Glauben Sie, dass Gott der Herr der Geschichte ist?

Peter Berglar, Arzt, Ordinarius für Neue Geschichte, Köln, Deutschland

Dr.Peter Berglar (+), Professor für Neue und Zeitgenössische Geschichte, ist durch seine Biographien wohlbekannt. Fast alle Persönlichkeiten Berglars sind Schlüsselgestalten der Geschichte, Männer und Frauen, die in wechselhaften Zeiten lebten und sich dessen bewusst waren.

Am Ende seines Lebens schrieb er drei Biographien von Heiligen, die charismatische Gestalten in der Kirche waren: Der hl. Petrus, Thomas Morus und der heilige Josefmaria. Im folgenden Zeugnis schildert Berglar, wie er Josemaría Escrivá kennenlernte.

I. Prolog

Schon daß ich nicht schreibe: »mit Monsignore Escrivá de Balaguer« ist eine erste Aussage. »Monsignore« war er auf dieser Erde. Aber da bin ich ihm nie begegnet. Zu seinen Lebzeiten habe ich ihn weder gesehen noch gehört, nicht mit ihm gesprochen, nicht mit ihm korrespondiert. Hierin muß ich hinter Zehntausenden, die dieses Glück hatten, zurückstehen; gar nicht zu reden von den vielen, die ihn nahe kannten und mehr oder minder lange und oft um ihn waren.

Wenn ich trotzdem von »Begegnung« spreche und sie – sehe ich einmal von der Ehe ab – als die wichtigste in meinem Leben erkenne, dann bedarf das einer Erklärung. Zu dieser Erklärung reichen Allgemeinvokabeln wie »geistig« und »geistlich« nicht aus. Sie sind zwar richtig, aber unspezifisch. Mir liegt daran, jene entscheidende, im strengen Wortsinn schicksalhafte Begegnung, wiewohl sie letztlich »nur« geistiger und geistlicher Natur gewesen ist, in ihrer individuellen Konkretheit und ihrer personalen, an Fleisch und Blut gehefteten Realität sichtbar zu machen.

Warum? Mit Sicherheit gebe ich kein exzeptionelles Beispiel für Erleuchtung durch den Gründer des Opus Dei oder für Berufung zu seinem Werk ab. Aber Schreiben ist mein Beruf, und so wäre es fast anormal, wenn ich über das Ereignis schwiege, von dem an nun meine Zeitrechnung zählt: die Jahre nach der Begegnung mit Josemaría Escrivá sind, obwohl nicht gänzlich abgetrennt von den Jahrzehnten, die ihr vorausgingen, dennoch tief von ihnen unterschieden. Das ist wohl eine Erfahrung, die ich mit den meisten teile, die dem Gründer des Opus Dei begegnet sind, und zwar im Unterschied zu mir ganz normal und direkt und von Mensch zu Mensch. Doch gerade der Umstand, daß dies bei mir nicht der Fall war, hat mich bewegt und nachdenklich gemacht, besonders natürlich, seitdem der Tod Josemaría Escrivás die irdische Begegnung für immer ausschloß.

Seltsamerweise hielt sich mein Kummer darüber – ich gestehe das offen – durchaus in Grenzen, obwohl ein Zusammentreffen für das Frühjahr 1976 in Rom bereits vorgesehen war. Unkenntnis also ersparte mir den Schmerz, den ich gefühlt haben würde, wenn ich gewußt hätte, was mir entging, welch einmalig großes Geschenk mir nun unwiderruflich vorenthalten blieb. Andererseits aber: da war doch etwas im Gange, nicht nur Stumpfheit und Unwissenheit ließen mich die Nachricht vom Tode des Gründers mit einer Art von konventionellem Bedauern aufnehmen, sondern – das erkannte ich später – ich wanderte schon auf der Straße nach meinem Emmaus, und er ging schon seit geraumer Zeit neben mir, freilich so still, behutsam und unauffällig, daß ich ihn im Nebel meiner eigenen Gedankendämpfe noch kaum sah, ihn im Gelärm meiner eigenen Reden noch kaum hörte. Die normale Chronologie schien aufgehoben: in den zwölf Monaten zwischen Juni 1974 und Juni 1975 begleitete er mich, obwohl noch ein lebendiger Mensch auf diesem Planeten und bis zum letzten Atemzug eingebunden in seinen göttlichen Auftrag innerhalb der Menschheitsgeschichte, schon so, wie die Heiligen im Himmel uns begleiten und wie er es nun seit dem 26. Juni 1975 ganz offensichtlich tut und allezeit tun wird. Mit anderen Worten: Josemaría Escrivá traf in den fünfzig Jahren seines Priesterlebens nicht nur mit Tausenden und Abertausenden von Menschen physisch sichtbar zusammen, er formte und leitete nicht nur die Zehntausende seiner geistlichen Kinder in aller Welt auf allerpersönlichste Weise, sondern er hielt auch unsichtbar, immateriell Einzug in viele Herzen, in die Seelen von Menschen, die ihn nie persönlich kennenlernten, ja die kaum etwas von ihm wußten. Wir kennen ihre Zahl nicht und die Früchte nur insoweit, als sie sich, dieser ihrer Herkunft bewußt, zu erkennen gaben.

Mit Bedacht gebrauche ich die Wendung »in das Herz, in die Seele Einzug halten«, die vielleicht etwas gravitätisch klingt, aber ausdrücken soll, daß es sich dabei um etwas existentiell und qualitativ anderes handelt, als ein gutes Buch zu schreiben, das bereichert, als durch Lehre und Rede zu wirken, ja selbst als durch Beispiel und menschliche Sympathie anzuziehen. Dies alles kann vorausgehen oder hinzutreten und wird es auch oft, gottseidank, aber das eigentlich »andere« einer solchen »ocupación del alma«, das zugleich ein »mehr« ist, liegt darin, daß Gott allein handelt. Er sendet den Eroberer aus, er gibt ihm den Schlüssel, der die bestimmte Seele aufschließt, er läßt ihn eintreten, um einen klaren Auftrag auszuführen: etwa aufzuräumen, an Ort und Stelle zu rücken, die Jalousien hochzuziehen, die Fenster zu öffnen … Und all das kann ganz lautlos geschehen, zunächst ganz unbemerkt, über Raum und Zeit hinweg – immer aber folgt Jesus Christus auf dem Fuße, nicht der vorausgesandte Diener nimmt am Tische Platz, sondern der Herr, der ihn schickte. Das ist der Sinn des Wortes von Johannes dem Täufer: »Illum oportet crescere, me autem minui« (Joh 3,30), das der Gründer des Opus Dei besonders liebte und für sich so verstand, daß er immer wieder Gott um die Gnade, bat, selbst ganz verschwinden zu dürfen, damit in seiner Arbeit, in seinem Apostolat allein und ausschließlich Christus sichtbar werde. Freilich: hat das Herz erst einmal bemerkt, wer es ist, der in ihm wohnen will, dann pflegt es in der Regel auch den wiederzuerkennen, der den Einzug vorbereitete und bei ihm mithalf. Das war auch bei mir so, allerdings ging es ziemlich langsam, und als ich endlich begriffen hatte, war es zu spät, um meinem unsichtbar gebliebenen Wohltäter noch auf dieser Erde ein »Dankeschön« zu sagen. Dies nachzuholen, ist, neben der Schriftstellerlust, der zweite Grund für meinen Bericht. Aber es gibt einen dritten Grund, mehr professioneller Natur und vielleicht spezifisch für den Historiker, und der betrifft den Zeitpunkt und die Art und Weise der Begegnung mit Josemaría Escrivá; das, was ich das »Phänomen der historischen Unmittelbarkeit« nennen möchte.

Was ist damit gemeint? Ungezählte Millionen von Menschen sind Jesus Christus in ihrem Leben auf dieser Erde begegnet; zwar ist solche Begegnung immer personales, übernatürliches, geistliches Gnadengeschenk, aber ihren Ort in der Geschichte des Heils, ihre individuelle Einkleidung und ihre historische Gewandung sind verschieden. Da gibt es einmal die Mitlebenden, die Jesus persönlich kennengelernt, die ihn gesehen, gehört, vielleicht berührt haben, die Zeugen seines irdischen Weges waren, vom Stall in Bethlehem bis zum Kreuz auf Golgotha, ja die mit dem Auferstandenen gingen, sprachen, speisten. Eine, gemessen an der Menschheit, winzige Zahl und um ihn in gleichsam konzentrischen Ringen angeordnet, reichend vom engsten Kreis, von der größten Nähe, die Maria und den Aposteln, seinen Freunden, zuteil wurde, bis hin zu den Unbekannten, denen er vielleicht nur für einen flüchtigen Augenblick begegnete. Diesen wenigen gegenüber, die das »Heil sahen« und in deren Mitte der »Sohn des Zimmermanns« und selber Handwerker lebte, perfectus Deus et perfectus homo, das durch Zeit und Geschichte wandernde, aus seinem vergossenen Blut gezeugte Gottesvolk derer, die mit ihm hier »nur« als Kirche, im Glauben, in den Sakramenten Umgang haben können. Zwischen beiden aber eine Gruppe, eine Generation des Übergangs, die gesondert bezeichnet zu werden verdient, weil sie, wenn auch nicht in physisch-sinnenhafter, so doch in historischer Unmittelbarkeit zum Herrn stehend, die Erstlingsfrucht des Apostolats ist. Dazu zählen die, die noch zu Lebzeiten Jesu von ihm, von seinen Lehren, von seinem Wirken Kunde erhielten – vielleicht auch war der eine oder andere von ihnen dem Meister genannt und empfohlen und so ihm bekannt gemacht und seines Gebetes teilhaftig geworden –, ohne aber ihm selbst in Palästina zu begegnen; darüber hinaus alle, die zu Christus geführt wurden durch die von ihm selbst erwählten Apostel und bestellten Jünger oder durch andere aufgrund persönlicher Begegnung mit ihm zum Glauben Gelangte. Dieser historisch klar bestimmte Personenkreis, zu dem als einer der hervorragendsten Vertreter der Evangelist Lukas gehört, stellt die erste apostolische Ernte in der Geschichte der Kirche dar, die er bis fast an die Schwelle des dritten Jahrhunderts führt; erst von da an kann man endgültig sagen, daß niemand mehr lebt, der noch einen Augen- und Ohrenzeugen des Heilands gekannt hat.

Was für die Gesamtkirche gilt, gilt ganz analog auch für die vom Heiligen Geist in ihr erweckten Stiftungen und Gründungen. Das bedarf nun keiner besonderen Ausführungen mehr. In jedem einzelnen Falle ist der Zeitpunkt fixierbar, von dem ab kein Freund, Mitarbeiter, Gefährte oder irgendwie beteiligter Zeitgenosse eines Freundes, Mitarbeiters, Gefährten oder irgendwie beteiligten Zeitgenossen des Gründers noch am Leben ist. Mit anderen Worten: die Nabelschnur der physisch-sinnenhaften, der »natürlichen« Anbindung an den Gründer und Stifter aus Fleisch und Blut fällt endgültig ab, und es bleibt fürderhin bei den rein geistig-geistlichen, übernatürlichen Banden der Treue und Liebe. Aus dieser Anordnung spricht die Weisheit Gottes. Der Mensch ist im Erkennen, Wollen und Handeln schwach, er bedarf des Brückenschlags der Sinne, er will hören, sehen können, um zu lieben. Nur allmählich erfolgt die Ablösung vom Material-Realen, die »Einübung« in das Unsichtbare; langsam nimmt die Dichte der stofflichen Wirklichkeit, der Leibhaftigkeit ab, indes die geistige Nähe wächst und die geistliche Gemeinschaft sich ausbildet. Diese Phase der Einwurzelung ist biologisch und historisch genau definierbar: sie umfaßt zwei Lebensalter, die dritte Generation muß ohne jeden irdischen »Direktkontakt« zum Stifter und Gründer auskommen.

Diese Vorbemerkung erschien mir wichtig; denn ich stehe am Anfang jener »zweiten Generation«, welche zugleich die erste der geistlichen Kinder Josemaría Escrivás ist, die ihren geistlichen Vater nicht mehr persönlich kennengelernt hat; ja, ich zähle buchstäblich zum ersten »posthumen« Jahrgang seiner Söhne. Ich kann mich nicht wie die der »ersten Generation« an ihn erinnern, denn nie bin ich ihm außerhalb meines Inneren begegnet.

II. Die ungewußte Begegnung

Im Jahre 1962 schenkte mir ein Vetter den »Weg«. »Lebensregeln«, sagte er, »von einem spanischen Priester, der auch einen Orden gegründet hat. Einiges gefiel mir recht gut; vielleicht interessiert es Dich.« Nachdem ich kurz geblättert hatte, stellte ich fest: »Aha, Aphorismen, so etwas in der Art von Baltasar Gracián’s ›oráculo manual‹ und Goethes ›Reflexionen und Maximen‹«, dann ordnete ich das Bändchen in meine Bibliothek unter »Diverses« ein und vergaß es vollkommen. Sicher kann man das keine »Begegnung« mit Escrivá nennen, allenfalls mit dem Namen; bis dahin hatte ich ihn nie gehört.

Gegen Ende des Wintersemesters 1973/74 suchte mich in der Sprechstunde ein Student auf und wollte verschiedenes wissen, was sich auf meine Vorlesung bezog. Dann – ich war bereits aufgestanden – recht übergangslos die Frage: »Glauben Sie, Herr Professor, daß Gott der Herr der Geschichte ist?« Ich setzte mich wieder hin, etwas verblüfft, denn solche Fragen wurden in der Universität kaum jemals erörtert und von Studenten nie gestellt; sie gelten als unwissenschaftlich. »Wenn Sie mich so direkt fragen«, antwortete ich nach einer kleinen Pause, » – ja, ich glaube es.« Schweigen. Das Gespräch stockte. Schließlich fügte ich, etwas akademisch, hinzu: »Das ist jedoch ein großes, kompliziertes Thema, das sich nicht in zehn Minuten, in der Sprechstunde, abhandeln läßt.« Immerhin redeten wir doch noch eine Weile darüber – was im einzelnen, weiß ich nicht mehr –, und am Abend erzählte ich meiner Frau von der »unkonventionellen Frage« eines drittsemestrigen Geschichtsstudenten. Ich ahnte nicht, daß ich eine erste Berührung mit dem Opus Dei gehabt hatte, dem der junge Mann (wie ich später erfuhr) angehörte; eine allererste Begegnung auch mit seinem Gründer …

Es vergingen Monate, ehe ich den Studiosus wiedertraf. Er bat darum, das Gespräch »von damals« fortzusetzen, und er wolle dazu einen Freund, auch Student, Kunsthistoriker, mitbringen, den das Thema ebenfalls »brennend interessiere«. Dieses Kolloquium zu Dritt fand am 18. Juni 1974 bei mir zu Hause statt. Es machte mir – ich muß es so salopp sagen – regelrecht Spaß, den beiden meine Gedanken und Ansichten über das Problem der göttlichen Vorsehung und der menschlichen Willensfreiheit in der Geschichte, über das geheimnisvolle Ineinander von Geschichte und Heil zu entwickeln. Sicherlich redete ich zu viel. Aber ich hatte zwei geduldige und aufmerksame Zuhörer vor mir, mit offenem Blick und guter Laune. Das registrierte ich als spürbaren Unterschied zu einem Großteil der jungen Menschen, mit denen ich täglich umging. Da ich, in meinem Redeeifer, die Besucher wenig zu Wort kommen ließ, hatten sie kaum Gelegenheit, Einwände zu erheben oder Bedenken vorzubringen. Es schien sie nicht zu stören. Vom Opus Dei und von Monsignore Escrivá wurde, wenn überhaupt, nur ganz am Rande gesprochen. »Sympathische Leute«, sagte ich zu meiner Frau, als sie fort waren, »von ihnen geht etwas Frohes aus. Wir haben auch zusammen gelacht.« Später verstand ich, daß mir eine große Lehre über die Grundlage allen Apostolats zuteil geworden war. Ohne Freude, die aufrichtig ist, weil sie das Bewußtsein der Erlösung widerspiegelt, und die ansteckt, weil sie warmherzige Zuwendung zum anderen ausdrückt, kann niemand für die Sache Jesu Christi werben.

Während der Semesterferien, die ich in unserem kleinen Landhaus verbrachte, erreichte mich die Anfrage, ob ich bereit sei, bei der Tagung des »Centro Romano di Incontri Sacerdotali« (CRIS), die in Rom vom 11. bis 13. Oktober stattfinde, ein Referat zu übernehmen. Allein schon die magische Anziehungskraft des Tagungsortes ließ mich nicht lange zögern, und ich sagte zu. Zur gleichen Zeit, vom 17. September bis 28. Oktober 1974 tagte in Rom die Dritte ordentliche Bischofssynode, die das Leitthema »Evangelisation in der Welt von heute« behandelte. Dem entsprach auch die Thematik der CRIS-Veranstaltung: »Esaltazione dell’ uomo e saggezza cristiana«. Auf ihr würde ich, so lautete die Verabredung, den Anfang machen mit dem Vortrag »Weltgeschichte und Gottesreich«; daran anschließen sollte sich am nächsten Abend das Referat des spanischen Philosophen Antonio Millán Puelles (Madrid) über »El problema ontológico del hombre como criatura« und am dritten Abend, als krönender Abschluß, die Ansprache des Kardinals von Krakau, Karol Wojtyla: »L’evangelizzazione e l’uomo interiore«.

Inzwischen wußte ich natürlich, daß CRIS geistig, geistlich und personell von Priestern des Opus Dei geleitet wurde, daß sich in Rom der Zentralsitz des Opus Dei befand und daß sein Generalpräsident der Monsignore Josemaría Escrivá war, von dem man hörte, daß er die ganz normalen Christenmenschen, die Laien, die konsequente Christusnachfolge lehre, und dessen Buch »Der Weg« ich immer noch nicht gelesen hatte. Als ich Bekannten und Freunden von der bevorstehenden Reise erzählte, stellte ich fest, daß die meisten von Opus Dei und Escrivá wenig oder gar nichts wußten, einige aber »Warnungen« und kleinere oder größere Gehässigkeiten anbrachten. Ich fand die verschwommen-impertinente, immer merkwürdig auf dunklen Flüsterton gestellte Abschätzigkeit zwar befremdlich, aber andererseits erweckte sie auch Zweifel an der Kenntnis, bisweilen sogar an der Honorigkeit solcher Informanten. Dennoch, alles in allem, tat dieses Gift seine Wirkung: ein unbestimmtes Mißtrauen war gesät worden; mit innerer Reserve und dem Vorsatz, »vorsichtig« zu sein, brachen wir, meine Frau und ich, am 7. Oktober in die Ewige Stadt auf.

Auf der Stufenleiter der »Begegnung« mit Josemaría Escrivá hatte ich, ohne es zu wissen, die dritte Sprosse erreicht: nach der Begegnung mit dem bloßen Namen, zwölf Jahre zuvor, und nach der mit zwei sympathischen »Vertretern« (so nannte ich sie bei mir selbst), nun die mit der »calumnia«, mit einer leisen dispersiven Feindseligkeit, die darauf aus war, über Unbefangenheit und Vertrauen einen klebrigen Film vagen Vorurteils und unartikulierten Verdachts zu breiten. Man darf einer solchen beklemmenden Erfahrung nicht ausweichen wollen; in der Regel kann man es auch gar nicht, denn sie gehört, als unentbehrlicher Bestandteil, zum Prozeß der inneren Klärung.

Für mich ist diese »dritte Stufe« der Begegnung mit dem Gründer und mit seinem Werk überaus kurz gewesen und hat keinerlei Dauerschaden angerichtet. Das Mißtrauens-Gewölk, in dem ich noch am Morgen des 7. Oktober von Köln gestartet war, hatte sich bereits bis zum Abend spurenlos aufgelöst. Ein klarer römischer Himmel über mir und in mir. Und ruhiger, kontinuierlicher Fortgang der verhüllten, mir unbewußten Begegnung mit Josemaría Escrivá – in seinen Söhnen. Ich lernte während dieser Woche ziemlich viele von ihnen kennen, Deutsche und Österreicher, Italiener und Spanier, Priester und Laien, sie alle kannten den Gründer persönlich, einige waren seit langem und ständig um ihn, aber darüber dachte ich gar nicht nach, es fiel mir überhaupt nicht auf, und es spielte auch in unseren Unterhaltungen kaum eine Rolle. Heute kommt mir das sehr merkwürdig vor: entgegen eigentlich meiner Art fragte ich keineswegs bohrend nach dem Opus Dei oder nach dem Generalpräsidenten, ich machte keine Anstrengung, um mit ihm zusammenzutreffen und nahm es gleichmütig hin, als ich hörte, daß er sich, erschöpft noch von der großen katechetischen Reise durch Südamerika, für einige Tage zurückgezogen habe und keine Besucher empfange. Und auf der anderen Seite: niemand »drängte« mir Opus-Dei-Thematik auf, niemand suchte das Gespräch künstlich in diese Richtung zu lenken oder mir unerbetene Belehrungen und Erklärungen zu geben, niemand inquirierte mich über mein inneres Leben, über meine kirchliche und sakramentale Praxis. Erst viel später erkannte ich, daß mir ein ungeheures Glück zuteil geworden war: das »Apostolat der Freundschaft« in Vollendung.

Lange ehe ich etwas über das Werk zu wissen begann, ehe ich ein Buch des Gründers gelesen hatte, lange ehe er selbst mir ins Bewußtsein und vor die Seele trat, war ich schon klug und sachte an Freundeshand fast unbemerkt auf den Weg gebracht worden, den er vorgezeichnet und begehbar gemacht hat. Und lange ehe ich diesen Weg »verstand« – und er ist ebenso leicht wie schwer zu verstehen und zu gehen –, liebte ich ihn schon, weil ich ihn als einen Weg der »laetitia in cruce«, der Arbeit in der Welt aus Liebe zu Gott und den Menschen, der Hingabe ohne Pathos erfühlte, als einen Weg der Selbstfindung durch Befreiung von jener Ich-Tyrannei, die uns unter das Joch der Angst und der Hybris und einer abgründigen Langeweile zwingt; und ich erfühlte ihn so, weil diese Männer, die ich kennengelernt hatte, ihn ganz gelassen, ganz natürlich, glaubhaft und mit spürbarem inneren Frieden gingen; und sie konnten das, weil sie es, mit der Gnade Gottes, von dem Manne gelernt hatten, den sie »Vater« nannten und der es in einer tieferen umfassenderen Weise, als ich es damals begriff, tatsächlich war. Daß man den guten Baum an seinen guten Früchten erkenne, die Realität dieses Herren-Wortes habe ich damals in Rom und auch später immer wieder als Nutznießer erfahren dürfen. Und eines Tages ging mir auch auf, wie sehr diese »Begegnung ohne Begegnung« mit Josemaría Escrivá eine Erfüllung seines Verlangens gewesen ist, selbst ganz zu verschwinden, damit Christus allein ganz hervortrete.

So werde ich denn nicht müde zu erklären, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, daß meine Begegnung mit dem Gründer des Opus Dei im ersten und entscheidenden Stadium nicht nur nicht physischer, sondern auch nicht intellektueller Natur gewesen ist; sie fand nicht in der Form von »Lektüre« statt, in der man auf den Autor trifft und über ihn und seine Aussagen nachdenkt. Sie vollzog sich durch seine geistlichen Söhne hindurch, lautlos, unsichtbar und zunächst sogar unbewußt. Gerade darin sehe ich heute einen besonderen Gnadenerweis: die Tür des Herzens mußte so geöffnet werden, daß ein feiges oder bequemes, jedenfalls blindes Ich sie weder geschlossen halten noch wieder zuschlagen konnte. Es war, um ein Bild zu gebrauchen, wie wenn einem Schlafenden oder einem Träumer eine große Wohltat erwiesen wird – die er sich vielleicht wachend gar nicht hätte gefallen lassen –, und nun schlägt er langsam die Augen auf und beginnt sie allmählich zu gewahren und erkennt auch nach und nach und schließlich, nachdem der Kopf unter kaltes Wasser gehalten wurde, immer klarer den Wohltäter. Ich muß es mir versagen den »nächtlichen«, den durch die Schlaftrunkenheit der Seele ungewußten, den »initialen« Teil meiner Begegnung mit Josemaría Escrivá weiter auszuführen. Es genügt zu erwähnen, daß ich Jahre später erfuhr, er habe von dem Moment an, da mein mit nach Rom gereister Student aus Köln ihm von mir erzählte, für mich gebetet. Durch dieses Gebet, dessen bin ich sicher, wurde mein Aufwachen bewirkt, und die zweite Phase der Begegnung mit ihm eingeleitet, die taghelle, im Reich des Geistes, an der nun Erkenntnis und Wille teilhatten.

III. Von Rom nach Rom

Verändert kehrte ich nach Deutschland zurück. Das ist keine nachträgliche Behauptung, keine autobiographische Interpretation des Vergangenen, sondern eine nüchterne Feststellung, die ich damals machte und auch bald benennen konnte – und was überzeugender ist: die auch andere bald benennen konnten –, wenngleich ich Dimension und Konsequenz der Veränderung noch nicht ermaß. Ich war fünfundfünfzig Jahre alt, seit meiner Studentenzeit, vor über drei Jahrzehnten, katholisch; mein Leben war in vielfältiger Weise unkonventionell verlaufen, äußerlich und innerlich oft unruhig, ja unstet; meist eine Dschungelwanderung, auf »Wechsel« und »Neues« erpicht, süchtig nach »Erlebnis«. Von Glaube und Kirche hatte ich mich zwar nie völlig getrennt, aber eine nicht eben zaghafte Selbstherrlichkeit sprang mit beidem wie mit einem geistig-geistlichen Dispositionsfond um, dem man willkürlich dies und das entnimmt oder hinzufügt, den man bald so, bald anders »bewertet« oder auch einmal ganz beiseite schiebt. Zu der Zeit, als jener Student mich nach dem »Herrn der Geschichte« fragte, schien bei mir »Meeresstille« zu herrschen: »Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt der Pflüger«, mochte ich mit Hölderlin sagen, »dem Genügsamen raucht sein Herd …« Die Kinder waren erwachsen, Enkel schon vorhanden, einiges, was der Punkt 63 im »Weg« vermerkt, galt auch für mich; der Kompaß stand auf Rückzug aus der trüben, ordinären »Welt«, auf behagliche Einspinnung im Ferienhaus, um endlich nur noch zu schreiben, endlich die Ruhe für »das Werk« (=oeuvre) zu finden. Oder, nochmals Hölderlin: »Friedlich und heiter ist dann das Alter« … Aber gerade das, was dieser Schlußvers der »Abendphantasie« sagt, fehlte ja: weder von Friede noch von Heiterkeit noch eigentlich auch von Alter konnte die Rede sein. Und darin eben beruhte die »römische Veränderung«: ich hatte dort am konkreten Beispiel von Menschen, die den Weg Josemaría Escrivás gingen, erfahren und die Erfahrung auch einigermaßen verstanden, daß Gott Menschen will, die Mitarbeiter, Miterlöser Christi in der Welt sind, indem sie sein Leben der dreißig verborgenen Arbeitsjahre, seine Liebe, seine Lehre und seine Leiden mit allen ihren Kräften nachzuleben versuchen und daß allein daraus, und aus nichts anderem, der Friede, die Freude, die Gelassenheit des Herzens erwachsen, nach denen alle Menschen sich sehnen, die aber so viele mit untauglichen Mitteln zu erreichen trachten. Jahrzehnte lang hatte ich mehr oder minder gescheite, mehr oder minder zutreffende Gedanken und Einsichten in Büchern, Aufsätzen, Reden von mir gegeben, die Menschen aber, die um mich waren, die Arbeitsverhältnisse, die vorhandenen Realitäten dabei als etwas empfunden, das »im Wege war«, das »störte«, das die mir von Rechts wegen »zustehende« Abschirmung und Exklusivität beeinträchtigte. Die Themen der Religion, des Glaubens, das »Nachdenken über Gott« zogen sich zwar durch die meisten Schriften, aber etwa so, wie ein Marinehistoriker aus der Innerschweiz über die Geschichte der Seefahrt schreibt, ohne je den Ozean gesehen oder ein Schiff betreten zu haben. Ja, das war die Veränderung: eine Augenoperation. Mir war, wie man sagt, »der Star gestochen« worden, die Linsentrübung entfernt, die mich so lange Jahre die Welt wie durch einen Grauschleier der Abstraktion und der Egozentrik – und beides hängt auf eigentümliche Weise miteinander zusammen – hatte sehen lassen. Ich erinnere mich noch genau, daß ich bei den Vorträgen, die ich im unmittelbaren Anschluß an die Romreise in drei Städten zu halten hatte, mein Publikum anders sah, die Diskussionsteilnehmer anders hörte als früher, ja, ich möchte fast so weit gehen zu sagen, daß ich die Menschen, von der Garderobenfrau und dem Hausmeister und von der Verkäuferin bis zum Schalterbeamten, überhaupt jedermann, neu und unverstellt und frisch wahrnahm. Plötzlich fühlte ich das Bedürfnis in mir – und allmählich auch die Fähigkeit –, die Zuwendung, die ich selbst erfahren hatte, nun auch von mir aus auf meine Umwelt zu übertragen. Dies aber war, wie ich heute weiß, nächst dem mir anfänglich verborgenen fürbittenden Gebet Josemaría Escrivás die Wirkung des mir freundschaftlich-unaufdringlich nahegebrachten Vorbilds seiner geistlichen Kinder, von denen ich nach und nach immer mehr kennenlernte, und auch der allmählich beginnenden und sich intensivierenden Beschäftigung mit des Gründers Leben und Schriften.

Nicht oft genug kann ich wiederholen, daß ich seinem Geiste in den ungezählten kleinen Dingen, manchmal winzigen Zügen, kaum merklichen Details begegnete, welche insgesamt die Verwirklichung der Christusnachfolge ausmachen, die er die Seinen gelehrt hatte; und daß dies die Art der Begegnung war, die recht eigentlich ansteckte. Davon ließe sich seitenlang berichten; nur ein einziges Beispiel sei erwähnt: für den 27. Juni 1975 war ich im Hause der Kommission des Opus Dei in Köln verabredet. Vom Tode des Gründers am Vortage wußte ich noch nichts. Als ich am Nachmittag dort erschien, war nicht das geringste einer Außergewöhnlichkeit zu bemerken, alles normal wie immer. Das plötzliche Ableben des Vaters wurde mir völlig ruhig, eher beiläufig mitgeteilt, verbunden mit der Bitte um ein Gebet. Was ich erwiderte, weiß ich nicht mehr. Es wird nicht viel mehr gewesen sein als ein: »ach – das tut mir leid. War er krank?« oder ähnliches. Dann verlief alles weitere gemäß dem Zweck meines Besuches. Kein Wort über das Ereignis, das doch einen Schock und einen tiefen Schmerz für die Angehörigen des Werkes bedeutete. Vermutlich habe ich auch an jenem Nachmittag meistens von mir gesprochen, und die Freunde hörten mein Gerede geduldvoll an – mit der Liebe, die der Verstorbene ihnen vorgelebt hatte. Beim Abschied wurde ich eingeladen, drei Tage später, mit meiner Frau zusammen, einen Film von der Südamerikareise Escrivás im Sommer 1974 anzusehen. Die Haltung meiner Freunde angesichts des unerwarteten Todes ihres über alles geliebten geistlichen Vaters hat mich nachhaltiger beeindruckt und mehr von der Richtigkeit ihres Weges überzeugt, als es stundenlange Vorträge hätten tun können. Diese Haltung war nicht Kälte, nicht Unempfindlichkeit oder Krampf: sie war Annahme des Willens Gottes durch felsenfest vertrauende Kinder; die Freude dieser Kindschaft war ein Licht, das auch die dunkelste Nacht erhellte und die natürliche Trauer auflöste wie Sonne den Nebel.

Am 30. Juni 1975 haben meine Frau und ich zum ersten Mal Josemaría Escrivá gesehen – zwar filmisch nur, was unendlich weniger ist als leibhaftig, aber doch mehr als bloß auf einer Fotographie – und gehört. Wir waren zu fünft: außer uns beiden noch zwei Angehörige des Werkes – und der Gründer. Ja, er war wirklich spürbar gegenwärtig, er schien den ganzen Raum zu erfüllen und vor, neben, in jedem einzelnen von uns zu stehen. Wenn ich mich recht erinnere, wurde ein Beisammensein in Santiago de Chile, am 6. Juli 1974, gezeigt. Ich hatte die Empfindung, ich säße mitten in jenem Saal und gehörte auch zu den Fragestellern – und es gab ja für mich noch so viel zu fragen –, und er erkannte mich in der Menge, und zwar durch und durch, bis auf den Grund der Seele, und er lachte und war zugleich wieder ernst, und er antwortete mir ganz persönlich, doch so, daß auch alle anderen das verstanden, was ihnen nottat.

Von diesem Nachmittag an rechnet für mich die bewußte, nun auch intellektuell gesuchte und gewollte Begegnung mit Josemaría Escrivá. Ich las, das war das erste und wichtigste, systematisch von vorn nach hinten den »Weg«, und nicht einmal, sondern immer und immer wieder. Das Geheimnis dieses Buches ging mir langsam auf: es liegt darin, daß die 999 Punkte auf den ersten Blick wie Kalendersprüche wirken mögen, auf den zweiten wie kluge Lebensregeln, auf den dritten wie geschliffene Aphorismen; ferner daß man zunächst meint: nun ja, dieser und jener Satz sind besonders gelungen, der da ist es weniger, dieser für mich ohne Bedeutung, der andere nur teilweise … Daß auf solche Weise ein schlichter Sinn wie ein kompliziertes Hirn, ein wenig gebildeter und ein superphilosophischer Kopf sich »interessieren« können, bis sie schließlich angezogen werden und am Ende erkennen, jeder für sich und nach seiner Art, daß jeder der 999 Abschnitte einem tiefen Brunnen gleicht, den kaum ein Senkblei unseres Nachdenkens ganz auszuloten vermag. »Der Weg«, das ging mir auf, hat mit den großen Werken der Literatur und der Kunst gemeinsam, daß er jeglichem Fassungsvermögen in der optimalen Weise gemäß ist. Wer »gar nichts damit anfangen kann« kann vermutlich mit sich selbst nichts anfangen. Damals habe ich bestimmte Stellen am Rande angestrichen, diese Striche ergeben zusammengenommen die Skizze eines Selbstportraits; es zeigt zwar die Züge aus den Jahren 1974–1976, aber, wie es bei einem Portrait sein soll, zugleich auch die währenden Licht- und Schattenseiten des Abgebildeten. Der Lektüre des »Wegs« folgte die der »Gespräche«, des »Rosenkranzes«, der damals vorliegenden Einzelbetrachtungen und schließlich des 1975 auf deutsch erschienenen ersten Homilienbandes »Es Christo que pasa«. Wenn ich »Lektüre« sage, dann ist das nur äußerlich betrachtet richtig. Es war ein Gespräch, in dem Josemaría Escrivá nun auch um meinen »Kopf« kämpfte, dem das Herz zunächst, wesentlich motiviert durch menschlich-natürliche Sympathie, vorausgeeilt war. Jetzt redete er mit mir in den klaren, tiefen und doch einfachen Worten seiner Bücher und sprach mich unmittelbar an, aus den Erzählungen über ihn und aus den Filmen mit ihm, die ich gelegentlich sah. Und da ich noch nie ein großer Schweiger war, antwortete ich ihm, so gut ich konnte und wie ich es damals verstand: sofern dieses Antworten sich im Innern abspielte, im allmählichen Erwachen oder Wiedererwachen des spirituellen Lebens, gehört es nicht hierher. Doch es spielte sich, untrennbar davon, auch in äußeren Handlungen ab – wie es bei Schriftstellern oft ist: ihr Innenleben fließt aus und gerinnt als Tinte. Die »Leidtragenden« waren in diesem Fall besonders die »Römer«, die Freunde aus dem Jahr 1974, über die zeitweise eine wahre Brief-Flut hereinbrach.

Mein Bedürfnis, dem Gründer des Opus Dei, von dem ich mich im innersten Kern der Person angesprochen fühlte und den ich immer öfter »Vater« zu nennen begann, zu antworten, wuchs unaufhaltsam, und nach und nach begriff ich, daß diese Antwort nur vom ganzen Menschen, und das heißt, in der und durch die Einheit seines Lebens gegeben werden kann. Eine solche Erkenntnis bleibt allerdings Theorie, so lange sie nicht die Ich-Form annimmt und den Willen hervorbringt, mit ihr Ernst zu machen. Dieses Ja zur Umsetzung der von Gott providentiell geschenkten Erkenntnis in tägliches, in alltägliches Leben und bis zum letzten Atemzug, das ist eben anderes und mehr als ein »Beitritt« zu einer ehrenwerten Vereinigung und heißt mit Recht »Berufung«. Immer wieder habe ich Josemaría Escrivá »Befreier« genannt, sowohl in einem ganz persönlichen als auch in einem die gesamte Christenheit meinenden Sinne. Auf dieser Vokabel beharre ich. Denn die Kluft zu schließen, die in Herz und Hirn vieler Menschen – heute wohl der Mehrzahl – besteht zwischen Glaube und Wissenschaft, Rationalität und Gemüt, vor allem aber zwischen »normalem Alltagsleben« und Gotteskindschaft, diese Kluft vom Erkennen, vom Wollen und von der Weisung der Wege und Mittel her zu schließen – das ist eine unermeßlich große, noch längst nicht allgemein verstandene Befreiungstat gewesen. Auf sie allein verdient der Terminus »Befreiungstheologie« angewendet zu werden.

Meiner bewußt erkennenden Begegnung mit dem Gründer des Opus Dei folgte schließlich nach göttlicher und menschlicher Logik die bewußt liebende Begegnung. Auch sie natürlich im Grund ein inneres Geschehen, das der »literarischen« Offenlegung entzogen ist, aber dennoch geheftet an Zeit und Raum. Im Anschluß an Besinnungstage in Castello di Urio (am Comer See) reiste ich nach Rom, diesmal weder als Tourist noch als Redner, sondern als Pilger und Hörender. Ich hatte kein anderes Ziel als die Krypta in der Villa Tevere, dem Zentralsitz des Werkes, wo »der Befreier« seit neun Monaten ruhte. Als ich zum ersten Mal dort an der schlichten schwarzen Marmorplatte mit der Aufschrift »El Padre« kniete, am Nachmittag des 5. April 1976, sah ich in einem einzigen Blick mein ganzes bis dahin gelebtes Leben von siebenundfünfzig Jahren mit äußerster, schärfster Klarheit vor mir. Inmitten des Schmerzes über diesen Anblick erwuchs aber die gewaltige Freude, daß es, wie es auch immer gewesen sein mochte, ein Weg hierher gewesen war. Befreit von dem zwanghaften Wahn, diesem Bildungsbürger-Erbe aus dem 19. Jahrhundert, das eigene Leben als »Kunstwerk« oder »Monument« errichten zu müssen, andernfalls es als gescheitert und eigentlich gar nicht »lebenswert« zu gelten hätte, empfand ich ohne Wenn und Aber das Glück, noch zu später Stunde auf dem Marktplatz vom Weinbergbesitzer entdeckt und angestellt worden zu sein. Im Olymp Goethes einen geachteten Marmorsockel zu erringen, war dem jungen Mann als höchstes Lebensziel erschienen; der alternde war es dankbar zufrieden, auf dem Acker Christi ein paar Steine auflesen zu dürfen. Diese »Kurskorrektur« ist die Frucht der Begegnung mit Josemaría Escrivá gewesen. Als ich am nächsten Tage vor seinem Nachfolger, Don Alvaro del Portillo, stand, wußte ich, die Reise-Zeit des Begegnens war zu Ende und die Arbeits-Zeit unter seinen Augen hatte begonnen.