Warum gibt es immer noch Heiligsprechungen ?

Auszug aus einem Interview mit Kardinal José Saraiva Martins, dem Präfekten der Kongregation für die Heiligsprechung. Kardinal Saraiva nahm am Symposium “Zeugen des 20. Jahrhunderts, Lehrer des 21. Jahrhunderts” teil, das im April 2002 in Sevilla stattfand.

Auszug aus einem Interview mit Kardinal José Saraiva Martins, dem Präfekten der Kongregation für die Heiligsprechung. Kardinal Saraiva nahm am Symposium “Zeugen des 20. Jahrhunderts, Lehrer des 21. Jahrhunderts” teil, das im April 2002 in Sevilla stattfand.

Seit der Einführung der Kongregation für die Heiligsprechung im Jahre 1588 bis zur Wahl von Papst Johannes Paul II., gab es 296 Heilig- und 808 Seligsprechungen. Während seines Pontifikates hat Johannes Paul II. 459 Personen heilig- und 1.274 Personen seliggesprochen.

Warum gibt es noch Heiligsprechungen in der Kirche?

Die öffentliche Anerkennung der Heiligkeit von Märtyrern und heroisch tugendhaften Personen ist im Leben der Kirche seit Beginn bis in unsere Zeit immer vorhanden gewesen. In seinem programmatischen Brief zum Beginn des neuen Jahrtausends hat sich Johannes Paul II. mit einem im Glauben verankerten Optimismus zur herausfordernden pastoralen Aufgabe geäussert, die die Kirche in der gegenwärtigen Situation anzugehen hat. Er zögerte nicht zu betonen, dass die Ausrichtung dieser Pastoral die Berufung zur Heiligkeit ist. In diesem Zusammenhang wollte der Papst im Laufe seines Pontifikates auch die Zahl der Selig- und Heiligsprechungen erhöhen. Wenn die Kirche eine Person heiligspricht, so dankt sie Gott, und ehrt zugleich diese ihre Söhne und Töchter, die der göttlichen Gnade heroisch zu entsprechen wussten und empfiehlt, sie als Fürsprecher und Vorbilder für die Heiligkeit zu nehmen, zu der alle Menschen berufen sind.

Das Symposium in Sevilla, an dem Sie teilgenommen haben, hat einige beispielhafte Christen des 20. Jahrhunderts als Modell für das 21. Jahrhundert hingestellt. Hegen Sie die Hoffnung, dass das Leben und Werk dieser Männer und Frauen unsere krisenhafte Welt ändern kann?

Nur Gott allein bewahrt die Welt in ihrem Sein, und zugleich ist es sein Wille, dass wir alle heilig werden, und sich die ganze Schöpfung ihm zuwendet. Aber er will unsere Mitarbeit, unsere freie Antwort. Jede einzelne Person muss den Plan erfüllen, den Gott für sie vorgesehen hat: die Heiligkeit in ihren konkreten und persönlichen Umständen. Es wäre zu einfach und geradezu irreal, passiv abzuwarten, in der Hoffung, die Strukturen würden sich einfach so ändern. Aber zugleich muss beachtet werden, dass die Heiligkeit nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist, da die Kirche die Familie Gottes ist, und wir nur als ihre Mitglieder das Ziel erreichen können. Jesus Christus ist das Haupt des mystischen Leibes, dem alle angehören, die schon den Himmel erreicht haben, die sich für den Eintritt in die Herrlichkeit noch reinigen, und die noch auf der Erde pilgern. In dieser wunderbaren Gemeinschaft der Heiligen und des Austausches der Güter wird die Heiligkeit des einzelnen Wirklichkeit. Sie fragten, ob ich Hoffnung hätte. Aber sicher! Wir haben vor einiger Zeit das Leiden, Sterben und die Auferstehung des Herrn gefeiert: hier haben wir die Antwort auf die Entmutigung, die sich unser manchmal bemächtigt, wenn wir unsere schwache Entsprechung dem Willen Gottes gegenüber betrachten. Wir müssen jedoch überzeugt sein, dass die Gnade Gottes übermässig ist und alle Schwierigkeiten bei weitem übersteigt.

Warum erfolgte der Heiligsprechungsprozess von Josemaría Escrivá so schnell?

Die Reform des Heiligsprechungsverfahrens, die 1983 von Johannes Paul II eingeleitet wurde, hat den ganzen Gang der Heiligsprechung erheblich vereinfacht. Die Daten sprechen für sich, da einige Prozesse viel schneller geführt wurden als derjenige vom Gründer des Opus Dei. Josefina Bakhita, am selben Tag seliggesprochen wie Josemaría Escrivá, wurde schon vor drei Jahren heilig gesprochen. Auch gab es schon Heiligsprechungen von Personen, die später seliggesprochen wurden, wie zum Beispiel die heilige Maria Josefa vom Herzen Jesu oder Pater Pio, dessen Heiligsprechung am 16. Juni sein wird.

Diese von Johannes Paul II. eingeführten Reformen entsprachen dem Willen des 2. Vatikanischen Konzils, Menschen unserer Zeit zu den Ehren der Altäre zu erheben. Es sollten Leute sein, denen jeder Christ nahesteht, weil sie in den gleichen Situationen ihre Existenz entwickelt, im gleichen kulturellen Umfeld gelebt haben, mit ähnlichen Problemen, die wir im täglichen Leben zu bestehen haben.

Dieses Jahr wird die Hundertjahrfeier der Geburt von Josemaría Escrivá begangen. Ist seine Botschaft, die Berufung der Laien - der gewöhnlichen Christen - zur Heiligkeit, die grosse Revolution, die die Katholische Kirche braucht?

Der selige Josemaría Escrivá lehrte während seines ganzen Lebens, dass jeder Christ “die berufliche Arbeit heiligen, sich in der beruflichen Arbeit heiligen und die anderen durch die berufliche Arbeit heiligen” soll. Das heisst mit anderen Worten “den Alltag heiligen, sich im Alltag heiligen und andere durch den Alltag heiligen". Die Übereinstimmung mit dem Programm, das Johannes Paul II. der Kirche an der Schwelle des dritten Jahrtausends vorgeschlagen hatte, ist frappant: “Vor allem zweifle ich nicht daran, dass die Blickrichtung, nach der sich die ganze Kirche ausrichten soll, die Heiligkeit ist … Die Wege der Heiligkeit sind vielfältig, und der Berufung eines jeden angepasst. Ich danke dem Herrn, dass er es mir geschenkt hat, in diesen Jahren so viele Christen selig- und heiligsprechen zu dürfen. Darunter waren auch viele Laien, die unter Bedingungen, wie sie das ganz gewöhnliche Leben vorgibt, heilig wurden. Es ist jetzt an der Zeit, allen mit Überzeugungskraft diesen ”hohen Maßstab“ des gewöhnlichen christlichen Lebens neu vor Augen zu stellen. Das ganze Leben der kirchlichen Gemeinschaft und der christlichen Familien muss in diese Richtung führen.(Novo Millennio ineunte, n. 29)

Führt es nicht dahin, dass die Botschaft vieler Heiliger unverstanden bleibt, die vor vielen Jahrhunderten und in zahlreichen Fällen in einem Umfeld gelebt haben, das sich von den heutigen in vielerlei Hinsicht unterscheidet ?

Ich verstehe, dass Ihre Frage sich auf die Heiligen als Vorbilder für unser eigenes Verhalten bezieht. Wenn das so ist, dann antworte ich, dass nur Christus unser Vorbild ist. Die Heiligen sind nicht Vorbilder im eigentlichen Sinne, sondern mehr oder weniger perfekte, aber immer unvollständige Kopien und Nachbildungen des wahren Modells, das Jesus Christus ist. Die Heiligkeit steht über der Geschichte, und zwar so, dass sie zugleich gestern, heute und morgen ist, da sie darin besteht, den Plan Gottes für einen jeden von uns zu erfüllen. Aber zugleich ist die Heiligkeit zutiefst in der Geschichte verwurzelt und verwachsen. Das Leben der Heiligen ist uns ein Beispiel, wie die Vereinigung mit Christus in konkreten Umständen Wirklichkeit geworden ist.

José M. Otero Bada, ABC (Spanien), 8.4.2002