VIELE Menschen hatten die Gelegenheit, den Herrn zu sehen, seine Worte zu hören und von seiner Gegenwart berührt zu werden. Im heutigen Evangelium hören wir: Als die Volksmenge Jesus bedrängte und das Wort Gottes hören wollte, da stand er am See Gennesaret (Lk 5,1). Das Verb „bedrängen“, das Lukas hier verwendet, vermittelt eindrucksvoll das Bild einer großen Menschenmenge, die sich um Jesus scharte. Man musste sich regelrecht durchdrängen, um ihm nahe zu kommen. Doch wenn wir die gesamte Zeit des Herrn auf Erden betrachten, stellt sich die Frage: Wie viele Menschen ließen zu, dass seine Botschaft ihr Leben wirklich veränderte? Vielleicht geschah oft genau das, was der heilige Josefmaria später treffend beschrieb: dass man die Worte Jesu zwar hört, sie aber spurlos an einem vorübergehen – wie Wasser, das über Granit fließt.1
Heute ist es nicht anders. Viele Menschen, auch Nichtchristen, fühlen sich von der Botschaft Jesu angezogen. Unzählige Quellen bringen uns seine Person, seine Lehre und seine Botschaft näher, wecken Interesse und Neugier. Doch wie viele lassen sich tagtäglich durch diese Begegnung mit Jesus wirklich verwandeln? Wie viele öffnen ihr Herz für das Geschenk der Frömmigkeit, das unsere Beziehung zu Gott vertieft und stärkt? Papst Franziskus sagte dazu: „Der Herr bietet uns eine Freundschaft an, die unser Leben verändert und uns mit Begeisterung, mit Freude erfüllt. Daher ruft die Gabe der Frömmigkeit in uns vor allem Lob und Dank hervor. Denn das ist der Grund und der wahre Sinn unseres Gottesdienstes und unserer Anbetung. Wenn der Heilige Geist uns die Gegenwart des Herrn und seine ganze Liebe zu uns spüren lässt, erwärmt sich unser Herz und bringt uns auf ganz natürliche Weise zum Gebet und zur Feier.“2
AM SELBEN Ort und am selben Tag geschah jedoch auch das Gegenteil. Alles begann mit einer Initiative Jesu: Jesus stieg in eines der Boote, das dem Simon gehörte, und bat ihn, ein Stück weit vom Land wegzufahren (Lk 5,3), damit die Menge ihn besser sehen und hören konnte. Diese scheinbar einfache Geste wurde zum Beginn einer herrlichen gemeinsamen Geschichte. Zunächst glaubten die Fischer, sie täten Jesus einen Gefallen. Doch allmählich merkten sie, dass er es war, der das Ruder ihres Bootes übernahm. Nur wenige Minuten später wurden sie Zeugen eines außergewöhnlichen Ereignisses – eines wundersamen Fischfangs. Und als sie schließlich ans Ufer zurückkehrten, erkannten sie, dass von nun an nichts mehr so sein würde wie zuvor. Es war, als wären ihnen zum ersten Mal die Augen geöffnet worden.
Was an jenem Abend am See Gennesaret geschah, hat sich seither unzählige Male wiederholt. Viele Menschen haben nicht erkannt, dass es Jesus war, der sie um ihr Boot gebeten hat – und so bewegte sich ihr Leben weiterhin nur in einer Dimension, auf einer flachen Ebene, ohne Höhen und Tiefen. Doch andere sagten Ja zu seinem Ruf – und zeigen damit, dass Gott auch heute noch ruft. Besonders strahlend leuchtet das Ja der Heiligen. Vor Gennesaret hatte Gott Maria berufen. Jahrhunderte später rief er Augustinus in Mailand, Bonifatius in Southhampton, Katharina in Siena, Karl in Uganda – und einen jungen Mann namens Josemaría in Logroño. Sie alle antworteten mit einem Ja. Und wie die ersten Fischer entdeckten sie dadurch nicht nur die wahre Tiefe ihres eigenen Lebens, sondern veränderten auch den Lauf der Geschichte.
EINIGE WORTE des heiligen Josefmaria geben uns den Schlüssel zum Verständnis der beiden Wege, die im heutigen Evangelium beschrieben werden, und was sie voneinander unterscheidet. Er schrieb: „Ich will mich durchtränken lassen, mich bekehren, mich erneut dem Herrn zuwenden und ihn lieben, wie er geliebt werden will.“3 Vielleicht liegt genau darin der Unterschied zwischen jenen, die Jesus an jenem Tag nur zuhörten, und den Aposteln, deren Leben sich für immer veränderte: im Wunsch, Gott so zu lieben, „wie er geliebt werden will“. Während die einen lediglich eine Botschaft unter vielen vernahmen, erkannten die anderen, dass hinter jeder Handlung Jesu die Liebe stand. Angesichts dieser Liebe haben wir die Freiheit, vorüberzugehen – aber auch die Freiheit, unser Leben in seinen Dienst zu stellen und uns auf ein Abenteuer einzulassen, das uns das größte Glück verspricht.
Diese Szene lädt uns ein, über unseren eigenen Ruf nachzudenken – den Ruf, Menschen zu sein, „die Gott lieben“4. Doch die entscheidende Frage ist: Wie möchte unser Herr geliebt werden? Wie ruft er mich dazu auf, ihn zu lieben? Die Heilige Schrift gibt uns eine klare Antwort: Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft (Dtn 6,5). Letztlich ist die christliche Botschaft nicht nur „informativ“, sondern „performativ“ – das bedeutet: Das Evangelium vermittelt nicht nur Wissen, sondern schafft Wirklichkeit, es verändert das Leben.5
Das schönste Beispiel für diese lebendige, verwandelnde Kraft des Glaubens ist Maria, die allerseligste Jungfrau. Ihre vollkommene Offenheit für den Willen Gottes – „Mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38) – ließ sie zur Mutter des Erlösers werden. Lernen wir von ihrer lebenslangen Bereitschaft, auf den Ruf Gottes zu antworten. Er kommt auch heute an uns vorüber, er schenkt uns die Gnade, uns hier und jetzt verwandeln zu lassen.
1 Vgl. hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 59.
2 Franziskus, Audienz, 4.6.2014.
3 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 59.
4 Ebd., Nr. 60.
5 Benedikt XVI., Spe Salvi, Nr. 2.