ZU BEGINN der zweiten Fastenwoche hören wir in der ersten Lesung das Bußgebet des Propheten Daniel: Wir haben gesündigt und Unrecht getan, wir sind treulos gewesen und haben uns gegen dich empört; von deinen Geboten und Rechtsentscheiden sind wir abgewichen (Dan 9,5). Doch Gott blieb seinen Verheißungen treu, obwohl das Volk Israel seiner Stimme nicht gehorchte. Deshalb fährt der Prophet dankbar fort: Herr, du großer und Furcht erregender Gott, der den Bund und die Huld denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote bewahren (...). Beim Herrn, unserem Gott, ist das Erbarmen und die Vergebung (Dan 9,4.9).
Der Aufruf zur Umkehr, der in der Fastenzeit so nachdrücklich vernehmbar wird, entspringt dem barmherzigen Herzen des Herrn. Es ist nicht der Aufruf eines Gottes, der mit den Sünden der Menschen abrechnen will, sondern der Weckruf eines liebenden Vaters, der sich unserer Schwäche annimmt, um sie zu heilen und uns wieder zum Leben zu erwecken. So schreibt der heilige Josefmaria: „Noch ein Sturz ... Und was für ein Sturz! ... Verzweifeln? Nein: klein werden und durch Maria, deine Mutter, die barmherzige Liebe Jesu anrufen. – Ein Miserere und Kopf hoch. – Und neu beginnen.“1
Uns dem Herrn zuwenden und unsere Sünde eingestehen, wie es der Prophet Daniel tat, ist der erste Schritt, um uns innerlich zu erneuern und uns der göttlichen Barmherzigkeit zu öffnen. Gott ist treu und weiß zu warten. Im Vertrauen auf seine Barmherzigkeit werden wir ihm unsere Wunden zeigen und uns von ihm heilen lassen. In aller Einfachheit und mit kindlicher Kühnheit wagen wir es, ihm mit den Worten des Psalms zu sagen: Herr, vergib uns die Sünden um deines Namens willen! (Psalm 78, 9).
DIE ERFAHRUNG der Liebe Gottes führt uns dazu, unsere Mitmenschen barmherzig zu behandeln, wie er es tut. Papst Franziskus lädt uns ein: „Wie der Vater liebt, so lieben auch seine Kinder. (...) Angerührt von seiner Barmherzigkeit können auch wir Tag für Tag barmherzig mit den anderen sein.“2
Die Worte des Herrn, die heute im Evangelium verkündet werden, ermutigen uns, ein großes Herz zu haben, mit Gefühlen und Reaktionen wie die seinen: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden! Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden! Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! (Lk 6,36-38). Der Weg, den Jesus uns aufgibt, enthält sehr konkrete Hinweise für unser tägliches Leben: Seid barmherzig ..., richtet nicht ..., verurteilt nicht ..., vergebt ..., gebt ... Es ist ein aufsteigendes Programm nach dem Vorbild Gottes selbst. Ziel ist, wie es Benedikt XVI. einmal formulierte, „in Einklang zu kommen mit diesem Herzen, das ,reich an Barmherzigkeit‘ ist und uns bittet, alle zu lieben, auch die Fernstehenden und die Feinde, und so den himmlischen Vater nachzuahmen, der die Freiheit eines jeden respektiert und alle mit der unbesiegbaren Kraft seiner Treue an sich zieht.“3
Das lebendige Bewusstsein unserer Sünden und unserer Bedürftigkeit der Geduld Gottes führt uns zum Mitgefühl für unsere Brüder und Schwestern. Vergessen wir nicht, dass der Herr unsere Vergebung anderen gegenüber zur Bedingung dafür macht, dass auch uns vergeben wird!: Denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden (Lk 6,38).
„DAS WORT Gottes lehrt uns“, schreibt Papst Franziskus, „dass sich im Mitmenschen die kontinuierliche Fortführung der Inkarnation für jeden von uns findet: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,40). Was wir für die anderen tun, hat eine transzendente Dimension.“4 Wer diese übernatürliche Weisheit besitzt, kann Christus in jedem Menschen sehen. Das verändert unser Leben. Einerseits entdecken wir in den anderen Gottes Dasein: Wir sehen ihn in jedem Menschen, dem wir begegnen oder von dem wir hören; und wir merken, dass Gott sich um uns kümmert durch die, die uns nahe sind.
Andererseits wird unsere Art und Weise zu sehen, zu denken, zu sprechen oder zu handeln von der Liebe geleitet sein und damit an Schönheit gewinnen. Der heilige Josefmaria lebte dies so und lehrte uns, eine Liebe zu leben, die er einmal in fünf Verben zusammenfasste: „Beten, schweigen, verstehen, entschuldigen ... und lächeln.“5 Im Grunde ist dies die Haltung einer Mutter gegenüber ihrem Kind. Ihr mütterlicher Blick führt sie dazu, das Kind immerfort zu lieben, für sein Verhalten, wenn nötig, eine Entschuldigung zu finden und ihm bei seinen manchmal wackeligen Gehversuchen einen Halt zu bieten.
„Bruder“, schrieb ein Kirchenvater, „ich empfehle dir: Lass immer das Mitleid die Oberhand gewinnen, bis du in dir das Mitleid spürst, das Gott für die Welt empfindet.“6 Wir bitten Maria, die Mutter der Barmherzigkeit, um die Gabe, stets auf das Erbarmen des Herrn zu vertrauen. Dadurch wird es uns leichter fallen, Fehler zu verzeihen und die anderen so zu lieben und zu unterstützen, wie sie sind.
1 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 711.
2 Franziskus, Misericordiae Vultus, Nr. 9.
3 Benedikt XVI., Angelus-Gebet, 16.9.2007.
4 Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 179.
5 Pilar Urbano, El hombre de Villa Tevere.
6 Isaak der Syrer, Abt, Klostergründer, Diskurs, 1ª Serie, Nr. 34.