JAIRUS ist Synagogenvorsteher in Kafarnaum, angesehen, beliebt und geachtet. Doch heute ist ein sehr trauriger Tag in seinem Leben: Gerade musste er mitansehen, wie seine Tochter verstarb. Sie hatte seit einiger Zeit an einer Krankheit gelitten, die trotz aller Versuche nicht geheilt werden konnte. Während die Angehörigen in sein Haus strömen, um das Mädchen zu betrauern, kommt Jaïrus in den Sinn, dass noch nicht alle Hoffnung verloren ist. Er erinnert sich, von einem Mann gehört zu haben, der Wunder vollbringt, und macht sich auf, ihn zu suchen. Als er Jesus findet, wirft er sich vor ihm nieder und fleht: Meine Tochter ist eben gestorben; komm doch, leg ihr deine Hand auf und sie wird leben! (Mt 9,18).
In den Worten des Synagogenvorstehers liegt Trauer wie Hoffnung. Kurz beschreibt er die Lage: Meine Tochter ist eben gestorben, und schon folgt die Bitte: Komm doch, leg ihr deine Hand auf. Es ist eine flehende Bitte, die aus dem Glauben und dem Vertrauen in die Allmacht Jesu kommt. Der Mann trotzte dem gesunden Menschenverstand, als er sich an den Herrn wandte, und er tat dies, weil er fest davon überzeugt war, dass ein Wunder möglich war. Deshalb ist er gewiss: Sie wird leben. Das Gebet des Jaïrus kann uns mit seinem Dreiklang – Anlass, Bitte, Akt der Hoffnung – als Vorbild für unser eigenes Gebet dienen.
„Alles hat seine Zeit“, sagte der heilige Josefmaria einmal, „unser Herr kennt unsere Nöte gut. Doch er möchte, dass wir ihn mit dem gleichen Nachdruck bitten wie die Gestalten im Evangelium.“1 Jaïrus hatte Jesus mit seiner Bitte bewegt. Der Herr war bereit, das Wunder zu vollbringen. Durch unser Bittgebet möchte er uns an seinem Wirken teilhaben lassen. Außerdem kräftigt das Bittgebet unseren Glauben und führt uns nach und nach in das Geheimnis des Willens Gottes ein.
WÄHREND Jesus mit seinen Jüngern unterwegs ist zum Haus des Jaïrus, nähert sich ihm unbemerkt eine kranke Frau. Matthäus berichtet, dass sie seit zwölf Jahren unter einem Blutfluss litt. In dieser Zeit hatte sie ihr ganzes Vermögen für Heilmittel ausgegeben, jedoch ohne Erfolg. In diesem Moment spürte sie, dass Jesus ihr geben konnte, was sie sich so verzweifelt wünschte. Sie trat von hinten heran und berührte den Saum seines Gewandes; denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt (Mt 9,20-21).
Als der Herr merkte, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, wandte er sich um, und als er sie sah, sagte er: Hab keine Angst, meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet! (Mt 9,22). Anders als Jaïrus hatte diese Frau vermieden, ihre Bitte laut vorzutragen. Möglicherweise schämte sie sich für ihre Krankheit und fühlte sich nicht stark genug, um vor all den anwesenden Leuten ihr Leiden zu erklären. Stattdessen vollzog sie eine Geste, die menschlich gesehen nicht viel Sinn hatte, aber von einem kühnen Glauben getragen war: Sie berührte den Mantel Jesu. Und was alle damals verfügbaren Therapien nicht zustande gebracht hatten, wurde durch diesen diskreten Akt des Glaubens erwirkt.
Papst Franziskus erklärte: „Daraus verstehen wir, dass auf dem Weg des Herrn alle zugelassen sind: Niemand soll sich als Eindringling, Unbefugter oder Rechtloser fühlen. Für den Zugang zum Herzen Jesu, gibt es nur eine Voraussetzung: zu spüren, dass man der Heilung bedarf, und sich ihm anzuvertrauen.“2 Welche Krankheiten schleppe ich möglicherweise mit mir, über die ich vielleicht nicht einmal nachzudenken wage und die ich nicht nach außen tragen möchte, ähnlich wie jene kranke Frau? Glaube ich daran, dass Gott stark genug ist, mich zu heilen, wenn es das Beste für mich ist?
ALS JESUS das Haus des Jaïrus betrat und die Flötenspieler und die Menge der klagenden Leute sah, wandte er sich an die Anwesenden und sagte: Geht hinaus! Das Mädchen ist nicht gestorben, es schläft nur (Mt. 9,24). Wie der Evangelist berichtet, lachte die Menge den Herrn daraufhin aus (vgl. Mt 9,23-24). Jaïrus ließ sich durch das Gelächter nicht beirren, schickte die Gäste fort und führte Jesus in das Zimmer seiner Tochter. Und dieser nahm das Mädchen bei der Hand und heilte sie: Da stand es auf (Mt 9,25).
Wir dürfen uns – wie Jaïrus – nicht beirren lassen, wenn wir sehen, dass unsere Gebete nicht sofort Früchte tragen und andere unseren Glauben nicht ernst nehmen. Gott legt großen Wert auf unser vertrauensvolles beharrliches Gebet, denn er weiß, dass wir durch diese Bemühung gestärkt und unsere Herzen in dieser Hoffnung geläutert werden. Oft liegt das Wunder gerade darin und ist deshalb zwar kaum sichtbar, aber tiefgreifend. Die Ausdauer ist ein Merkmal des Gebets. Papst Franziskus betont: „Gott ist geduldiger als wir, und wer mit Glauben und Beharrlichkeit an die Tür seines Herzens klopft, wird nicht enttäuscht. Gott antwortet immer. Immer. Unser Vater weiß, was wir brauchen; die Beharrlichkeit dient nicht dazu, ihn zu informieren oder zu überzeugen, sondern dazu, in uns die Sehnsucht und die Erwartung zu nähren.“3
Sowohl Jaïrus als auch die kranke Frau zeigen uns, welcher Weg zum Herzen des Herrn führt: das eindringliche und demütige Bittgebet. Der Mann tut es offen, die Frau verborgen. Beide überzeugen Jesus durch das Bekenntnis ihrer Not, ihre Kühnheit und ihren Glauben. Unsere Mutter Maria möge uns helfen, unsere Bitten auf diese Weise an ihren Sohn zu richten.
1 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Beisammensein, 2.1.1971.
2 Franziskus, Angelusgebet, 1.7.2018.
3 Franziskus, Audienz, 11.11.2020.