Liebe Schwestern und Brüder!
Im Gleichnis vom Sämann (Mt 13,1-9) spricht Jesus davon, dass die Saat teils auf den Weg fällt, wo sie dann von den Vögeln gefressen wird, teils auf felsigen Boden, auf dem sie keine Wurzeln fassen kann, und so bald verwelkt und verdorrt, teils unter Dornen, unter denen die Saat erstickt. Ein anderer Teil fiel auf guten Boden und brachte Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach. - Die Schriftauslegung der Kirchenväter und auch des Mittelalters hat dieses Gleichnis auf Weisen der Heiligkeit und auf Stände der Kirche hin gedeutet. Von einer dreifachen Vollkommenheit ist die Rede, einer höheren Form, einer mittleren und einer minderen. Hundertfache Frucht bringen die Märtyrer, sechzigfache die Jungfrauen und die Asketen, dreißigfache vielleicht noch die Verheirateten[1]. Die Märtyrer galten nach den Aposteln als der Prototyp der Heiligkeit, von dem her alle anderen gemessen wurden. Jungfräulichkeit, Askese oder auch die Pflege von Pestkranken wurden als unblutiges Martyrium verstanden. Der berufliche Alltag, die tagtäglichen Mühen in der Ehe konnten nur im Kontext eines minderen Christentums verstanden werden. Kein Wunder, dass die Rede von Heiligkeit in den Verdacht kam, den Großteil der Christen zu vernachlässigen oder als minderwertig zu betrachten.
Wohl hat das Vatikanum II die allgemeine Berufung zur Heiligkeit wieder in die Erinnerung gerufen. Bewusst wird diese Berufung im 5. Kapitel der Kirchenkonstitution vor die einzelnen Ausprägungen, z.B. im Ordensleben gesetzt.
Daher sind in der Kirche alle, mögen sie zur Hierarchie gehören oder von ihr geleitet werden, zur Heiligkeit berufen gemäß dem Apostelwort: „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung“ (1 Thess 4,3; vgl. Eph 1,4). Diese Heiligkeit … drückt sich vielgestaltig in den Einzelnen aus, die in ihrer Lebensgestaltung zur Vollkommenheit der Liebe in der Erbauung anderer streben. ... Jedem ist also klar, dass alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen sind. Durch diese Heiligkeit wird auch in der irdischen Gesellschaft eine menschlichere Weise zu leben gefördert.[2]
Zudem sieht die Pastoralkonstitution des Konzils vom Geheimnis der Inkarnation her keinen Bereich des Lebens, der Kultur und der Gesellschaft als wertneutral gegenüber dem Reich Gottes[3]. - Ich glaube nicht, dass ich die nachkonziliare Entwicklung falsch einschätze, wenn ich meine, dass die oben angeführten Abschnitte des Konzils wenig im kirchlichen Allgemeinbewusstsein rezipiert wurden. Die Unbeholfenheit gilt für das Verständnis von Heiligkeit, aber auch und im Besonderen für die Rede von Berufung und Gnade. Und teilweise war es mehr ein frommer Wunsch als Wirklichkeit, das Evangelium in die Wirtschaft, in die Kultur, in die Wissenschaft einzupflanzen. Man wusste eher negativ und kritisch, was das nicht heißt. Das Verständnis von Christentum und Glaube hat sich nicht selten in eine abstrakte Allgemeinheit verflüchtigt. Wo der Glaube auf ein Postulat der Moral, auf ein Prinzip der Individuation oder auch auf das Politische reduziert wird, da geht er meist eher unheilige Allianzen mit dem Zeitgeist, mit Moden oder Strömungen ein. Der Preis dafür war letztlich die Angleichung des Evangeliums an das bürgerliche Bewusstsein. Die billige Gnade der Religion wurde in eine private Innerlichkeit gesperrt.
Anlässlich der Seligsprechungsfeier von Josefmaria Escrivá in Rom (17. Mai 1992) sagte Johannes Paul II.: „Mit übernatürlichem Weitblick verkündete der Selige Josefmaria unermüdlich die universale Berufung zur Heiligkeit und zum Apostolat. Christus ruft alle auf, sich in der Wirklichkeit des täglichen Lebens zu heiligen.“ Anlässlich der Heiligsprechung, am 6. Okt 2002 sagte Johannes Paul II.: „Die Welt zu Gott emporheben und sie von innen her verwandeln: das ist das Ideal, das euch … der heilige Gründer vor Augen führt. ... Folgt seinen Spuren und verbreitet in der Gesellschaft das Bewusstsein, dass wir alle, unabhängig von Rasse, Klasse, Kultur oder Alter zur Heiligkeit berufen sind. Bemüht euch vor allem selbst darum, heilig zu sein, indem ihr euch im Sinne des Evangeliums in Demut und Hingabe übt, auf die göttliche Vorsehung vertraut und beständig auf die Stimme des Geistes hört.“
Anlässlich der Seligsprechung bei einer Danksagungsmesse in der Apostelkirche zu Rom, am 19. Mai 1992 sagte Joseph Kardinal Ratzinger: „Der Wille Gottes ist im letzten ganz einfach und in seinem Kern für alle der gleiche: Heiligkeit. Und Heiligkeit bedeutet ... Christus ähnlich werden. Josefmaria Escrivá hat dies als einen Ruf nicht nur an sich selbst betrachtet, dass er sich heilige, sondern vor allem als einen Auftrag für die anderen: Mut zur Heiligkeit zu geben, Christus eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern zu sammeln. Das Wort heilig hatte im Lauf der Zeit eine gefährliche Einengung erfahren, die wohl auch heute noch immer wirksam ist. ... Aus dieser geistlichen Apathie hat Josefmaria Escrivá aufgerüttelt: Nein, Heiligkeit ist nicht das Ungewöhnliche, sondern das Gewöhnliche, das Normale für jeden Getauften. Sie besteht nicht in irgendwelchen unnachahmlichen Heroismen, sie hat tausend Gestalten; sie kann an jeder Stelle und in jedem Beruf verwirklicht werden. Sie ist das Normale; sie besteht darin, das gewöhnliche Leben auf Gott hin zu leben und es mit dem Geist des Glaubens zu durchformen.“
Josefmaria Escrivá steht damit in der großen spirituellen Tradition der Kirche: der hl. Benedikt ermahnt die Handwerker unter den Mönchen, „damit in allem Gott verherrlicht werde.“ (Regula Benedicti 57,9) Ignatius von Loyola fordert die Scholastiker auf, sich darin zu üben, „die Gegenwart Gottes unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, z.B. im Sprechen, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Denken, überhaupt in allem was sie tun.“ (Monumenta Ignatiana I, 506-513) Teresa von Avila lebt aus der Freundschaft mit Jesus. So hat sie die Freiheit des Geistes, „Gott in allen Dingen zu finden und an alles denken zu können.“ Eines der köstlichsten Worte der großen Teresa ist: „Also meine Töchter, es gibt keinen Grund zum Traurigsein …, denn wisst, dass, falls es sich um die Küche handelt, der Herr auch zwischen den Kochtöpfen zugegen ist und uns bei unseren inneren und äußeren Fähigkeiten hilft.“ (Teresa von Avila, Innere Burg, 6. Wohnung)
Josefmaria Escrivá hat seine Taufberufung radikal gelebt. Das rein Menschliche wird zum Ort und zum Mittel seiner Heiligung. „Den Männern und Frauen im Büro und im Laden, in der Zeitungsredaktion und auf dem Lehrstuhl, im Bergwerk und auf dem Lande - allen möchte ich zurufen, dass sie - gestärkt durch ihr inneres Leben und durch die Gemeinschaft der Heiligen - Gott in alle Bereiche des Lebens hineintragen sollen. Es ist die Lehre des Apostels Paulus: Verherrlicht also Gott in eurem Leib, in eurem ganzen Leben, tragt Ihn immer bei euch!“ (Im Feuer der Schmiede, Nr. 945) „Im Gewühl der Straße, im Büro, in der Fabrik, dort heiligt man sich, wenn man seine eigenen Pflichten sachgerecht erfüllt, aus Liebe zu Gott und mit Freude, so dass die tägliche Arbeit nicht zur täglichen Tragik, sondern zu einem täglichen Lächeln wird.“ (Informationsblatt Nr. 3, 4)
Wir hörten in der 1. Lesung, aus dem Buche Genesis: „Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und behüte.“ (Gen 2,15). Der Mensch ist also geschaffen damit er arbeite und so den Plan des Schöpfers erfülle und dadurch Gott verherrliche; das ist sein Ziel und so strebt er zu Gott, zur Heiligkeit. Alles ist Mittel zur christlichen Vollkommenheit: Jede Handlung, jede Arbeit, solange wir Gott zu gefallen suchen. „So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind." (Rom 8,16).
„Mich begeistert der Gedanke an so viele Christen, Männer und Frauen, die in aller Schlichtheit ihr alltägliches Leben führen, und dort - vielleicht sogar, ohne es sich besonders vorgenommen zu haben - mit allen Kräften danach streben, den Willen Gottes zu erfüllen. In diesen Christen das Bewusstsein für die Erhabenheit ihres Lebens zu wecken, ihnen zu zeigen, dass das scheinbar Bedeutungslose einen Wert für die Ewigkeit besitzt, und sie zu lehren, aufmerksamer auf die Stimme Gottes zu horchen, die aus den konkreten Umständen und Ereignissen des Lebens zu ihnen spricht, das ist es, was der Kirche von heute dringend Not tut, das ist es, wozu Gott sie drängt. Die Aufgabe der Christen besteht darin, die ganze Welt von innen her zu verchristlichen und so zu zeigen, dass Jesus Christus die ganze Welt erlöst hat."[4]
Im Tagesgebet haben wir uns an den Herrn, unseren Gott, gewandt: „Gewähre uns auf seine Fürsprache und nach seinem Vorbild, dass wir durch unsere tägliche Arbeit Jesus Deinem Sohn ähnlich werden...“ Gemeint ist jede Arbeit, denn sie soll Weg der Heiligung sein, eine gut getane Arbeit, nach dem Beispiel unseres Herrn Jesus Christus, von dem seine Landsleute sagten: „Er hat alles gut getan!“
Es geht zum einen also um die Selbstevangelisierung, um die Umkehr und Heiligung, die alle Dimensionen des Lebens, die leiblichen, die biographischen, die kommunikativen und die spirituellen Dimensionen umfasst. Die andere Richtung ist die Heiligung der Welt, der Kultur, der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft. „Wir aber nehmen alles Denken gefangen, sodass es Christus gehorcht.“ (2 Kor 10,5) Diese Einpflanzung des Evangeliums in die Kultur ist verbunden mit der Gabe der Unterscheidung der Geister. Es gibt ja eine berechtigte Autonomie der irdischen Wirklichkeiten (Gaudium et spes 36) und der Geist Gottes ist ein Geist der Freiheit (2 Kor 3,17). Freiheit ist freilich nicht nominalistisch im willkürlichen Sinn zu verstehen, nicht als titanischer Wille zur Macht. Im Sinne von Thomas von Aquin ist die Freiheit eingebunden in einen Ordo der Liebe und der Weisheit. Ziel der Evangelisierung der Gesellschaft ist eine Kultur des Lebens, eine Zivilisation der Liebe.
Der Herr bat den Apostel Petrus: „Fahr hinaus auf den See und werft eure Netze zum Fange aus" - haben wir im Evangelium der Messe gehört (Lk 5,5). Nach dem großen wunderbaren Fischfang sagte Er ihm: „Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen" (Lk 5, 11). Mit diesen Worten wies Jesus auf den späteren Auftrag hin den alle Apostel erhalten würden: „Geht in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Völkern.“ Das ist auch der Auftrag den alle Christen erhalten haben: an der Welterlösung und Heiligung mitzuwirken.
„Weil Du mich anschaust und liebst, deshalb bin ich.“ (Nicolaus Cusanus, De visione Dei) Heilige sind von Gott her angesehen. Sie geben dem Evangelium ein Gesicht.
Manfred Scheuer, Bischof von Innsbruck
[1] Thomas von Aquin, Super Evangelium S.Matthaei Lectura (ed. Marietti) Romae 1951, n.1053.
[2] Lumen gentium 39-40 (DH 4165).
[3] Gaudium et spes 22 (DH 4322).
[4] Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Nr. 112, Adamas Verlag, Köln 1969.