ZUR ZEIT Jesu war es üblich, dass die Synagogenvorsteher die Kinder segneten; das Gleiche geschah zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Lehrern und Schülern. So erschien es den Menschen ganz natürlich, ihre Kinder zum Meister zu bringen, damit er sie segnete. Den Jüngern schien dieses gute Ansinnen jedoch unangebracht. Möglicherweise sahen sie darin eine Störung, die es zu verhindern galt, und wiesen daher jene zurecht, die versuchten, ihre Kinder Christus zu nähern. Doch wie Markus berichtet, wurde Jesus unwillig, als er das sah, und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen (Mk 10,13-15).
Wir können die Bedeutung dieser Aussage erst ermessen, wenn wir bedenken, dass Kinder in der Antike wenig zählten. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, dass man von ihnen lernen konnte. Jesus vertrat die gegenteilige Ansicht. In seinem Brief an die Kinder betonte Johannes Paul II. daher: „Wie wichtig ist in den Augen Jesu das Kind! Man könnte geradezu sagen, das Evangelium ist tief durchdrungen von der Wahrheit über das Kind. Ja, man könnte es sogar in seiner Ganzheit als das ,Evangelium des Kindes‘ lesen. Was heißt denn: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen? Stellt Jesus nicht vielleicht das Kind als Vorbild auch für die Erwachsenen hin? Im Kind gibt es etwas, das in einem, der in das Himmelreich kommen will, nie fehlen darf. Für den Himmel sind alle bestimmt, die einfältig sind wie Kinder, alle, die wie sie von vertrauensvoller Hingabe erfüllt, voller Güte und Reinheit sind.“1 Und der heilige Josefmaria riet: „Suche nicht, erwachsen zu sein. – Kind, immer Kind. Deine traurige tägliche Erfahrung ist voll von Straucheln und Stürzen. Was würde aus dir werden, wenn du nicht jedesmal mehr Kind wärest? Suche nicht, erwachsen zu sein. – Sei Kind, und wenn du strauchelst, möge dich die Hand deines himmlischen Vaters aufheben.“2
„WIR LEBEN in einem Jahrhundert der Erfindungen“, schrieb die heilige Thérèse von Lisieux am Ende des 19. Jahrhunderts. „Man muss sich jetzt nicht mehr die Mühe machen, die Stufen einer Treppe hinaufzusteigen. In den Häusern der Reichen ersetzt ein Lift auf sehr vorteilhafte Weise die Stiege. Auch ich wollte einen Lift entdecken, der mich zu Jesus hinauftrüge, denn ich bin zu klein, um die steile Stufenleiter der Vollkommenheit hinaufzuklettern. Da habe ich in der Heiligen Schrift nach einem Hinweis auf den Lift gesucht, das Objekt meiner Begierde, und las diese Worte, die aus dem Mund der ewigen Weisheit selbst hervorgegangen waren: Ist jemand ganz klein, der komme zu mir (Spr 9,4).“3
Sich klein machen – ein Weg der Heiligkeit, den Gott die heilige Thérèse vom Kinde Jesu entdecken ließ. Sie schrieb weiter: „Immer war es mein Wunsch, heilig zu werden. Aber ach, wenn ich mich mit den Heiligen verglich, stellte ich stets fest, dass zwischen ihnen und mir derselbe Unterschied bestand, wie wir ihn in der Natur zwischen einem Berge sehen, dessen Gipfel in die Wolken hineinragt, und dem unbeachteten Sandkorn, das die Passanten mit Füßen treten. Anstatt aber den Mut zu verlieren, sagte ich mir: Der liebe Gott kann keine unausführbaren Wünsche eingeben. Daher darf ich, trotz meiner Kleinheit, nach der Heiligkeit streben.“4
Der Gründer des Opus Dei machte in seinem Leben eine ähnliche Erfahrung. Auch er entdeckte in der „geistlichen Kindschaft“ einen großen und trostreichen Weg zu Gott und widmete ihr in seinem Buch „Der Weg“ ein eigenes Kapitel. Auch er wusste sich vor Gott stets als Kind, das sich in den Armen seines himmlischen Vaters geborgen weiß. So berichtet er etwa: „Mein Gebet war immer dasselbe, nur der Ton wechselte je nach Situation. Stets sagte ich zum Herrn: Herr, du hast mich hierhergestellt, du hast mir dies oder jenes anvertraut – und ich vertraue auf dich. Ich weiß, dass du mein Vater bist, und ich habe immer gesehen, dass kleine Kinder sich auf ihre Väter vollkommen verlassen.“5 Und er empfahl: „Möget ihr wirklich Kinder sein! Je mehr, desto besser (...). Lasst in euch den Hunger, das Verlangen wachsen, wie Kinder zu sein. Seid überzeugt, dass dies die beste Art ist, den Stolz zu besiegen. Zweifelt nicht daran, dass dies das einzige Mittel ist, damit unsere Handlungsweise gut, groß, göttlich ist.“6
„WEG DER KINDSCHAFT“, lesen wir in „Der Weg“: „Sich überlassen. – Geistliches Kindsein. – Dies alles ist nicht läppisch, sondern starkes und festes christliches Leben.“7 Vor Gott wie ein Kind zu sein, hat nichts mit Sentimentalität oder kindischem Wesen zu tun, sondern „verlangt einen starken Willen, eine ausgewogene Reife, einen festen und offenen Charakter“8. Die geistliche Kindschaft ist, so sagte Papst Johannes Paul II., „die Geisteshaltung derjenigen, die zu einer Ganzhingabe an den Willen Gottes gelangen wollen.“9
Wer sich auf diesen Weg begibt, muss sich in seinem Inneren darauf ausrichten, die Gaben Gottes anzunehmen und die Tugenden des Kindes zu erlernen. Dies ist nur möglich, wie der heilige Josefmaria sagte, „wenn wir den Hochmut und die Selbstgenügsamkeit aus unserem Herzen verbannen; wenn wir anerkennen, dass wir aus uns allein nichts vermögen, sondern der Gnade Gottes und der Kraft unseres himmlischen Vaters bedürfen, um unseren Weg zu entdecken und ihn beharrlich zu gehen. Klein sein bedeutet, sich überlassen wie die Kinder, glauben wie die Kinder, bitten wie die Kinder.“10
„Dies alles können wir von Maria lernen“, fuhr er fort. „Sie zu verehren, ist daher nicht unmännlich. Es bedeutet Trost und Jubel, die die Seele erfüllen. Denn in dem Maße, als ihre Verehrung einem tiefen und ganzen Glauben entspringen, befreit sie uns von uns selbst und lässt uns unsere Hoffnung auf den Herrn setzen. (...) Gerade weil Maria Mutter ist, lernen wir, wenn wir sie verehren, wie Kinder zu sein.“11
1 Hl. Johannes Paul II., Brief an die Kinder, 13.12.1994.
2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 870.
3 Hl. Theresia von Lisieux, 9. Kapitel (Manuskript C, 2v. 3r).
4 Ebd.
5 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 143.
6 Ebd., Nr. 147.
7 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 853.
8 Ders., Christus begegnen, Nr. 10.
9 Hl. Johannes Paul II., Ansprache, 7.10.2002.
10 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 143.
11 Ebd.