Betrachtungstext: 1. Woche der Fastenzeit – Dienstag

Das Vaterunser, ein kindliches Gebet – Wir können vergeben, weil uns vergeben worden ist – Gottes Wille ist, uns zu lieben

DIE Fastenzeit bietet uns Gelegenheit, unser Gebetsleben zu vertiefen, damit wir den Ruf des Geistes in unserem Inneren klarer vernehmen. Deshalb lädt uns die Liturgie erneut ein, das Vaterunser zu betrachten. Es ist das Gebet, das Jesus seine Apostel persönlich gelehrt hat, nicht als „eine mechanisch zu wiederholende Formel“, wie der Katechismus der Katholischen Kirche betont, sondern als ein schlichtes, „kindliches Gebet“1.

Die Worte, die Jesus dem Vaterunser vorausschickt, unterstreichen dies zusätzlich. Sie versetzen uns in eine Atmosphäre der Nähe und des Vertrauens zu Gott, die für die Menschen bis dahin undenkbar war: Wenn du betest, geh in deine Kammer ..., dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. ... Ihr sollt nicht plappern wie die Heiden, ... Euer Vater weiß ja, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet (Mt 6,6-8). Während Moses noch seine Schuhe ablegen und Abstand zum brennenden Dornbusch halten musste, lädt Jesus uns ein, „ohne Umwege, mit kindlichem Vertrauen, freudiger Zuversicht, demütiger Kühnheit und der Gewissheit, geliebt zu sein,“2 direkt zu Gott, unseren Vater, zu kommen.

Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name (Mt 6,9) – mit diesen Worten führt Jesus seine Jünger unmittelbar in das Gebet ein. Schwang in seinen Worten eine leise Furcht mit? Denn würden sie ermessen, was es bedeutete, sich so ungezwungen und persönlich an seinen geliebten Vater wenden zu dürfen? Würden sie der Liebe ihres Vaters entsprechen können? Das Wort „unser“ drückt zwar keinen Besitz aus, wie der Katechismus der Katholischen Kirche erklärt, jedoch eine „ganz neue Beziehung zu Gott“, eine „gegenseitige Zugehörigkeit“3.

Der heilige Johannes Cassian beschreibt die Tiefe dieses Gebets mit eindrücklichen Worten: Das Vaterunser sei „ein Aufblick zu Gott allein, ein großes Feuer der Liebe“. Darin „schmilzt die Seele, versinkt in die heilige Liebe und unterhält sich mit Gott wie mit dem eigenen Vater – innig, vertraut, voll zärtlicher Kindesliebe.“4 Und der heilige Josefmaria schrieb auf seine Weise: „Welche Zuversicht, welche Ruhe und welchen Optimismus wird es euch geben, inmitten von Schwierigkeiten zu spüren, dass ihr Kinder eines Vaters seid, der alles weiß und alles kann.“5


IM Vaterunser gibt es nur eine Handlung, die uns Menschen zukommt: Wenn wir Gott bitten, uns unsere Schuld zu erlassen, berufen wir uns darauf, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben! (Mt 6,12). Auf den ersten Blick scheint es, als hinge Gottes Vergebung von unserer eigenen ab. Doch das würde unsere Kräfte weit übersteigen. Tatsächlich können wir nur im Geiste Gottes vergeben – weil auch er uns durch Christus vergeben hat (Eph 4,32). Der heilige Josefmaria erklärt dies treffend: „Die Liebe ist nicht unser Werk, sie strömt in uns ein durch Gottes Gnade: Er hat uns zuerst geliebt (1 Joh 4,10). Wir sollten von dieser herrlichen Wahrheit ganz eingenommen sein: ,Wenn wir Gott lieben können, dann deshalb, weil wir von Gott geliebt worden sind‘ (Origenes, Kommentar zum Brief an die Römer, 4,9). Du und ich, wir sind imstande, den anderen mit verschwenderischer Liebe zu begegnen, weil wir durch die Liebe des Vaters zum Glauben geboren wurden.“6

Vergeben ist der göttliche Akt schlechthin. Es bedeutet, dass der Täter in seinen vorigen Zustand zurückversetzt wird – als hätte er niemals verletzt oder beleidigt. Papst Franziskus bringt es auf den Punkt: „Gott freut sich. Interessant ist das: Gott freut sich! Und worin besteht die Freude Gottes? Die Freude Gottes ist das Vergeben! Es ist die Freude eines Hirten, der sein Schaf wiederfindet; die Freude einer Frau, die ihr Geldstück wiederfindet; es ist die Freude eines Vaters, der den Sohn im Haus aufnimmt, der verloren war, der wie gestorben war und zum Leben zurückgekehrt ist, der nach Hause zurückgekehrt ist. Hier ist das ganze Evangelium!“7

Wenn wir begreifen, wie sehr Gott sich freut, uns zu vergeben, und seine unendliche Bereitschaft dazu erfahren, dann ist es nur selbstverständlich, dass wir uns veranlasst fühlen, es ihm gleichzutun – und so an seiner Freude teilzuhaben. „Um vergeben zu lernen“, rät der heilige Josefmaria, „geh‘ zur Beichte, liebevoll, andächtig, und dort wirst du Frieden finden, die Kraft, zu siegen und zu lieben.“8


DEIN WILLE geschehe wie im Himmel, so auf der Erde (Mt 6,10). Oft betrachten wir Gottes Willen nur als eine Forderung an uns. Dabei übersehen wir, dass sein tiefstes Anliegen nur unser Heil und unser Glück ist: Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1 Tim 2,4). Es ist die reine Liebe, die ihn treibt, uns unzählige Wege zu öffnen, um uns mit seinem Leben zu erfüllen: die Sakramente, unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen, das Gebet, die Gebote und vieles mehr. Mit der Bitte dein Wille geschehe erbitten wir letztlich die Gnade, dass diese Liebe uns erreicht. Deshalb lädt Jesus uns auch ein, um unser tägliches Brot zu bitten – seinen Leib und sein Blut.

Was immer in eurem Leben geschieht“, lehrte der heilige Josefmaria, „so traurig oder dunkel oder entsetzlich es sein mag, lasst euch schnell diese Gedanken durch den Kopf gehen: Gott ist mein Vater. Gott liebt mich mehr, als alle Mütter der Welt zusammen ihre Kinder lieben können. Mein Vater Gott ist zudem allwissend und allmächtig. Daher geschieht alles zu meinem Besten. Ihr werdet sehen, welch tiefer Friede euch erfüllt, meine Kinder, und welches Lächeln auf eurem Gesicht erscheint, selbst wenn euch Tränen über die Wangen fließen.“9

Die Bitte, dass Gottes Wille geschehe, bedeutet nicht, dass unser eigener Willen aufgehoben ist. Im Gegenteil: Papst Franziskus ermutigt uns, aktiv mitzuwirken: „Die Kraft der Gnade muss sich mit unseren Werken der Barmherzigkeit verbinden, die zu leben wir aufgerufen sind, um zu bezeugen, wie groß die Liebe Gottes ist.10 Gerade in der Fastenzeit sind wir zu solchen Werken aufgerufen.

Die Jungfrau Maria, Tochter Gottes des Vaters, hat das Vaterunser gewiss oft gebetet. Sie hat ihr persönliches „Fiat – der Wille Gottes geschehe“ bereits ausgesprochen, und sie hätte damals nicht ahnen können, wie sehr die Realität ihre kühnsten Erwartungen übertreffen würde. Bitten wir sie, uns zu helfen, das Vaterunser immer tiefer zu verstehen und mit ganzem Herzen zu verkosten.


1 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2766.

2 Vgl. ebd., Nr. 2778.

3 Vgl. ebd., Nr. 2786 und 2787.

4 Hl. Johannes Cassian, Coll. 9,18.

5 Hl. Josefmaria, Brief 29, Nr. 60.

6 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 229.

7 Franziskus, Angelus-Gebet, 15.9.2013.

8 Hl. Josefmaria, persönliche Erinnerungen (Javier Echevarría).

9 Hl. Josefmaria, in: Julián Herranz, Dios y audacia. Mi juventud junto a san Josemaría, S. 166-167.

10 Franziskus, Audienz, 29.9.2021.