JESUS steht auf einer weiten Ebene, umringt von einer großen Menschenmenge, die aus ganz Judäa, Jerusalem und sogar von der Küste von Tyrus und Sidon gekommen ist. Eine Atmosphäre gespannter Erwartung liegt in der Luft – alle wollen ihn sehen, seine Worte hören. Niemand bleibt unberührt, als er zu sprechen beginnt: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausstoßen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes willen. Freut euch und jauchzt an jenem Tag; denn siehe, euer Lohn im Himmel wird groß sein (Lk 6,20-23).
Seit Jahrhunderten verändert Jesu Botschaft das Leben von Menschen – seine Worte, niedergeschrieben in der Heiligen Schrift, bleiben zeitlos und universell. Die Seligpreisungen offenbaren eine tiefgreifende Wahrheit: Gott ist uns nahe, gerade in Schmerz, Hunger, Leid und Verfolgung. Der Herr bleibt bei dem, der allein ist – er lässt ihn nicht im Stich. „Seine Gegenwart ist das Gegenmittel gegen die Angst, das Leben allein tragen zu müssen.“1
Die Seligpreisungen enthalten aber auch noch eine zweite Botschaft. Papst Benedikt XVI. bezeichnete sie als „ein neues Lebensprogramm, um sich von den falschen Werten der Welt zu lösen und sich für die wahren Güter in Gegenwart und Zukunft zu öffnen“2. Jesu Lehre kommt von demjenigen, der das Leben selbst ist – nur sie kann das Verlangen unseres Herzens nach Authentizität und Wahrheit vollständig erfüllen.
DURCH DIE WORTE Jesu eröffnet sich uns ein geheimnisvoller Weg zum wahren Leben – ein Weg, der mit tiefem, erfüllendem Glück einhergeht. Die Belohnung, die dieser Weg verheißt, ist weit größer ist als alles, was andere Vorhaben oder Lebensentwürfe versprechen mögen, so gut und sinnvoll sie auch sein mögen. Allerdings: „Die verheißene Seligkeit stellt uns vor wichtige sittliche Entscheidungen“, mahnt der Katechismus. „Sie lädt uns ein, unser Herz von bösen Trieben zu läutern (...), Gott über alles zu lieben. Sie lehrt uns: Das wahre Glück liegt nicht in Reichtum und Wohlstand, nicht in Ruhm und Macht, auch nicht in einem menschlichen Werk ‒ mag dieses auch noch so wertvoll sein wie etwa die Wissenschaften, die Technik und die Kunst – und auch in keinem Geschöpf, sondern einzig in Gott, dem Quell alles Guten und aller Liebe.“3
Ein Lehrer fragte den heiligen Josefmaria einmal, wie er seine Schüler zur wahren Freiheit führen könne. Dem Gründer des Opus Dei war klar, dass der Fragende genau Bescheid wusste, nützte die Gelegenheit aber gerne, um über die innere Freiheit zu sprechen: „Ich weiß, dass du die Kinder lehrst, dass unsere Freiheit von Christus am Kreuz erlangt wurde und die Befreiung nicht eine Befreiung von Schmerz, Widrigkeiten, Verleumdung, übler Nachrede oder Armut ist. (...) Ein Christ lehnt sich nicht auf gegen die Armut, er nimmt sie an; er lehnt sich nicht auf gegen die Arbeit, er nimmt sie an; er lehnt sich nicht auf gegen die Autorität, er nimmt sie an; er lehnt sich nicht auf gegen die Krankheit, er nimmt sie an; er lehnt sich nicht auf gegen die Eltern, er nimmt sie an und liebt sie; auch nicht gegen die Lehrer, die eine väterliche und zugleich mütterliche Arbeit leisten.“4
Dieses ,Annehmen‘ ist nicht passive Resignation – kein Sich-Abfinden mit etwas, das man nicht will und nicht versteht. Im Gegenteil, es ist die Haltung eines Menschen, der auf Gott Vater vertraut und weiß, dass er in all diesen Situationen auf geheimnisvolle Weise gegenwärtig ist. Auch wenn sich manches nicht ändern lässt, kann man es mit der gleichen Gelassenheit annehmen, mit der Jesus das Kreuz auf sich nahm – um uns alle zu erlösen. Das Glück, das die Seligpreisungen verheißen, hat „kruezförmige“5 Wurzeln.
DIE GEWISSHEIT von Gottes Liebe lässt uns auch in den schwierigsten Augenblicken des Daseins auf seine väterliche Vorsehung vertrauen. Ein solches grenzenloses Vertrauen, selbst in Zeiten der Prüfung, drückt die heilige Theresia von Jesus in berühmt gewordenen Worten aus: „Nichts verwirre dich. Nichts erschrecke dich. Alles geht vorüber. Gott ändert sich nicht. Die Geduld erreicht alles. Wer Gott besitzt, dem mangelt nichts. Gott allein genügt.“6
Die Heilige Schrift bietet uns ein eindrucksvolles Beispiel für diese vollkommene Hingabe an Gott im alten Abraham, der sich auf Gottes Geheiß bereit machte, seinen Sohn Isaak zu opfern – und das obwohl ihm Gott eine große Nachkommenschaft verheißen hatte. In Wirklichkeit wollte Gott nicht den Tod des Sohnes, sondern den Glauben des Vaters. Abraham beweist diesen im vollen Sinn, denn als Isaak ihn fragt, wo das Lamm für das Brandopfer sei, wagt er ihm zu antworten: Gott wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen (Gen 22,8). Gleich darauf erfährt er die wohlwollende Vorsehung Gottes, der den Knaben rettet und den Glauben des Vaters mit der Fülle seines Segens belohnt.
Der Katechismus der Kirche bezeichnet das Vertrauen auf Gott, den Glaube an ihn als einen wahrhaft menschlichen Akt: „Es widerspricht weder der Freiheit noch dem Verstand des Menschen, Gott Vertrauen zu schenken und den von ihm geoffenbarten Wahrheiten zuzustimmen. Schon in den menschlichen Beziehungen verstößt es nicht gegen unsere Würde, das, was andere Menschen uns über sich selbst und ihre Absichten sagen, zu glauben, ihren Versprechen Vertrauen zu schenken und so mit ihnen in Gemeinschaft zu treten. (...). Folglich verstößt es erst recht nicht gegen unsere Würde, dem offenbarenden Gott im Glauben vollen Gehorsam des Verstandes und des Willens zu leisten (...) und so in enge Gemeinschaft mit ihm zu treten.“7
Die Seligpreisungen laden uns zu diesem Vertrauen und dieser Gemeinschaft mit Christus ein. Sie ermöglichen, dass Jesus hier auf Erden in uns lebt. Im Leben der Jungfrau Maria und aller Heiligen sind sie tief verankert – suchen wir deren Begleitung auf unserem Weg.
1 Vgl. Franziskus, Predigt, 24.1.2021.
2 Benedikt XVI., Angelus-Gebet, 30.1.2011.
3 Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1723.
4 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen vom einem Familientreffen, 2.7.1974.
5 Vgl. hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 28.
6 Hl. Theresia von Jesus, zitiert nach Walter Nigg, Große Heilige, Zürich 1955.
7 Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 154.