Betrachtungstext: 30. Woche im Jahreskreis – Sonntag (C)

Demut, die Wohnstätte der Liebe – Unsere Hinfälligkeit kennen – Im Dienste Gottes

IM EVANGELIUM des heutigen Sonntags erzählt Jesus eine Parabel, die zwei mögliche Haltungen des Menschen vor Gott gegenüberstellt: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner (Lk 18,10). Der Pharisäer bleibt stehen und betet unverfroren: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort (Lk 18,10-11). In ihm erkennen wir das Zerrbild eines religiösen Menschen, der sich mit Gott im Reinen glaubt, weil er die Gebote, wie er meint, tadellos erfüllt. Vollkommenheit besteht seiner Auffassung nach in der Einhaltung von Vorschriften. Weil er sich selbst nicht als Sünder sieht, kann er die Barmherzigkeit Gottes nicht erfahren – und bleibt unfähig, barmherzig anderen gegenüber zu sein.

Der Zöllner hingegen blieb ganz hinten stehen und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig!(Lk 18, 13). Zöllner standen in der jüdischen Gesellschaft, was ihr Ansehen anlangte, auf der niedrigsten Stufe. Umso kräftiger musste die Schlussfolgerung Jesu auf seine Zuhörer wirken: Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt nach Hause hinab, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Lk 18,14).

Demut ist ein wesentliches Element des christlichen Lebens. Wie der heilige Augustinus lehrte, ist sie „die Wohnstätte der Nächstenliebe“1. Und an anderer Stelle fügte er hinzu: „Wenn ihr mich fragt, was das Wichtigste an der Religion und an der Lehre Jesu Christi ist, so ist meine Antwort diese: erstens die Demut, zweitens die Demut und drittens die Demut.“2Ohne diese Tugend sind alle Früchte unseres Gebets, unserer Werke und unseres Apostolats nur Schein. Sie ist der Boden, auf dem jede andere Tugend wächst. Sogar von Cervantes, dem wichtigsten Schriftsteller Spaniens, gibt es ein Lob auf diese Tugend: „Die Demut ist das Fundament aller Tugenden, ohne sie gibt es keine andere. Sie glättet die rauen Wege, überwindet steile Hänge und führt immer zu herrlichen Zielen; sie verwandelt Feinde in Freunde, besänftigt den Zorn der Wütenden und beugt den Stolz der Hochmütigen; sie ist die Mutter der Bescheidenheit und die Schwester der Mäßigkeit; kurz, wo sie ist, können die Laster keinen Sieg erringen, der ihnen nützte, denn an ihrer Sanftheit und Milde stumpfen die Pfeile der Sünde ab.“3


ALS DER heilige Paulus spürt, dass sich das Ende seines Lebens nähert, schreibt er an Timotheus: Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt (2 Tim 4,7). In diesen Worten liegt keine Spur von Stolz – mit der Prahlerei des Pharisäers haben sie nichts zu tun. Seit seiner Bekehrung weiß der heilige Paulus um die zentrale Bedeutung der Gnade und Liebe im christlichen Leben. Deshalb erkennt er nun, da sein irdischer Weg zu Ende geht, dankbar die Hilfe Gottes an: Aber der Herr stand mir zur Seite und gab mir Kraft, damit durch mich die Verkündigung vollendet wird und alle Völker sie hören (…). Der Herr wird mich allem bösen Treiben entreißen und retten in sein himmlisches Reich. Ihm sei die Ehre in alle Ewigkeit (2 Tim, 17-18).

Die Demut schafft Raum, damit der Herr in uns wirken kann, so wie er es bei Paulus getan hat. Erst wenn wir uns – wie er – als Sünder betrachten – was wir sind –, können wir die Barmherzigkeit Gottes in ihrer Tiefe erfahren und von Hoffnung erfüllt werden. Der heilige Josefmaria gibt folgenden Rat: „Vielleicht denkst du, deine Sünden seien so zahlreich, dass der Herr dich nicht erhören kann. Du irrst dich, denn sein Herz ist voller Barmherzigkeit. Wenn dich dein Elend dennoch bedrückt, dann tritt vor ihn hin wie der Zöllner: Herr, da bin ich, tu mit mir, wie du willst!“4

Ohne die Gnade Gottes vermögen wir nichts. Mit ihrer Hilfe aber sind wir fähig, die Heiligkeit zu erlangen, wenn wir auf seine Liebe zu uns vertrauen. Es ist dieses Vertrauen und nicht die durch unsere Werke erreichte Vollkommenheit, was uns in den Himmel führen kann: „Mach dir keine Sorgen darüber, dass du aus Lehm bist. Denn du und ich, wir sind Kinder Gottes (...), auserwählt vor der Grundlegung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor ihm (Eph 1,4). Wir werden wirksam sein, wenn wir die Demut nicht verlieren, wenn wir das Bewusstsein unserer Hinfälligkeit nicht verlieren.“5


SEIN LEBEN LANG war Jesus Christus ein Beispiel der Demut: Obwohl er Gott war, wollte er in allem den Menschen gleich sein, außer in der Sünde. Und so lebte er dreißig Jahre lang als Sohn eines Handwerkers in einem unbedeutenden Dorf Galiläas. „Das sollte das Ziel eines jeden von uns sein, meine Kinder“, schrieb der heilige Josefmaria: „unbemerkt zu bleiben, Christus nachzuahmen (...), Maria nachzuahmen, die, obwohl sie Mutter Gottes ist, sich gerne seine Magd nennt: ecce ancilla Domini (Lk 1,38). Gott möchte, dass wir demütig sind. Das bedeutet nicht, dass ihr im Beruf oder im geistlichen Leben nichts erreichen sollt, sondern dass ihr alles tut, ohne euch selbst zu suchen, mit ehrlicher Absicht. Wir leben nicht für diese Welt noch für unsere Ehre, sondern für die Ehre und Herrlichkeit Gottes, für den Dienst an Gott: Das allein bewegt uns.“6

Der Weg, um wie Jesus demütig zu werden, führt über das Dienen. Wer für andere lebt und sich um die Probleme seiner Mitmenschen so kümmert, wie er sich um seine eigenen kümmert, wird erfahren, dass sein Herz sich weitet und Platz für Christus schafft, der in uns leben möchte (vgl. Gal 2,20), sowie auch für unseren Nächsten. So werden wir in der Lage sein, sein Reich der Liebe und des Friedens auf der ganzen Erde zu verbreiten. „Guter Jesus“, so betete der heilige Josefmaria, „wenn ich Apostel sein soll, musst du mich sehr demütig machen. Die Sonne lässt alles aufleuchten, was sie berührt: Herr, erfülle mich mit deinem Licht, durchdringe mich ganz – auf dass ich mit deinem liebenswerten Willen eins und zu dem Werkzeug werde, wie du es wünschst. Schenke mir deine Torheit der Erniedrigung, die dich dazu geführt hat, arm auf die Welt zu kommen, ein unscheinbares Arbeitsleben zu führen, die Schande zu erleiden, an ein Holz genagelt zu sterben, dich durch die Gegenwart im Tabernakel zu entäußern. Gewähre mir, mich selbst zu erkennen! Mich zu erkennen und dich zu erkennen. Dann werde ich meine Nichtigkeit nie mehr vergessen.“7

Papst Leo XIV. erinnerte daran, dass das Evangelium die Demut als die vollkommenste Form der Freiheit versteht (vgl. Lk 14,11). Sie befreit uns davon, ständig um uns selbst zu kreisen, und öffnet unseren Blick für Gott. Der heilige Josefmaria hielt fest: „Wer sich selbst erhöht, scheint in der Regel nichts Interessanteres als sich selbst gefunden zu haben und ist im Grunde genommen sehr unsicher. Wer jedoch verstanden hat, dass er in den Augen Gottes sehr kostbar ist, wer tief in seinem Inneren spürt, dass er ein Sohn oder eine Tochter Gottes ist, hat Größeres, worauf er stolz sein kann, und eine Würde, die von selbst strahlt.“8 Wir bitten unsere Mutter im Himmel, dass sie uns vom Herrn diese tiefe Demut erwirkt.


1 Hl. Augustinus, Die heilige Jungfräulichkeit, Nr. 51.

2 Hl. Augustinus, Brief 118.

3 Miguel de Cervantes, Beispielhafte Novellen III.

4 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 253.

5 Hl. Josefmaria, Brief 2, Nr. 20.

6 Hl. Josefmaria, Brief 1, Nr. 20-21.

7 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 273.

8 Leo XIV., Angelus-Gebet, 31.8.2025.