ES WAR EINMAL ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag glanzvolle Feste feierte (Lk 16,19). So beginnt das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus. Der eine lebte im Überfluss, während der andere vor der Tür seines Hauses davon träumte, sich von den Resten zu ernähren, die von seinem Tisch fielen. Er war schon so geschwächt, dass er nicht einmal mehr die Kraft aufbringen konnte, die Hunde zu verjagen, die kamen, um seine Wunden zu lecken.
In dieser Geschichte des Herrn fällt vor allem die Blindheit des reichen Prassers auf. Er wird Lazarus oft halbtot vor der Tür seines Hauses liegen gesehen haben; ihn manchmal vielleicht sogar verächtlich weggeschoben haben, damit seine Gäste eintreten konnten. Aber zu keinem Zeitpunkt hält er inne, um ihn wirklich zu betrachten. Er ist nicht bereit, seine Zeit mit einer Person zu verschwenden, die ihm keinen Nutzen bringt. Papst Franziskus sagte: „Lazarus, der vor der Tür liegt, ist eine lebendige Ermahnung an den Reichen, sich an Gott zu erinnern, aber der Reiche nimmt diese Ermahnung nicht an.“1 Er steckt so sehr in seiner eigenen Bequemlichkeit und seinem Egoismus, dass er nicht fähig ist zu erkennen, dass in diesem armen Menschen die Tür zu seiner Befreiung liegt. Und wie es dem reichen Prasser ergeht, so kann es jedem von uns gehen. Hätte er Lazarus in sein Leben eintreten lassen und zumindest seine Zeit mit ihm geteilt, wäre er in einer besseren Position gewesen, um dem Herrn zu begegnen – denn der Reichtum Gottes zeigt sich oft in der Armut der Menschen.
Jesus lädt uns ein, die Bedürfnisse unserer Mitmenschen wahrzunehmen und für unsere Umgebung sensibler zu werden. Wenn wir mit Christus zusammen leben, gewinnt unsere Sorge um die Bedürftigen an Raum – und wir kümmern uns weniger um unsere eigenen Probleme. Deshalb konnte der heilige Josefmaria schreiben: „Die Armen ‒ sagte unser Freund ‒ sind wie ein geistliches Buch, das mich innerlich weiterbringt, und das Hauptthema meines Gebetes. Sie bereiten mir Schmerz, und weil ich in ihnen Christus begegne, ist es sein Schmerz, der mir wehtut ... Und dieses Wehtun lässt mich innewerden, daß ich ihn liebe und dass ich sie liebe.“2
DIE TRANSZENDENZ des Gleichnisses Jesu vom reichen und vom armen Mann wird im zweiten Teil offenbart. Der Herr sagt uns, dass die beiden Gestalten nach einer Weile sterben. Doch während der arme Lazarus, der an ein Leben in Hunger und Unbehagen gewöhnt ist, von den Engeln in Abrahams Schoß aufgenommen wird, steigt der reiche Mann in die Hölle hinab und erleidet unbeschreibliche Qualen. Seltsamerweise blickt der reiche Mann zu Lazarus erst hin, als ein unüberwindbarer Abgrund sie trennt. Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus; er soll die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer(Lk 16,24), bittet er. Gewohnt an ein Leben voller Vergnügungen, sah er in anderen Menschen auch nach seinem Tod nur Werkzeuge zur Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse.
Das kühle, abweisende Verhalten des reichen Prassers gegenüber anderen bestimmt letztlich sein ewiges Schicksal. Aufgrund seiner Unfähigkeit, Erbarmen mit den Bedürfnissen seines Nächsten zu empfinden, war es ihm unmöglich, sich der göttlichen Barmherzigkeit zu öffnen – dem einzigen Weg, der direkt in den Himmel führt. Papst Franziskus fährt fort: „Das Gleichnis warnt sehr deutlich: Die Barmherzigkeit, die Gott uns schenkt, ist an unsere Barmherzigkeit gegenüber unserem Nächsten gebunden: Wenn diese fehlt, dann findet auch jene keinen Raum in unserem verschlossenen Herzen und kann nicht eintreten. Wenn ich die Tür meines Herzens nicht weit öffne, dann bleibt diese Tür verschlossen. Auch für Gott.“3 Jedes Mal, wenn wir Gottes Barmherzigkeit erfahren, ergeht an uns die Aufforderung, uns um die zu kümmern, die unser Mitgefühl brauchen. In seinem Gleichnis erinnert uns Jesus daran, dass wir nur dann die „göttlichen Wege der Erde“4 errichten können, wenn wir unsere Städte in barmherzigere Orte verwandeln.
„DIE CHRISTLICHE SORGE um die anderen“, so erinnert der Prälat des Opus Dei, „entsteht aus unserer Verbindung mit Christus und aus unserer Identifikation mit der Aufgabe, zu der er uns berufen hat.“5 Im Gebet richten wir unsere Gefühle an den Empfindungen Jesu aus. Wenn wir Jesus in der Einfachheit der Eucharistie aufmerksam betrachten oder seine Nähe in der Tiefe unserer Seele spüren, werden wir die Größe verstehen, die in den Worten des heiligen Paulus verborgen ist: Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er um euretwillen arm wurde, obwohl er reich war (2 Kor 8,9). Auch wir werden das Bedürfnis verspüren, unsere kleinen Reichtümer loszulassen, um sie mit denen zu teilen, die sie am meisten brauchen.
„Wir sind für die Menge da“, schrieb der heilige Josefmaria. „Wir sperren uns niemals ein, wir leben im Angesicht der Menschenmenge und haben die Worte Jesu Christi, unseres Herrn, im Herzen: Ich habe Mitleid mit dieser Menschenmenge, denn sie sind seit drei Tagen bei mir und haben nichts zu essen.“6 Einem Christen sind die Leiden der Welt nicht gleichgültig; im Gegenteil, da er weiß, dass er ein Kind Gottes ist, weiß er, dass er Erbe der Welt ist – samt ihren Schwierigkeiten. Deshalb können wir Jesus bitten, uns ein Herz nach seinem Maß zu schenken, „damit darin alle Bedürfnisse, Schmerzen und Leiden der Männer und Frauen unserer Zeit Platz finden, besonders der Schwächsten“7.
Maria betrachtete sich immer als arm in den Augen Gottes und war daher immer in der Lage, die Spuren seines Wirkens zu erkennen. Dieser göttliche Reichtum ermöglichte es ihr, sich der Armut ihrer Mitmenschen bewusst zu werden, d. h. ihrer Bedürfnisse. Wir bitten sie, uns für unsere Mitmenschen sensibler zu machen, weil wir wissen, dass wir dort den Himmel finden.
1 Franziskus, Audienz, 18.5.2016.
2 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 827.
3 Franziskus, Audienz, 18.5.2016.
4 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 314.
5 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 1.11.2019, Nr.10.
6 Hl. Josefmaria, Brief 24, Nr. 23.
7 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 14.2.2017, Nr. 3.
