WER dieses Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat,sagte Jesus. Und er fügte hinzu: Denn wer unter euch allen der Kleinste ist, der ist groß (Lk 9,48). Diese Worte müssen seine Jünger peinlich berührt haben, da sie gerade darüber diskutierten, wer von ihnen der Wichtigste sei. Offenbar war dies kein einmaliges Thema, sondern ein Gespräch, das sie schon seit einiger Zeit hinter Jesu Rücken führten. Der Evangelist erklärt, dass Jesus genau wusste, was sie innerlich beschäftigte, denn er sah den Gedanken in ihren Herzen (Lk 9,47). Mitten in einem Dialog erwachsener Männer, die nach persönlichem Ruhm streben, stellt Jesus die Gestalt eines Kindes als anschauliches Beispiel vor, um ihnen zu zeigen, was er wirklich von ihnen erwartet.
Die Jünger hatten in ihrer hitzigen Diskussion Jesus vielleicht aus den Augen verloren, doch ein unscheinbares Kind bahnte sich seinen Weg durch die Menge und erregte die Aufmerksamkeit des Herrn. Die Szene veranschaulicht die Macht der Demut: Wenn wir aufrichtig unsere eigene Kleinheit erkennen, finden wir Gott in den einfachsten Dingen des Lebens. Lassen wir uns jedoch von Stolz leiten, geraten wir in die Falle, uns selbst zu wichtig zu nehmen und verlieren uns in unlösbaren Gedankenspiralen. Die Schrift zeigt uns, dass selbst jene, die später zu den Säulen der Kirche werden, für diese Versuchung anfällig sind.
Papst Franziskus betonte daher: „Ohne Demut werden wir Gott nie finden, sondern nur uns selbst. Denn wer nicht demütig ist, hat keinen Horizont vor Augen, sondern nur einen Spiegel: Er betrachtet sich selbst. Bitten wir den Herrn, den Spiegel zu zerbrechen, damit wir den Blick auf den Horizont richten, wo Gott zu finden ist.“1
KURZ NACHDEM Jesus seinen Jüngern erklärt hat, wie wichtig es ist, wie Kinder zu werden, gesteht Johannes in aller Einfachheit: Meister, wir haben gesehen, wie jemand in deinem Namen Dämonen austrieb, und wir versuchten, ihn daran zu hindern, weil er nicht mit uns zusammen dir nachfolgt (Lk 9,49). Die Apostel scheinen ihre Berufung als ein Privileg zu betrachten, das sie von anderen abhebt, von anderen unterscheidet. Dies ist eine weitere Versuchung des Stolzes: unsere eigene Rolle hervorzuheben und als verdient zu betrachten, anstatt die Gaben, die wir und andere erhalten, dankbar anzuerkennen. Diese Haltung führt leicht zu Neid und trübt unseren Blick auf unsere Mitmenschen.
Jesus antwortete ihm: Hindert ihn nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, der ist für euch (Lk 9,50). Damit stellt er die Perspektive seiner Jünger auf den Kopf, um ihnen Gottes Sichtweise zu zeigen. Für Christus gibt es keine Grenze zwischen „Freunden“ und „Fremden“, sondern nur das Ziel, dass alle mit ihren persönlichen Talenten an der Weitergabe des Evangeliums teilhaben. Statt sich abzugrenzen, will Christus immer mehr Menschen einbeziehen, damit alle an seinen Gaben teilhaben können. Papst Benedikt XVI. betonte einmal: „Ein wesentlicher Unterschied zwischen Gott und den Menschen liegt im Stolz: In Gott gibt es keinen Stolz, da er die vollkommene Fülle und ganz auf Liebe und das Schenken von Leben ausgerichtet ist; in uns Menschen hingegen ist der Stolz tief verwurzelt und bedarf der ständigen Wachsamkeit und Läuterung..“2
Wahre Demut öffnet uns für unsere Mitmenschen, führt uns dazu, ihre Freuden zu teilen und unsere Gaben in ihren Dienst zu stellen. Sie lässt uns erkennen, dass jede Gabe – insbesondere eine Berufung in der Kirche – ein Geschenk ist, das dazu dient, alle zu bereichern. Der heilige Josefmaria schrieb: „Sich aufrichtig dem Dienst an den anderen zu widmen, ist von solcher Wirksamkeit, dass Gott es mit einer Demut belohnt, die voller Freude ist.“3 Wenn wir also einmal traurig sind oder den Eindruck haben, Jesus wie die Apostel aus den Augen verloren zu haben, kann ein einfacher Weg, unsere Freude wiederzufinden, darin bestehen, uns zu fragen: Wem kann ich heute Hilfe leisten? Wer braucht heute meine Unterstützung und die Gaben, die Gott mir geschenkt hat?
DEMUT führt uns zu einer gesunden und realistischen Selbsterkenntnis. Sie hilft uns, unsere Stärken und Schwächen zu akzeptieren und unsere Position zwischen Himmel und Erde zu erkennen – die Realität von Sünde und Gnade, die Last der Vergangenheit und die Hoffnung auf die Zukunft. Der heilige Josefmaria betonte, dass Demut es uns ermöglicht, die positiven und negativen Aspekte unseres Lebens zu erkennen, und uns zugleich mit Dankbarkeit und dem Wunsch erfüllt, uns zu verbessern. Er schrieb: „Eure Schwächen und Misserfolge, die jedes menschliche Streben begleiten, werden euch mehr Realitätssinn, mehr Demut und mehr Verständnis für andere geben. Eure Erfolge und Freuden werden euch zur Dankbarkeit bewegen und zu dem Bewusstsein, dass ihr nicht für euch allein lebt, sondern für die anderen und für Gott.“4
Wie das einfache Kind, das Christi Aufmerksamkeit auf sich zieht, spüren auch wir die Freude, von ihm so angenommen zu werden, wie wir sind, wenn wir ihn auf authentische Weise suchen. Wir erkennen, dass die Gewissheit seiner Liebe die beste Grundlage ist, um unser Leben zu verbessern: Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig (Mt 11,29).
Das „Magnifikat“ unserer Mutter drückt diese freudige Demut deutlich aus: Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan (Lk 1,45-49). Bitten wir Maria, uns diese Demut zu schenken, damit Gott auch in unserem Leben große Werke vollbringen kann.
1 Franziskus, Audienz, 22.12.2021.
2 Benedikt XVI., Angelus-Gebet, 23.9.2012.
3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 591.
4 Hl Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 49.