JESUS ist bei einem Pharisäer zu Gast. Dieser hatte großes Interesse daran, einen Mann, der so viele Wunder vollbracht hatte, in seinem Haus zu empfangen und mit ihm zu speisen. Doch kaum hatten sie sich niedergelassen, trat eine Frau ein – eine bekannte Sünderin. Der Pharisäer war wohl entsetzt: Wie konnte jemand wie sie gerade in diesem Moment und vor einem so hohen Gast erscheinen? Und es blieb nicht bei ihrem Erscheinen. Kühn kniete sie sich Jesus zu Füßen, benetzte diese mit ihren Tränen, trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes, küsste sie und salbte sie mit dem Öl (Lk 7,38), das sie in einem Alabastergefäß mitgebracht hatte.
Diese Frau wollte sich nicht länger von ihrer Vergangenheit und ihren Sünden bestimmen lassen. Sie wusste um ihre Fehler und drückte ihre Reue in einer demütigen und zugleich mutigen Geste der Liebe aus. Ihre Schuld hatte sie von Gott und den Menschen entfremdet – doch gerade dieses Bewusstsein führte sie nun zu Jesus, auch wenn sie nicht eingeladen war. Christus, der ihren tiefen Wunsch nach Umkehr erkannte, schenkte ihr, wonach sie suchte: den Frieden des Herzens und die Vergebung ihrer Sünden (vgl. Lk 7,50). Der heilige Josefmaria empfahl: „Bitte Jesus, dir eine Liebe zu schenken, die wie ein reinigendes Feuer ist, in dem dein armes Fleisch – dein armes Herz – von allem irdischen Elend gereinigt wird … Wenn du dann von deinem Ich entleert bist, wird er allein dein Herz erfüllen. Bitte ihn um die Kraft, dich radikal vom Irdischen zu lösen, damit dich allein die Liebe trägt!“1
WIE SOLLTE man sich einer solchen Frau gegenüber verhalten? Das Evangelium stellt zwei Sichtweisen einander gegenüber. Einerseits die Perspektive des Pharisäers. Er ist in erster Linie auf sich selbst fixiert und denkt: Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist (Lk 7,39). Er verachtet sie, zweifelt an Jesu prophetischen Fähigkeiten und begeht einen weiteren entscheidenden Fehler: Er verkennt die eigene Sünde. Während er die Frau als Sünderin abstempelt, hält er sich selbst für gerecht und glaubt, keine Vergebung nötig zu haben.
Auf der anderen Seite die Sichtweise Jesu. Sie ist von Barmherzigkeit geprägt. Der Herr sieht den Mut der Frau, die keine Angst hat, das Haus eines anderen zu betreten. Er erkennt ihre Demut, die sie dazu bringt, sich ihm zu Füßen zu werfen, und ist tief bewegt, als sie vor ihm weint. Für Jesus ist sie nicht in erster Linie eine Sünderin, sondern eine Frau, die voller Liebe Gottes Herz zu erreichen sucht. Der heilige Josefmaria betonte: „Schau, wie Gottes Gerechtigkeit von Erbarmen überfließt! – Denn bei menschlichen Gerichten wird der geständige Täter bestraft, beim göttlichen Gericht wird ihm verziehen.“2
Die Szene verdeutlicht, wie Papst Benedikt einmal sagte: „Wer auf sich selber und seine eigenen Verdienste vertraut, ist durch sein Ich wie geblendet und sein Herz verhärtet sich in der Sünde. Wer sich dagegen als schwach und sündig erkennt, überlässt sich Gott und empfängt von ihm Gnade und Vergebung.“3 Wir wollen den Herrn daher bitten, dass wir, wie diese Frau, in Demut zu ihm finden, wenn die Sünde auf uns lastet. Der heilige Josefmaria ermutigt uns: „Ja, du hast recht, du steckst tief im Elend. Auf dich selbst gestellt – wo wärest du jetzt, wie weit hättest du es gebracht? … Du erkennst: ,Nur eine Liebe voller Barmherzigkeit kann mich noch lieben.‘ Sei getrost: Wenn du ihn suchst, wird er dir weder seine Liebe noch seine Barmherzigkeit versagen.“4
DER PHARISÄER beginnt sich unwohl zu fühlen. Jesus hat in seinem Herzen gelesen und weist ihn darauf hin: Nicht er, sondern die Frau war die wahre Gastgeberin: Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser für die Füße gegeben; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und sie mit ihren Haaren abgetrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; sie aber hat, seit ich hier bin, unaufhörlich meine Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haupt mit Öl gesalbt; sie aber hat mit Balsam meine Füße gesalbt (Lk 7,44-46). Ihr Herz war ein offenes Haus, bereit, den Herrn aufzunehmen.
Auch unsere kleinen Gesten der Liebe entgehen Christus nicht: die Andacht, mit der wir an der Messe teilnehmen, die kleinen Abtötungen, die wir täglich für ihn bringen, ein kurzer Moment der Sammlung, bevor wir mit unserer Arbeit beginnen ... Mit jeder dieser Gesten zeigen wir, ähnlich wie die Frau im Evangelium, die Liebe, die wir für den Herrn empfinden. Der heilige Josefmaria sagte dazu: „Dem, der liebt, entgeht keine auch noch so winzige Kleinigkeit. Ich habe das bei vielen Menschen gesehen: Diese kleinen Dinge sind etwas sehr Großes – sie sind Liebe!“5
Jesus wird uns keinen Vorwurf machen, wenn wir solche Zeichen der Liebe gelegentlich vernachlässigen, so wie er den Pharisäer nicht direkt tadelte. Er wird jedoch aufdecken, wenn wir hart und herablassend anderen gegenüber sind: Wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden (Mt 7,2). Deshalb bitten wir Maria um einen mütterlichen Blick auf unsere Brüder und Schwestern, der uns hilft, die Fehler der anderen zu relativieren und ihre guten Eigenschaften zu würdigen.
1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 814.
2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 309.
3 Benedikt XVI., Ansprache, 7.3.2008.
4 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 897.
5 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 443.
