DER ABEND bricht an. Nach einem vollen Tag, an dem Jesus die Menschen mit Gleichnissen belehrt hat, wird es langsam dunkel. Da sie noch anderen Völkern das Reich Gottes predigen sollten, sagt der Herr zu seinen Jüngern: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren (Mk 4,35). Sie verabschieden sich von der Menge und steigen in ein Boot, das für die Fischer unter den Aposteln wie ihr zweites Zuhause ist.
Man könnte sagen, dass Jesus die Einladung auch an uns richtet: ans andere Ufer hinüberzufahren, einige Aspekte unseres Lebens zu ändern, um ihm ähnlicher zu werden. Dies ist natürlich mit einer gewissen Anstrengung verbunden. Vielleicht hoffen wir manchmal auf eine Zeit, in der wir uns nicht mehr anstrengen müssen: Nichts mehr wird dann unsere Laune trüben, wir werden jene Tugend besitzen, die uns jetzt schwer fällt, und jede Begegnung werden wir als Segen empfinden. Vielleicht wird es Phasen geben, in denen uns alles in den Schoß fällt. Aber machen wir uns nichts vor: Christus nachfolgen bedeutet nicht, dass uns nichts mehr schwer fallen wird. Der heilige Josefmaria schreibt ganz ungeschminkt: „Gott treu sein, erfordert Kampf, und zwar Nahkampf: Mann gegen Mann – da ist der alte Mensch in uns und der Mensch, wie Gott ihn haben will –, Kleinigkeit um Kleinigkeit, ohne nachzugeben.“1
Dieser Kampf wird je nach den Umständen mehr oder weniger intensiv sein. Ein kampffreies Leben zu erwarten, wäre jedoch nicht nur unrealistisch, sondern würde es uns auch erschweren, unsere Liebe zu Gott zu vertiefen. Denn es sind die Zeiten größeren Kampfes, die uns am meisten helfen, unserer christlichen Berufung einen neuen Glanz zu verleihen. So betete der heilige Josefmaria: „Ich danke dir, mein Gott, ich danke dir für alles: für das, was mir zuwider ist, für das, was ich nicht begreife, für das, was mich leiden macht. Die Schläge mit Hammer und Meißel sind nötig, damit der Marmorblock Gestalt annimmt. So meißelt Gott in die Seelen das Bild seines Sohnes ein.“ Und an uns gewandt, schreibt er weiter: „Sei ihm für diese Liebeserweise dankbar!“2 Wir sind nie allein. Wenn wir die Notwendigkeit zu kämpfen am meisten spüren, wissen wir, dass Christus uns sehr nahe ist und uns begleitet, damit wir freudig ans andere Ufer hinüberfahren.
MITTEN AUF dem See überraschte die Apostel ein heftiger Sturm. Der Wind war so stark, dass die Wellen das Boot zu versenken drohten. Und Jesus? Er schlief im Heck des schaukelnden Bootes. Man kann sich leicht die Fragen der Apostel vorstellen: Warum hat Jesus uns aufgefordert, ans andere Ufer zu fahren, wenn er wusste, dass ein Sturm aufkommt? Warum scheint er kein Mitgefühl zu haben, während wir um unser Leben kämpfen? Sind wir nicht im Vertrauen auf seinen Plan ins Boot gestiegen? Wahrscheinlich haben wir ähnliche Situationen auch schon erlebt. Wir hatten eine schwierige Entscheidung zu treffen, die uns nachts wach hielt, und spürten plötzlich, mit überraschender Klarheit, dass der Herr uns einlud, das sichere Ufer zu verlassen. Doch kaum waren wir auf dem Weg, tauchten Schwierigkeiten und Missverständnisse auf, und wir fragten uns verwirrt oder enttäuscht, wo Christus geblieben war.
Es ist normal, sich unsicher zu fühlen, wenn wir Gelegenheiten haben, im Glauben, in Tugenden oder in der Liebe zu wachsen. Vielleicht haben wir das Gefühl, dass Jesus uns im Stich lässt. Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? (Mk 4,38), können wir ihn fragen. Doch Jesu scheinbares Schweigen ist eine Einladung, im Glauben und im Vertrauen zu wachsen. Wir sollen Herausforderungen und Schwierigkeiten als Gelegenheit betrachten, seinem Lebensstil zu folgen. Im Gebet lernen wir, diese Stürme mit der Gelassenheit Christi zu durchleben. Papst Franziskus ermutigt uns, täglich zu beten: „Ein Tag ohne Gebet wird leicht zu einer lästigen oder langweiligen Erfahrung: Alles, was uns zustößt, kann dann leicht wie zu einem schlecht ertragenen und blinden Schicksal werden.“3 Wenn wir hingegen beten, zeigen wir Gott, dass wir unsere Hoffnung wirklich auf ihn gesetzt haben. Und der Weg des Vertrauens auf Gott ist der wichtigste Weg, um zu neuen Ufern des inneren Lebens zu gelangen. Papst Franziskus sagt weiter: „Das Gebet hat die Macht, das, was im Leben sonst eine Verurteilung wäre, in Gutes zu verwandeln; das Gebet hat die Macht, dem Verstand einen großen Horizont zu öffnen und das Herz zu weiten.“4
WARUM habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? (Mk 4,40), fragt Jesus die Apostel, die ihn geweckt haben. Hinter diesen Fragen steckt ein tiefer Vorwurf. Natürlich wusste Christus, dass sie einen schwierigen Moment durchmachten, jedoch erwartete er von seinen engsten Jüngern ein größeres Vertrauen. Wie der heilige Johannes in seinem ersten Brief schreibt: Furcht gibt es in der Liebe nicht (1 Joh 4,18).
Oft kann uns Jesus im Gebet dieselbe Frage stellen wie seinen Aposteln: Warum habt ihr Angst? Dann kommen uns vielleicht die Momente in den Sinn, in denen wir den Frieden verloren haben oder verunsichert waren. Laut dem heiligen Josefmaria gibt es eine Reihe möglicher Ängste, die uns den Frieden rauben können: „Nach der anfänglichen Begeisterung nunmehr Zögern, Unschlüssigkeit, Ängste … Vieles macht dir Sorge: das Studium, die Familie, Geldfragen und vor allem der Gedanke, dass du es nicht schaffst oder vielleicht nicht taugst oder noch zu wenig Lebenserfahrung besitzt.“5 Unsere Ängste zu kennen und sie uns einzugestehen ist ein wichtiger Schritt, um uns selbst besser kennenzulernen und Jesus um konkrete Hilfe zu bitten.
Da ergriff sie große Furcht und sie sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen? (Mk 4,41). Die Szene endet mit einer neuen Art von Furcht, die die Apostel ergreift. Die Apostel werden von Gottesfurcht erfüllt, das heißt von der inneren Gewissheit, dass sie wirklich vor dem lebendigen Gott stehen und seine Macht real ist. Zu einem neuen Ufer in unserem Glaubensleben zu gelangen, bedeutet, diesen Schritt zu tun: die Angst, die uns zunächst lähmen mag, in tiefe Ehrfurcht vor einem Gott zu verwandeln, der an unserer Seite lebendig anwesend ist und der wirken kann, was uns zunächst unmöglich erschien. Dabei hilft uns unsere Mutter, wie der heilige Josefmaria immer gelehrt hat: „Vorher, allein, konntest du es nicht … – Jetzt bist du zur Herrin gegangen, und, mit ihr zusammen, wie leicht ist es!“6
1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 126.
2 Hl. Josefmaria, Der Kreuzweg, VI. Station, Nr. 4.
3 Franziskus, Audienz, 4.11.2020.
4 Ebd.
5 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 133.
6 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 513.