Mutmaßungen über Gottes Einfallsreichtum

Zum Hochfest Fronleichnam

Allmacht, Güte, Erbarmen – Dankbar, betroffen, ergeben erfährt der Gläubige diese Eigenschaften der unauslotbar reichen Gottheit. Er erfährt sie im Weltgeschehen, das er im Licht des Glaubens als Heilsgeschichte erkennt, wie auch im eigenen Leben, das er von der Vorsehung getragen weiß. Gelegentlich dünkt es ihn, er habe im theologische Diskurs eine Lücke gesichtet: Von Gottes Fantasie ist nie die Rede!

Der Gläubige wundert sich: Ist Gottes schöpferischer Einfallsreichtum nicht die Quelle aller poetischen Bilder und Einfälle? Das sechsmalige „Und Gott sah, dass es gut war“ im Buch Genesis scheint es gleichsam zu bestätigen. Weniger von naturwissenschaftlich-evolutionistischen Gedanken als von seinem spontanen Empfinden inspiriert, meint der Gläubige, die göttliche Eigenschaft „Fantasie“ in der Gestalt mancher Geschöpfe zu erkennen: Waltet nicht Fantasie in der Gestalt des absonderlichen Nashorns oder im Farbschillern des Schmetterlings oder im feurig zitternden Rot des Klatschmohns?

Ans Ziel seiner Mutmaßungen über Gottes Einfallsreichtum gelangt der nachdenkliche Gläubige gerade, wo es um jenes Geschöpf geht, das er „nach seinem Bild und Gleichnis“ erschaffen hat: Der Herr wollte das einmalige Geschehen seines Menschentodes auf Golgota und Auferstehung aus seinem Menschengrab für alle Zeiten Gegenwart werden lassen. Aber alles Menschengeschehen vergeht, es ist ja an seine Zeit gebunden. Aus heutiger Gegenwart wird gestrige Vergangenheit. Wie also konnte Gott trotzdem und für alle Zeiten die Dichte seines Menschensohnes in heutiger Gegenwart erhalten?

Die Antwort Gottes: Durch die Eucharistie. Jesus feiert am ersten Gründonnerstag der Geschichte das Abendmahl. Und unter der Gestalt dieses wiederholbaren Mahles verbirgt er – es vorwegnehmend – das Opfer, das er tags darauf am Karfreitag ein für allemal auf der Höhe des Kalvarienberges vollzieht. Er bringt ein erlösendes Opfer dar für die Menschen damals, für die Menschen heute – für alle, für die Vielen, „pro multis“. Und in der sakramentalen Gestalt der Eucharistie kann dieses eine Opfer immer wieder in unserer Gegenwart sein, „bis Du kommst in Herrlichkeit“ vergegenwärtigt – aktualisiert, nicht wiederholt.

Mühelos überbrückt der Herr so Grenzen, die für Menschen unüberwindbar sind. Die Eucharistie aktualisiert wirklich durch die Zeiten ein einmaliges Geschehen, weil sie jenseits der Zeit, jenseits der Zeiten steht.

In der Sprache der Theologie lesen wir: „Weil Christus seiner sichtbaren Gestalt nach die Seinen verließ, wollte er uns seine sakramentale Gegenwart schenken; weil er sich am Kreuz darbrachte, um uns zu retten, wollte er, dass wir das Zeichen des Gedächtnisses der Liebe bei uns haben, mit der er uns ‘bis zur Vollendung‘ liebte (Joh 13,1), bis zur Hingabe seines Lebens. In seiner eucharistischen Gegenwart bleibt er geheimnisvoll in unserer Mitte als der, welcher uns geliebt und sich für uns hingegeben hat, und er bleibt unter den Zeichen gegenwärtig, die diese Liebe zum Ausdruck bringen und mitteilen." (Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1380)

Am Gründonnerstag, dem Abend der Einsetzung, klingt das liturgische Loblied gedämpft, verhalten. Denn am selben Abend beginnt das Leiden des Herrn. Da lag es nahe, nach Gelegenheiten zu suchen, da man dem Jubel freien Lauf lassen kann. So entstand im Mittelalter das „Hochfest des Leibes und Blutes Christi“ – so die liturgische Bezeichnung von Fronleichnam – stets am Donnerstag der zweiten Wochen nach Pfingsten. Da können Christen singen:

Preis nach Kräften seine Würde

da kein Lobspruch, keine Zierde

seiner Größe gleichen kann.

Im Lateinischen heißt es in wunderbarem Rhythmus:

Quantum potes, tantum aude:

quia maior omni laude,

nec laudare sufficis.

Ja, wage zu loben, nach Kräften zu preisen, so viel du vermagst. Nie wird es dir gelingen, genug zu danken. Wofür zu danken? Jetzt richtet sich der Blick nicht auf das Kreuzesleiden Christi, sondern auf dessen Frucht, die ständige Gegenwart des Herrn im „wunderbaren Sakrament des Altares“.

Den in der Hostie sakramental gegenwärtigen Herrn tragen wir Fronleichnam in Prozession durch die Strassen, von Station zu Station – jedes Mal eine Kurzandacht und ein Segen mit dem Allerheiligsten. Die Wartenden am Straßenrand bekreuzigen sich oder knien nieder. Die Prozession zieht weiter, vorbei auch an überraschten Passanten, an gleichgültigen Bistrobesuchern, an verschlafenen Fensterguckern, die alle den Zug betrachten und nichts ahnen vom göttlichen Spiel mit den Grenzen der Zeit. „Christus geht, in der Hostie verborgen, durch die Straßen und Gassen – wie in seinem Erdenleben – und begegnet allen: denen, die Ihn sehen wollen, und denen, die Ihn nicht suchen. Jesus ist wieder einmal unter den Seinen. Wie stellen wir uns zu diesem Ruf des Meisters? (Josefmaria Escrivá, Christus begegnen, Homilie „Fronleichnam“ Nr 156)

von Josef Arquer