Betrachtungstext: 11. Woche im Jahreskreis – Montag

Ein ungleiches Paar: Ahab und Nabot – Wahre und falsche Klugheit – Die Gerechtigkeit Christi

ZU JENER ZEIT führte König Ahab von Samarien, dem Nordreich Israels, einen schwierigen Feldzug gegen den König von Aram, dem späteren Syrien. Gott leitete Ahab mittels eines Propheten und verlieh ihm den Sieg. Danach begann Ahab jedoch eigenmächtig zu handeln und gab sich gegenüber den Anweisungen Gottes taub. Der Prophet rügte ihn für dieses Verhalten, da ging der König von Israel missmutig und verdrossen nach Hause (1 Kön 20,43). Er begriff nicht, dass seine Unzufriedenheit auf seine gottlose Lebensweise zurückzuführen war, und versuchte stattdessen, diese durch die Befriedigung seiner Gelüste zu bekämpfen. So berichtet die Heilige Schrift weiter, dass Nabot aus Jesreel einen Weinberg neben dem Palast Ahabs hatte, des Königs von Samarien. Ahab verhandelte mit Nabot und schlug ihm vor: Gib mir deinen Weinberg! Er soll mir als Gemüsegarten dienen; denn er liegt nahe bei meinem Haus. Ich will dir dafür einen besseren Weinberg geben. Wenn es dir aber lieber ist, bezahle ich dir den Kaufpreis in Geld (1 Kön 21,1-2). Nabot weigerte sich jedoch, wie es das Gesetz des Mose vorschreibt, auf das Erbe seiner Väter zu verzichten, und Ahab kehrte in sein Haus zurück. Er war missmutig und verdrossen, weil Nabot aus Jesreel zu ihm gesagt hatte: Ich werde dir das Erbe meiner Väter nicht überlassen. Er legte sich auf sein Bett, wandte das Gesicht ab und aß nichts (1 Kön 21,4). Wieder begreift Ahab nicht. Das Verhalten Nabots, eines rechtschaffenen Mannes, der von tiefen Überzeugungen geleitet war, die er nicht dem kurzfristigen Nutzen oder Vergnügen opferte, erscheint ihm unerklärlich.

„Nabot war selig (...)“, schrieb der heilige Ambrosius. „Denn auch wenn er im Vergleich zur Macht des Königs arm und schwach war, besaß er als einzigen Reichtum so viel an Gefühl und Rücksicht, dass er den ererbten väterlichen Weinberg nicht gegen das Geld des Königs tauschen wollte. Ahab dagegen war unselig, sogar nach seinem eigenen Urteil.“1 Nabot erscheint als freier, ganzer Mann, während der mächtige Ahab das Bild eines Menschen abgibt, der sich von den Umständen bestimmen lässt und keine andere Orientierung kennt als seine Stimmung oder die Laune des Augenblicks. Das II. Vatikanische Konzil hält dagegen fest: „Die Würde des Menschen verlangt, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang.2 Wenn Nabots Weinberg schon wertvoll war, so war seine Seele noch viel wertvoller. Er hatte seine innere Freiheit kultiviert, indem er sich von ganzem Herzen mit Gott zu vereinigen suchte und als schmackhafte Früchte die Tugenden hervorbrachte, die den Menschen glücklich machen.


WIE ANDERS erscheinen die Tugenden des gerechten Nabot, vor allem seine Besonnenheit und Klugheit, im Vergleich mit den inneren Kräften, die Isebel, die Frau Ahabs, entfaltet, vor allem ihre Rücksichtslosigkeit und Gerissenheit. Sie schämt sich für die Charakterschwäche ihres Mannes, allerdings nur, weil sie nicht einlenken will und nicht davor zurückschreckt, Blut fließen zu lassen, um sich den Weinberg Nabots unter die Nägel zu reißen. Sie schrieb Briefe im Namen Ahabs, versah sie mit seinem Siegel und schickte sie an die Ältesten und Vornehmen, die mit Nabot zusammen in der Stadt wohnten. In den Briefen schrieb sie: Ruft ein Fasten aus und lasst Nabot oben vor allem Volk Platz nehmen! Setzt ihm aber zwei nichtswürdige Männer gegenüber! Sie sollen gegen ihn als Zeugen auftreten und sagen: Du hast Gott und den König gelästert. Führt ihn dann hinaus und steinigt ihn zu Tode! (1 Kön 21,8-10). Als diese ihre Befehle ausgeführt hatten, sagte Isebel zu Ahab: Auf, nimm den Weinberg Nabots aus Jesreel in Besitz, den er dir für Geld nicht verkaufen wollte; denn Nabot lebt nicht mehr; er ist tot (1 Kön 21,15).

Isebel ließ die Propheten Israels beseitigen, veranlasste den Propheten Elija zur Flucht und zog ihren Mann und das ganze Volk in den Baalskult hinein. Mit kaltblütiger Präzision weiß sie die Lücken des Gesetzes zu nutzen. Und sie spinnt einen raffinierten Plan, der es ihr ermöglicht, dieses Verbrechen zu begehen, ohne ihre eigenen oder die Hände ihres Mannes direkt zu beschmutzen. Doch ihre Schläue ist nicht Klugheit, ihre Entschlossenheit nicht Tapferkeit und ihre Beherrschtheit nicht Mäßigkeit. Verschlossen gegenüber der Wahrheit Gottes setzt sich Isebel über die Forderungen der Gerechtigkeit hinweg und stellt ihre Fähigkeiten in den Dienst ihrer eigenen Begehrlichkeit, wodurch sie sich selbst und ihre Mitmenschen nur ins Unglück stürzt.

Diese von Gott völlig absehende Klugheit wird oft als „Klugheit des Fleisches“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu „achtet wahre Klugheit“, wie der Gründer des Werkes schrieb, „stets auf die Eingebungen Gottes und empfängt durch dieses wachsame Hinhören in der Seele Verheißungen und Tatsachen des Heils. (...) Durch die Klugheit wird der Mensch mutig, aber nicht waghalsig; er drückt sich nicht mit undurchschaubaren bequemen Ausreden vor der Anstrengung, ganz nach dem Willen Gottes zu leben. Die Mäßigkeit des Klugen ist weder Empfindungsarmut noch Menschenfeindlichkeit, die Gerechtigkeit des Klugen ist nicht Härte, seine Geduld nicht Unterwürfigkeit.“3


ANGESICHTS EINES Verhaltens, wie es Ahab und Isebel gegenüber Nabot an den Tag legten, können wir Empörung empfinden und uns wünschen, dass ihnen Gerechtigkeit geschieht. Daher mögen uns die Worte Jesu im Evangelium überraschen: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin! Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel! Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab! (Mt 5,39-40.42).

Es gibt keinen Grund, die Worte des Herrn abzuschwächen. Jesus ermutigt uns, mit jener immensen inneren Freiheit zu leben, die demjenigen zu eigen ist, der in Gott seinen Schatz hat und in ihm alles besitzt. Ein solcher Mensch ist bereit, für das Wohl anderer alles aufzugeben. Und dies ist nicht unvereinbar mit der Gerechtigkeit, jener Tugend, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie das Wohl der anderen sucht. Nichts ist von der Gerechtigkeit weiter entfernt als ihre Karikatur als „egoistische Tugend“, die nichts anders will als das Eigene bewahren und verlangen. Das erste Wort der Gerechtigkeit lautet nicht „mein“, sondern „dein“. Der Aquinate hält fest, dass die Tugend uns für den Nächsten öffnet, uns dazu bringt, in ihm eine Person zu erkennen, und uns drängt, sein Wohl aktiv zu suchen.4

Nabot war gerecht, denn er liebte das Gesetz Gottes, die Quelle der höchsten Gerechtigkeit, sowie das Erbe seiner Väter, das er für seine Kinder bewahren musste, und verteidigte dieses gegen die unrechtmäßige Laune eines Königs. Am Ende, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, war er der Überlegene, denn es ist besser, für gute Taten zu leiden, wenn es Gottes Wille ist, als für böse (1 Petr 3,13-17). Mit diesen und anderen Worten ermahnte Petrus die ersten Christen immer wieder und verwies auf Jesus, der sein Leben für uns hingegeben hat. Im Tod Christi erhalten der Tod Nabots und jede Ungerechtigkeit ihre volle Bedeutung. Maria, die in der Tradition des Volkes Israel bestens unterrichtet war, wird uns dabei helfen, ein weises Herz zu entwickeln. Ein Herz, das in der Treue zu Gott seine Freude findet und überfließt vor Werken der Liebe und Gerechtigkeit.


1 Hl. Ambrosius, Von den Pflichten der Kirchendiener, II 5.17.

2 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes, Nr. 17.

3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 87.

4 Vgl. hl. Thomas von Aquin, S. Th. II-II, q. 58, a. 2, co.: ad iustitiam pertinet actus humanos rectificare, ut dictum est, necesse est quod alietas ista quam requirit iustitia, sit diversorum agere potentium.