WIR SIND heute eingeladen, jene letzten Augenblicke im Leben Jesu zu betrachten, in denen er die Gesellschaft seiner Mutter nicht missen wollte. Rein menschlich gesehen erscheint die Szene trostlos: ein zum Tode Verurteilter kurz vor seinem Dahinscheiden im Beisein seiner Mutter. Doch der Glaube erhellt dieses Bild und hilft uns, jenseits der Schatten auch Licht zu erkennen. Mit der Liturgie wagen wir sogar auszurufen: „Selig bist du, Jungfrau Maria! Ohne den Tod zu erleiden, hast du die Palme des Martyriums verdient unter dem Kreuz des Herrn.“1
Warum nennt die Kirche die Gottesmutter selig, als sie unter dem Kreuz ihres Sohnes stand? Dies erschließt sich nur im Licht des Paschageheimnisses des Herrn. Marias inneres Martyrium, ihr unsagbarer Schmerz angesichts des Leidens Jesu, wurde überstrahlt von einer einzigartigen und mächtigen Teilhabe an der Freude über seine Auferstehung. Im Anblick der Schmerzen der Gottesmutter wird uns bewusst: In Christus hat das Leiden nicht das letzte Wort. Es kann stets mit etwas Größerem verbunden werden – mit dem Werk der Erlösung aller Menschen.
Die heutige Messe endet mit dem Gebet: „Herr unser Gott, gib, dass wir im Gedenken an die Schmerzen der seligen Jungfrau Maria bereit sind, die Bedrängnisse unseres Lebens zu ertragen, und so ergänzen, was noch fehlt an den Leiden Christi für seinen Leib, der die Kirche ist.“2 Die Gottesmutter erfuhr das Geheimnis der Vereinigung ihrer Schmerzen mit dem Kreuz Jesu auf ganz besondere Weise. Sie zeigt uns, dass Leid – ob groß oder klein – uns nicht in uns selbst verschließen muss. Im Licht der Auferstehung können wir es vielmehr als Weg verstehen, der uns Christus und den Menschen an unserer Seite näherbringt.
DER HEILIGE JOSEFMARIA beschreibt eindringlich die Begegnung Jesu mit seiner Mutter auf dem Kreuzweg: „Mit unermesslicher Liebe schaut Maria auf Jesus, und Jesus auf seine Mutter. Ihre Blicke begegnen sich, und jeder ergießt seinen Schmerz in das Herz des anderen. Das bittere Leiden Christi überflutet die Seele Mariens.“3 Wie so viele Mütter ihren Schmerz zurücktreten lassen, um das Leid ihrer Kinder zu lindern, so auch Maria: Sie öffnet ihr Herz dem Schmerz, um Jesus Trost zu spenden.
Künstler aller Jahrhunderte haben uns die Tränen, die Unsere Liebe Frau am Fuße des Kreuzes vergoss, in Erinnerung gehalten. Doch diese Tränen waren nicht bloß Ausdruck menschlicher Trauer, sondern wurden durch die Gnade Christi verwandelt, wie Papst Franziskus lehrt: „Ihr ganzes Leben, ihr ganzes Wesen, alles in Maria ist verklärt in vollkommener Vereinigung mit ihrem Sohn und seinem Heilsgeheimnis (...) Deshalb sind die Tränen der Jungfrau ein Zeichen des Erbarmens Gottes, der uns immer vergibt; sie sind ein Zeichen des Schmerzes Christi über unsere Sünden und über das Böse, das die Menschheit heimsucht, besonders die Kleinen und Unschuldigen.“4
Auch unser Leben bleibt nicht vom Kreuz verschont – im Großen wie im Kleinen. Die Schmerzensmutter lehrt uns, dass wir in den Stunden der Prüfung nicht allein sind. Ihrem Auftrag gemäß, den sie aus den letzten Worten Jesu empfangen hat, breitet sie ihren mütterlichen Schutz über uns aus. So dürfen wir gewiss sein: Es gibt immer jemanden, der unser Leid mit uns teilt und uns mit aufrichtiger Liebe begleitet. In Maria finden wir Trost und neue Kraft.
DAS HEUTIGE FEST lädt uns dazu ein, unsere Herzen von Mitgefühl prägen zu lassen. Wer könnte den Schmerz Mariens ermessen und dabei gleichgültig bleiben? „Wer könnt’ ohne Tränen sehen Christi Mutter also stehen in so tiefen Jammers Not?“5 – die Worte des Stabat Mater wollen uns zur Umkehr bewegen. Der Anblick der leidenden Mutter des zu Unrecht verurteilten Sohnes erschüttert uns und mahnt, das Leid, das das Böse in der Welt hervorruft, nicht zu übersehen, sondern wie Maria ins eigene Herz aufzunehmen.
Vom Gründer des Opus Dei wird berichtet, dass er vor allem in seinen letzten Lebensjahren „mit großer Intensität betete, wenn er die Nachrichten im Fernsehen verfolgte: Was er hörte, empfahl er Gott und bat um den Frieden in der Welt.“6 Auch wir können Maria bitten, in uns eine ähnliche Sensibilität zu wecken – damit uns das Leid, dem wir im Alltag begegnen oder von dem wir in den Medien erfahren, nicht gleichgültig lässt.
„Lass mich wahrhaft mit dir weinen“, heißt es weiter im Stabat Mater, „mich mit Christi Leid vereinen, solang mir das Leben währt. Unterm Kreuz mit dir zu stehen, unverwandt hinaufzusehen, ist es, was mein Herz begehrt.“7 Mitgefühl ist keine Schwäche. Die Schmerzensmutter zeigt uns am Fuß des Kreuzes die Kraft der Barmherzigkeit: Sie richtet die Bedrängten auf und sät Frieden. So ermutigt der heilige Josefmaria: „Bewundere den Starkmut der Jungfrau Maria: am Fuß des Kreuzes, in tiefem Schmerz – es gibt keinen Schmerz wie den ihren –, voller Festigkeit. Bitte sie um diesen Starkmut, damit du lernst, unter dem Kreuz auszuhalten.“8
1 Schott-Messbuch, 15. September. Gedächtnis der Schmerzen Mariens, Ruf vor dem Evangelium.
2 Ebd., Schlussgebet.
3 Hl. Josefmaria, Der Kreuzweg, IV. Station.
4 Franziskus, Audienz, 23.4.2022.
5 Sequenz Stabat Mater.
6 Sel. Álvaro del Portillo, Über den Gründer des Opus Dei.
7 Sequenz Stabat Mater.
8 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 508.
