JESUS befindet sich im Haus eines Pharisäers, der überrascht beobachtet, wie der Herr sich zum Essen setzt, ohne sich die Hände zu waschen. Jesus, der seine Gedanken kennt, spricht ihn direkt an: O ihr Pharisäer! Ihr haltet zwar Becher und Teller außen sauber, innen aber seid ihr voll Raffsucht und Bosheit. Ihr Unverständigen! Hat nicht der, der das Äußere schuf, auch das Innere geschaffen? (Lk 11,39-40).
Jesus verurteilt nicht die Handlung des Händewaschens an sich, sondern möchte betonen, dass es wichtiger ist, mit reinem Inneren zu handeln, als äußerlich den Anschein zu wahren. Ein Christ aus dem 4. Jahrhundert beschrieb die Haltung vieler Pharisäer zur Zeit Jesu treffend: „Die Pharisäer kümmerten sich gewissenhaft um den Zehnten von Anis und Kümmel, vernachlässigten jedoch die wichtigeren Belange des Gesetzes. Sie waren überaus sorgfältig in äußeren Aspekten, übersahen aber jene, die das Heil der Seele betrafen.“1
Heiligkeit besteht nicht darin, äußerlich gute Taten anzuhäufen, sondern vielmehr darin, sicherzustellen, dass diese Taten auch wirklich gut sind. Dazu müssen sie sowohl aus einem guten, inneren Antrieb heraus geschehen als auch auf ein wertvolles Ziel ausgerichtet sein, selbst wenn das Ergebnis nicht sofort sichtbar wird. Nehmen wir als Beispiel die Bemühung, unsere Wut zu beherrschen: Wenn wir das nur tun, um Konflikte zu vermeiden oder unser inneres Gleichgewicht zu wahren, könnten unsere Motive teilweise egoistisch sein. Wenn unser Bestreben, ruhig und gelassen zu reagieren, jedoch dem Wunsch entspringt, Frieden und Liebe in unserer Familie oder unserem Freundeskreis zu wahren, werden wir uns im Alltag darum bemühen, selbst wenn es uns gelegentlich schwerfällt und wir reizbar sind. Mit der Zeit und mithilfe der göttlichen Gnade wird unser aufrichtiger Wunsch, sanftmütig und freundlich zu sein, uns neue Ideale eröffnen – etwa im Alter ein liebevoller Mensch zu sein, der Freude und Verständnis ausstrahlt.
DER HEILIGE JOSEFMARIA betrachtete die Keuschheit als eine „freudige Bejahung“2– eine Sichtweise, die im Gegensatz steht zu einer negativen Auffassung dieser Tugend. Dergemäß besteht diese vor allem darin, bestimmte Dinge nicht zu tun, nicht zu denken oder nicht zu sehen. Auch hier gilt, dass gutes Handeln einen guten Boden braucht, auf dem es Wurzeln schlagen kann: Es bedarf eines guten Wunsches und einer edlen Absicht, die sie antreiben. Die Keuschheit ist ein Ja zur Liebe, denn die Liebe gibt ihr Sinn und Wert. Natürlich ist es nötig, bestimmte Handlungen oder Haltungen zu meiden, die im Widerspruch zur Liebe stehen und die jeder vernünftige Mensch als Verneinungen der Liebe erkennt. Dennoch bleibt Keuschheit eine ausgesprochen positive Wirklichkeit.
Wie bei jeder Tugend kann es im Bereich der Keuschheit also nötig sein, gegen die eigenen Neigungen zu handeln, sodass die Verneinungen stärker in den Vordergrund treten. Wichtig ist jedoch zu erkennen, dass das eigentliche Ziel ein anderes ist. Diese Kämpfe sind nur Schritte auf einem längeren Weg. Würden wir dabei stehen bleiben, entwickelten wir lediglich die Fähigkeit, uns zu zügeln und unseren Willen zu unterdrücken. Das eigentliche Ziel liegt viel höher: Es geht darum, unsere natürlichen Neigungen zu Schönheit und Freude in unser Leben zu integrieren, sodass unser Inneres zu einer Einheit findet. Keuschheit hilft uns, unser Begehren zu erkennen, zu reinigen und in Einklang mit unserem Leben zu bringen, bis unsere Gefühle und Sehnsüchte immer mehr mit unserer wahren Identität übereinstimmen und diese stärken. Ein unreines Herz ist zersplittert und richtungslos; ein reines Herz hingegen hat gelernt, die verschiedenen Aspekte des Lebens in Einklang zu bringen und ihnen eine harmonische Ausrichtung zu geben.
Deshalb schätzte der Gründer des Opus Dei die Früchte eines maßvollen Lebens so sehr. Ein solches Leben ist nicht an vergängliche, irdische Dinge gebunden, die zwar glänzen, aber wertlos sind. Ein maßvoller Mensch „kann auf das verzichten, was seiner Seele schadet, und weiß, dass dies kein wirkliches Opfer ist: Denn ein solches Leben befreit ihn von vielen Fesseln und lässt ihn im Innersten seines Herzens die ganze Liebe Gottes erfahren. Das Leben gewinnt dann die Farben zurück, die durch Maßlosigkeit verblasst waren, und es wird wieder möglich, sich um andere zu kümmern, zu teilen und sich großen Aufgaben zu widmen.“3
IN UNSEREM LEBEN können sich manchmal Neigungen zeigen, die im Widerspruch zu unserer wahren Identität stehen. Diese zu erkennen, ist der erste Schritt, um unsere Wünsche wieder auf das auszurichten, was uns wirklich glücklich macht. Wenn wir die wertvollen Informationen, die uns unsere Leidenschaften und Gefühle liefern, jedoch ignorieren oder missachten, kann es zu einer Spaltung kommen, wie sie Jesus mit dem Bild des Bechers beschrieb: außen sauber, innen schmutzig. Die Spaltung könnte auch so ausschauen: außen eine Vielzahl guter Werke, innen ein Herz, das das Leben, das es führt, nicht in vollen Zügen genießt. Manchmal erfordert die Reinigung, die Jesus von uns möchte, daher nicht so sehr eine Berichtigung des äußeren Verhaltens als vielmehr die Umorientierung unserer verborgenen Herzenswünsche. Es könnten Illusionen sein, die nicht zu unserer Identität passen, oder unerfüllte Sehnsüchte, die wir nicht dem Herrn anvertrauen und mit seiner Hilfe bearbeiten.
Papst Franziskus lädt uns dazu ein, uns selbst zu hinterfragen: „Gott hat uns so geschaffen: durchwirkt von Sehnsucht. Wir können ohne Übertreibung sagen: Wir sind das, wonach wir uns sehnen. Denn unsere Sehnsüchte erweitern unseren Horizont und treiben unser Leben voran: über die Begrenzungen der Gewohnheit hinaus, über ein oberflächliches, konsumorientiertes Leben, über einen ermüdeten Glauben und die Angst hinaus, uns für andere und das Gute einzusetzen.“4 Die Reinigung unserer Wünsche führt uns dazu, die Wirklichkeit in ihrer Tiefe zu schätzen. Wir lernen, in den verschiedenen Momenten des Alltags Gelegenheiten zu erkennen, um das Ideal zu leben, das unser Leben prägt. So können wir das kostbare Glück eines jeden Tages auskosten, ohne in Spannungen zwischen äußerem und innerem Leben zu geraten: Denn unsere Taten und Herzenswünsche stehen im Einklang mit unserer Berufung. Wir bitten die Jungfrau Maria, uns zu helfen, unsere Gefühle besser zu verstehen und sie auf die Liebe auszurichten, die unser Leben trägt.
1 Hegemonius, Acta disputationis Archelai episcopi Mesopotamiae et Manetis haeresiarchae, 21
2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 5.
3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 84.
4 Franziskus, Predigt, 6.1.2022.