes herangeht, fragt sich der Mensch nach dem Sinn seines Daseins und versucht das Ausmaß und die Bedeutung seiner eigenen Freiheit auszuloten: „Kann ich den Schmerz zurückweisen? Kann ich vielleicht dem Schmerz gegenüber Distanz gewinnen oder ihn ausschalten? Der Schmerz macht die Vergänglichkeit des Lebens deutlich“3.

Diese menschliche Erfahrung treibt uns dazu, die Hilfe anderer zu suchen und auch unsererseits Hilfe anzubieten. Schmerzerfahrung lehrt uns, anderen Menschen mehr Beachtung zu schenken4. Beim Schmerz zeigt sich der Unterschied zwischen einer reifen und ausgeglichenen Persönlichkeit, die fähig ist, sich Hindernissen und schwierigen Situationen zu stellen, und einem Menschen, der sich von seinen eigenen Emotionen und Gefühlen treiben und fesseln lässt.

Die Wechselwirkung zwischen Schmerz und Liebe

Vergiss nicht, dass der Schmerz Prüfstein der Liebe ist.5. Diese klare, tiefschürfende Feststellung des heiligen Josefmaria Escrivá bezieht sich auf die unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten auf Schmerz.

Zwischen der Art, wie ein Mensch Schmerzen lebt und seiner Art zu lieben besteht eine Beziehung. Denn man akzeptiert Schmerzen nur, wenn man erfasst, dass deren Sinn in der Liebe liegt. Nur dann kann man dazu gelangen auszurufen: Gesegnet sei der Schmerz. – Geliebt sei der Schmerz. – Geheiligt sei der Schmerz ... Verherrlicht sei der Schmerz!6.

In den Schriften des heiligen Josefmaria erscheint das Geheimnis des Schmerzes immer wieder als Prüfstein. Er wandelt sich in eine Gelegenheit zur Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit Gott, der Mensch geworden ist, um uns zu lehren, wie man als Mensch leben soll.

Als Jesus Christus beschlossen hat Mensch zu werden, wollte er alles menschenmögliche Leid erfahren, um uns zu zeigen, dass die Liebe jede Art von Schmerz überwinden kann. An einer Stelle im Weg sagt der heilige Josefmaria: Der Apostel gibt uns ein ganzes Programm an die Hand, um die Schule des Leidens erfolgreich zu durchlaufen: »spe gaudentes«, fröhlich in der Hoffnung, »in tribulatione patientes«, geduldig in der Drangsal, »orationi constantes«, beharrlich im Gebet7.

Im Schmerz treffen die Freude in der Hoffnung und die Notwendigkeit des Gebets zusammen. Christen akzeptieren den Schmerz angesichts der Hoffnung künftigen Glücks. Sie sind sich ihrer Begrenztheit voll bewusst und vertrauen auf die Hilfe, die im Gebet von Gott erfleht wird.

Es handelt sich hier weder um die Überzeugung, dass man selbst imstande sei, die Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu überwinden, noch um die Einstellung eines Pessimisten, der meint, dass das Leiden die letzte und unvermeidbare Station am Lebensweg sei, vielmehr: Wenn dir klar ist, dass diese körperlichen und seelischen Schmerzen Läuterung und Verdienst bedeuten, dann segne sie8.

Das Leid ist wie eine Wegkreuzung, wie eine Zwischenstation, es ist niemals endgültiges Ende. Das Gebet wird so zu einem wichtigen Moment, an dem das Leiden seinen Sinn findet und sich mit der Gnade Gottes zu Frohsinn wandelt9.

Der läuternde Effekt des Gebetes wird Wirklichkeit, denn wann immer der Mensch betet, erfährt er Gottes Erbarmen, teilt mit Ihm seine Sorgen und Probleme und erhält zugleich ein nahezu fühlbares Zeichen seiner Liebe: Mein Gott, lehre mich lieben! - Mein Gott, lehre mich beten! 10.

Die Beziehung zwischen Schmerz und Liebe ist sehr eng. Alle, die lieben und sich im Feuer des Schmerzes formen, finden zur Freude11. „Die Liebe ist auch die reichste Quelle für die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Leidens“12.Der heilige Josefmaria pflegte zu sagen: Ich will, dass du auf der Erde glücklich bist. – Das wirst du aber nie, wenn du nicht die Angst vor dem Schmerz verlierst. Denn solange wir ‚unterwegs’ sind, liegt unser Glück gerade im Schmerz13. Das ist eine wirklich treffende Behauptung, die den Weg zum Glück aufzeigt, zum endgültigen Ziel des Menschen.

Aber zweifellos gibt es auf diesem Weg Zeiten, in denen die Erfahrung von Leid das Leben eines Menschen bestimmt. Dabei geht es nicht mehr darum, den Schmerz anzunehmen oder abzulehnen, sondern darum, zu lernen, dass das Leiden Teil unserer Existenz ist, wie ein Stück des göttlichen Planes für jeden von uns.

„Das Leiden ist auch ein Aufruf, die sittliche Größe des Menschen, seine geistige Reife zu bezeugen“14. Glücklicherweise kann der Mensch durch seine Freiheit und Vernünftigkeit schmerzhafte Ereignisse erfolgreich bestehen.

Damit das gelingt, muss er ein höheres Maß an persönlicher Reife erreichen. Das erzielt man aber weder durch Passivität, noch kann man es je als endgültig erreicht betrachten. Dazu ist es erforderlich, alle geistigen Fähigkeiten einzusetzen und eine geeignete Haltung anzunehmen. „Die Leidensfähigkeit (...) muss sich der Mensch erst erwerben“, wie Viktor Frankl sagt, was einen wichtigen Schritt im inneren Wachstum und auch „ein(en) Akt der Selbstgestaltung“15 darstellt.

Die heute weitgehende Unfähigkeit, sich dem physischen oder geistigen Schmerz und Leid zu stellen, kommt aus dem Fehlen einer „Leidenskultur“. Zunächst sind es die Eltern, die sich scheuen, ihren Kindern Opfer abzuverlangen. Die Folge davon ist, dass sie versucht sind, deren Wünschen immer sogleich zu entsprechen. Sie denken, dass die Zeit zu leiden später oder vielleicht gar nicht für sie kommt.

Es ist kaum zu erwarten, dass ein Mensch ein unvorhergesehenes Auftreten von massivem Schmerz überwinden kann, wenn er vorher keinerlei derartige Erfahrung gemacht hat. Solche Personen neigen mehr dazu, Nervenkrisen und Depressionen zu erleiden16.

Der heilige Josefmaria hat in seiner eigenen Familie viele leidvolle Erfahrungen durchgemacht und dadurch eine Reife erworben, die andere erst nach vielen Jahren erlangen. Sein Lebenslauf ist beispielhaft: er war selbst in seiner Kindheit todkrank, musste sich mit dem Tod von dreien seiner Schwestern auseinandersetzen, erlebte das durch eine Wirtschaftskrise hervorgerufene Leiden seines Vaters und sah sich gezwungen in eine andere Stadt zu ziehen, was eine völlige Änderung des Lebensstils zur Folge hatte.

Später hat er auch im Seminar viel Leid erfahren, Schmerzen, die ihn zu vielen Stunden Gebet vor dem Allerheiligsten gebracht hatten, wodurch er geistliche Reife erlangte. Die vielfachen inneren und äußeren Prüfungen, die ihm der Herr sandte, erforderten ein hohes Maß an Opfergeist. Dann kamen die Verfolgungen während der Gründung und des Aufbaus des Opus Dei. Dazu litt er auch noch an Diabetes, einer Krankheit, die ihm jahrelang immer wieder Erschöpfungszustände verursachte.

Man könnte fast sagen: Ihm blieb nichts erspart. Der heilige Josefmaria zeigte angesichts seiner eigenen Erfahrung immer Verständnis für Leid und Schmerzen anderer, nicht nur aus bloß theoretischem Wissen. Mutig stellte er sich dem Leiden aus dem Glauben und mit großer menschlicher und übernatürlicher Geduld.

Die Kranken sind ein Schatz

„Die Zeugen des Kreuzes und der Auferstehung Christi haben der Kirche und der Menschheit ein besonderes Evangelium vom Leiden überliefert. Der Erlöser selbst hat dieses Evangelium zuerst mit seinem eigenen Leiden geschrieben, das er aus Liebe auf sich genommen hat, damit der Mensch ‚nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat’. Dieses Leiden ist zusammen mit dem lebendigen Wort seiner Unterweisung zu einer reichen Quelle für alle jene geworden, die in der ersten Generation seiner Jünger und Bekenner und dann in den Generationen der nachfolgenden Jahrhunderte an den Leiden Jesu teilgenommen haben“17.

Der Heilige Vater Johannes Paul II ist der Auffassung, dass jene die leiden bevorzugte Protagonisten des Evangeliums vom Leiden sind, das Jesus Christus selbst mit seinem eigenen Leid zu schreiben begann. Jeder leidende Mensch ist mit seinem eigenen, persönlichen Leid Träger dieses Evangeliums. Es handelt sich um ein lebendiges Evangelium, das immer wieder neu geschrieben wird, und uns wirklich befähigt, in jedem einzelnen Leidenden Gott selbst zu erkennen.

In seiner Prophezeiung über das Endgericht sagt uns unser Herr: „Dann wird der König denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn (...) ich war krank und ihr habt mich besucht (...): Herr, (...) wann haben wir dich krank (...) gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“18.

Der heilige Josefmaria hat im Bewusstsein, dass die Kranken mit Christus zu identifizieren sind, immer versucht, den in seiner Nähe befindlichen Personen eine besondere Zuneigung zu den Kranken nahezubringen. Er hat ständig wiederholt, dass er Gott und die anderen mit dem gleichen Herzen liebt. Er verstand es, die anderen durch Gott zu lieben und die haben ihn ihrerseits näher zu Gott gebracht.

Die Kranken hatten einen besonderen Platz im Herzen des heiligen Josefmaria, da er in jedem von ihnen das Bild des leidenden Christus sah. Darum zog ihn jeder von ihnen auf geheimnisvolle und starke Weise zur Miterlösung hin.

Im Gebet betrachtete er sich selbst als einen der Apostel und wünschte dafür zu sühnen, dass er angesichts des Kreuzes die Flucht ergriff. Als Buße für jene Untreue, die das Leiden Jesu so sehr vermehrt hat, wünschte er, dass man die Kranken so zärtlich lieben soll, wie eine Mutter ihren Sohn liebhat, und dass man sie nie allein lassen soll.

Wenn einer meiner Söhne krank ist sage ich denen, die ihn zu pflegen haben immer: Meine Kinder, diesem Geschöpf soll nicht in den Sinn kommen, dass seine Mutter fern ist. Damit will ich aufzeigen, dass wir in solchen Augenblicken für diesen meinen Sohn, euren Bruder, wie eine Mutter sein sollen, und ihn so pflegen, wie das seine Mutter getan hätte. Und an anderer Stelle: Obwohl wir arm sind, dürfen wir nie bei der Pflege unserer kranken Brüder sparen. Wenn nötig, dann würden wir für sie ein Stückchen Himmel stehlen und der Herr würde uns das verzeihen19.

Kind. – Kranker. – Seid ihr nicht versucht, diese Worte ganz in großen Buchstaben zu schreiben? Für einen in Ihn verliebten Menschen sind die Kinder und die Kranken wirklich Er20. Er pflegte zu sagen: Die Kranken sind ein Schatz, denn, wenn man die Aszese lächelnd lebt – was der heilige Josefmaria so sehr schätzte -, dann kann der Kranke sein Leiden in Gebet verwandeln.

Auch für andere wird das zu einem Schatz, denn bei der Pflege praktizieren sie die Tugend der Liebe und bereichern sich dabei selbst, so dass die geleistete Pflege zum Besten wird, das sie anbieten können. Krankheit ist auch ein Schatz für die Kirche, denn jeder Kranke hat Anteil an der Passion unseres gekreuzigten Herrn21.

Wenn sich für einen Schwerkranken der Augenblick des persönlichen Treffens mit Gott nähert, dann nähert er sich diesem Zeitpunkt auf besondere Art. Dieses Zusammentreffen hat einen tiefgreifenden Reinigungseffekt und gleichzeitig bewirkt es Frieden.

Der stirbt. Da ist nichts mehr zu machen“ (...). - Es war vor Jahren, in einem Madrider Krankenhaus. Nach der Beichte reichte der Priester dem Kranken das Kruzifix zum Kusse. Doch der, ein Zigeuner, rief immer wieder – und er ließ sich nicht beschwichtigen – „Mit so einem verdreckten Mund darf ich den Herrn nicht küssen!“ „Aber du wirst ihn ja gleich umarmen und küssen, im Himmel!“ – Hast du je eine erschütterndere und zugleich herzlichere Art gesehen, Reue zu zeigen?22

Diese Episode aus dem Leben des Gründers ist ein ideales Resümee seiner Haltung angesichts von Tod und Leiden. Die Reinigungswirkung des Leidens jenes Zigeuners erreicht eine grenzenlose Dimension und zusammen mit der Gnade des Bußsakraments verliert der Tod seinen Schrecken. Er wandelt sich vielmehr in eine Gelegenheit, die der Glaube jedes Menschen erwartet: Gott nicht als Richter von Angesicht zu Angesicht sehen zu können, sondern als liebevollen Vater, der uns umarmen möchte.

Kontakt mit dem Schmerz im Rahmen des Berufes

Es ist nicht leicht, Tag für Tag mit der Lage von Leidenden konfrontiert zu sein und gleichzeitig das Interesse an ihren Problemen und ihrer Trauer wachzuhalten. Bei diesen Gegebenheiten besteht die Gefahr, dass der Umgang mit dem Leid zur Routine wird und man auf unpersönliche Art behandelt, um so vermeintlich den Alltag für das medizinische Personal in fälschlicher Weise zu erleichtern.

Es gibt sehr kompetente Krankenschwestern, die der Schmerz kaum noch berührt. Statt den Patienten in seiner Gesamtheit von Bedürfnissen als Mensch zu betrachten, konzentrieren sie ihre Sorge darauf, den klinischen Erfordernissen der Person zu entsprechen.

Auch die Ärzte sind oft der Gefahr ausgesetzt, die Patienten bloß pragmatisch zu betrachten und ihre Aufmerksamkeit auf Diagnose und therapeutische Möglichkeiten zu beschränken.

Abgesehen von den Kontakten mit den Kranken bei der Besprechung der Diagnose und der Festlegung der Therapie, bekommen die Patienten die Ärzte nicht zu Gesicht, weil diese von administrativen Aufgaben, Kursen, Besprechungen mit Kollegen oder Konferenzen in Anspruch genommen sind.

Die an einen Traumatologen gerichteten Worte des Gründers des Opus Dei sind bezeichnend. Der Arzt fragte, wie man in seinem Beruf die Routine vermeiden könne: Lebe die Gegenwart Gottes, so wie du das ohnehin schon tust. Gestern habe ich einen Kranken besucht, den ich mit väterlichem Herzen sehr liebe. Ich verstehe, welch großartige seelsorgliche Arbeit ihr Ärzte leistet. Aber sei nicht stolz darauf, denn eine priesterliche Seele hat jeder Mensch. Dieses Priestertum muss man ausüben! Wenn du dir die Hände wäschst, wenn man dir den weißen Schurz anlegt, wenn du die Handschuhe anziehst, denke an Gott und denke an das königliche Priestertum, von dem der heilige Petrus spricht. Dann wirst du die Routine vermeiden: Dann wirst du nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele Gutes tun23.

Die Arbeit von Ärzten und Krankenschwestern ist eine ununterbrochene und unantastbare Verwirklichung dessen, was unser Herr während seines Lebens auf Erden getan hat. Das zeigen seine Wunder: Blinde sehen, Stumme sprechen, Taube hören und Lahme gehen. Er heilte Epileptiker und Aussätzige und erweckte sogar Tote.

Wenn ein Arzt das Evangelium liest, kann ihm nicht entgehen, welch tiefes Mitleid Jesus empfand, wenn Er sich Kranken näherte, wie Er die Initiative ergriff, um sie zu treffen und wie Er immer auf ihre Bitten einging. Der Herr stellte allerdings eine Bedingung: Glauben, menschlichen und übernatürlichen Glauben an Ihn.

Als nach dem Bericht des Evangeliums ein Vater fragt, warum die Apostel seinen Sohn nicht heilen konnten, antwortet Jesus, dass das wegen ihres mangelnden Glaubens so war24. Zurzeit vergessen die Ärzte oft auf die grundlegende Notwendigkeit, zu ihren Patienten ein wirkliches Vertrauensverhältnis aufzubauen. Diese neigen nun dazu, mehr auf die Medikamente zu zählen, als dem zu vertrauen, der ihnen diese verschreibt. Die unzweckmäßige Bürokratisierung der ärztlichen Praxis kann allerdings das Vertrauensverhältnis in der Beziehung von Arzt und Patient zerstören und auf bloßen Austausch von Informationen und Ausstellung von Rezepten reduziert sein. An die Stelle der zwischenmenschlichen Verständigung tritt die Statistik.

Der heilige Josefmaria Escrivá erinnerte die Ärzte an die einmaligen Möglichkeiten, die sich aus der persönlichen Beziehung zu den Patienten ergeben und ermutigte sie, in ihrer Arbeit die Routine zu meiden. Er drängte sie, ihr Herz mit dem Herzen Gottes in Einklang zu bringen. Dabei handelte es sich nicht um Sentimentalität, sondern um die feste Überzeugung, dass man den Beruf des Arztes nicht wie jeden beliebigen anderen ausüben kann, auch nicht aus bloßem wissenschaftlichen Interesse.

Als ihn einmal einige Krankenschwestern fragten, wie sie in ihrer Arbeit besser werden könnten, antwortete er: Wir brauchen viele christliche Krankenschwestern. Denn eure Arbeit ist priesterlich, viel mehr als die der Ärzte. Ich habe ‚viel mehr’ gesagt, denn ihr habt den taktvollen Umgang (...) mit dem Patienten und seid immer in seiner Nähe. (...). Krankenschwester zu sein, ist, glaube ich, eine besondere christliche Berufung. Zur Vervollkommnung dieser Berufung ist eine gute Fachausbildung erforderlich und außerdem braucht es sehr viel Feingefühl25.

Bei einer anderen Gelegenheit führte er diesen Gedanken noch mehr aus: Gott segne euch! Denkt, dass euer Einsatz der heiligen Familie in Nazareth gilt und dass der Kranke Christus ist (...) oder die Gottesmutter. Behandelt sie mit Liebe, Sorgfalt und Feingefühl. Es soll ihnen an nichts fehlen; vor allem nicht an spiritueller Begleitung (...). Ich bete für euch, denn ich bedenke, wie viel Gutes und wie viel Schlechtes ihr machen könnt. Zu einer (in geistlichen Dingen) gebildeten Person kann man in klaren Worten (...) über ihren Zustand sprechen. Wenn das aber nicht der Fall ist, müsst ihr jede Gelegenheit wahrnehmen, um ihnen zum Empfang des Bußsakraments und der Kommunion zu verhelfen (...). Irgendwann kommt der Augenblick, wo der kranke Mensch wünscht, dass man ihm sagt, dass er in den Himmel kommt. Ich kenne selbst einige sehr schöne Beispiele26.

Der heilige Josefmaria wies des Öfteren eindringlich auf die priesterliche Dimension dieser Arbeit hin: Es beeindruckt mich immer wieder, wenn man mir etwas sagt, was viele von euch durchgemacht haben. Den Ärzten bleibt nichts anderes übrig, als das zu tun, was ein Beichtvater macht, aber auf der sachlichen, materiellen Ebene. Hier dürfen sich die Ärzte nicht nur um den physischen Zustand ihrer Patienten sorgen, sondern auch um den der Seelen27.

Das berufliche Prestige als eine Art der Verherrlichung Gottes

Der Gründer des Opus Dei wusste, wie man die allgemeine Berufung zur Heiligkeit im medizinischen Bereich anwenden kann. Um in der Arbeit die Heiligkeit zu suchen, muss man diese perfekt und mit beruflicher Kompetenz ausführen. Dem, der gelehrt sein kann, verzeihen wir nicht, wenn er es nicht ist.28.Heiligkeit: ein Mosaik aus unzähligen Steinchen großzügiger Hingabe.- Unsere Aufgabe mit Beständigkeit bis zum letzten erfüllen, und das Tag für Tag mit Beständigkeit, darin besteht der Heroismus, der von uns bei der Arbeit verlangt wird. Einen anderen Weg, heilig zu werden, gibt es für uns nicht29.

Der heilige Josefmaria bezog sich auch häufig auf das Erfordernis, dass der Arzt eine priesterliche Seele haben soll. Du begreifst immer mehr, sagst du, was "priesterliche Seele" bedeutet... Sei mir wegen meiner Antwort nicht böse: Deinem Handeln nach zu urteilen, begreifst du es nur in der Theorie. Denn jeden Tag ergeht es dir gleich: bei der abendlichen Gewissenserforschung lauter gute Wünsche und Vorsätze; aber bei deiner Arbeit, morgens und nachmittags, lauter Einwände und Ausreden. - Lebst du so das "heilige Priestertum, um geistige Opfergaben darzubringen, die Gott durch Jesus Christus wohlgefällig sind?“30.

Er verstand auch den Zusammenhang zwischen Heiligkeit und intellektuellen Interessen: Wenn es dir zukommt, Gott mit deinem Verstand zu dienen, ist Studieren für dich eine ernste Verpflichtung31. Und: Lege ein übernatürliches Motiv in deine alltägliche Berufsarbeit, und du hast deine Arbeit geheiligt32.

Und wiederum wandte sich der heilige Josefmaria an die Ärzte und sagte: „Macht es Ihm (Christus) nach; auf diese Weise werdet ihr Tag für Tag mehr geläutert, christlicher; nicht nur gelehrter als sogar ein Experte, sondern vielmehr wie einer der Jünger Christi“33.

Der heilige Josefmaria empfahl den Krankenschwestern und Ärzten, ihre Arbeit mit der eines Priesters zu vergleichen. Er bezeichnete deren Arbeit als heilige Sendung, weil sie den Leidenden so nahe sind, die Abbild Christi am Kreuz sind. Ihre Zuneigung und Achtsamkeit erinnern an die in seinem irdischen Leben gezeigte mitfühlende Liebe Jesu zu den Kranken.

Aus diesen Gründen bezog sich der heilige Josefmaria deutlich auf die Notwendigkeit, die Berufung zum Arzt und zur Krankenschwester mit einer wahrhaft professionellen Haltung zu leben, mit wissenschaftlicher Sachkenntnis, mit der liebevollen Sorge einer Mutter und mit menschlicher und übernatürlicher Hoffnung.

Krankheit zu verstehen ist äußerst schwierig, wenn man ihre Last nicht wenigstens ein Mal im eigenen Leben durchgemacht hat, wenn man nicht solche Augenblicke erlebt hat, in denen man versucht ist in Zorn oder Ablehnung zu verfallen.

Der heilige Josefmaria konnte so klar und liebevoll über Leiden und Schmerz sprechen, weil er es in seinem eigenen Leben erfahren hat. Gerade deshalb konnte er Leiden und Schmerz begegnen, weil er an die Liebe Gottes glaubte. Sein Gottvertrauen war wie das Vertrauen eines Kleinkindes zu seinem Vater. Er vermittelte diese Haltung deutlich in seiner Predigt und sein Handeln war ebenso klar wie seine Worte. Wer immer sich an den heiligen Josefmaria wendet, um ihm Schmerz und Trauer anzuvertrauen, wird lernen, Gott sein Leid anzuvertrauen.


Dieser Artikel von P. Binetti wurde ursprünglich im Jahr 2002 publiziert.

1 Johannes Paul II, Ap. Schr. Salvifici doloris, 11.2.1984, Nr. 4.

2 Ebd. Nr. 9.

3 C.S. Lewis, Diario di un dolore, Milano 1990, S. 40; Vgl. Ders., Über den Schmerz, München 1978, S. 20ff und S. 93.

4 Vgl. Im Feuer der Schmiede, Nr. 987.

5 Der Weg, Nr. 439.

6 Der Weg, Nr. 208.

7 Der Weg, Nr. 209.

8 Der Weg, Nr. 219.

9 Vgl. Salvifici doloris, Nr. 18.

10 Im Feuer der Schmiede, Nr. 66.

11 Vgl. Im Feuer der Schmiede, Nr. 816.

12 Salvifici doloris, Nr. 13.

13 Der Weg, Nr. 217.

14 Salvifici doloris, Nr. 22.

15 Viktor Frankl, Der leidende Mensch (Kapitel Homo patiens), 4. Aufl., Bern 2018, S. 203.

16 Vgl. Ebd., S. 23 und 150 („innere Reifungskrise“).

17 Salvifici doloris, Nr. 25.

18 Mt 25,34-41.

19 G. Herranz in En memoria de Mons. Josemaría Escrivá de Balaguer, S. 164. (Aus: „Ohne Furcht vor dem Leben und ohne Furcht vor dem Tod“. An Ärzte und Kranke gerichtete Worte von Mons. Josemaría Escrivá de Balaguer y Albas“, S. 133).

20 Der Weg, Nr. 419.

21 Vgl. P. Urbano, El hombre de Villa Tevere, Barcelona 1994, S. 235.

22 Der Kreuzweg, III, 3.

23 Vgl. G. Herranz, aus Memoria ..., cit., S. 158-159.

24 Vgl. Mt 17,14-20.

25 G. Herranz, aus Memoria ..., cit., S. 159.

26 Ebd. S. 161.

27 Ebd. S. 159.

28 Der Weg, Nr. 332.

29 Die Spur des Sämanns, Nr. 529.

30 Die Spur des Sämanns, Nr. 499.

31 Der Weg, Nr. 336.

32 Der Weg, Nr. 359.

33 G. Herranz, aus Memoria ..., cit., S. 160.

P. Binetti