Der verlorene Sohn

oder Der Barmherzige Vater oder Die zwei Brüder – Eine Betrachtung von Peter von Steinitz

"Ach, dass ich dich so spät erkannte, du hochgelobte Schönheit du!" Dieser Ausruf wird dem heiligen Augustinus zugeschrieben. Er reflektiert das innere Erleben eines Menschen, der sich bekehrt hat.

Eine Bekehrung, eine grundsätzliche Lebensänderung, muss nicht unbedingt in dem Bereich stattfinden, in dem der so genannte verlorene Sohn aus dem Lukas-Evangelium (15, 11-32) sein Versagen erkannt hat: Leichtsinn, zügelloses Leben, Verantwortungslosigkeit mitsamt den negativen Folgen, die sich daraus ergeben.

Ein Augustinus hatte zwar auch damit zu tun, aber sein Hauptproblem war gedanklicher Art: Er suchte die Wahrheit. Das ist ein Drang, den wir Menschen mehr oder weniger alle haben. Später bekannte Augustinus, dass er sie jahrelang auf falschen Wegen gesucht hatte.

Oder denken wir an Menschen unserer Zeit, ich nenne den bekannten Journalisten André Frossard und die heilige Edith Stein. Sie und viele andere bekehrten sich zu Christus, ohne dass sie vorher ein liederliches Leben geführt hätten. Frossard beschrieb seinen Weg in einem fesselnden Buch "Gott existiert – ich bin ihm begegnet".

Wenn uns die Kirche in der Fastenzeit zuruft "Kehrt um und glaubt an das Evangelium", dann erreicht dieser Ruf die meisten von uns durchaus nicht in der Lage des verlorenen Sohnes. Vielleicht brauchen wir keine Bekehrung in einer derart radikalen Form, weil wir in mehr oder weniger geordneten Verhältnissen leben. Oder weil wir einfach ein ruhigeres Temperament haben. Oder weil wir in Glaubensdingen keine besonderen Schwierigkeiten hatten. Oder weil wir einfach nicht tiefer darüber nachgedacht haben.

Deshalb kann uns leicht die Frage überkommen: Wie ist es denn mit mir, der ich nicht so ganz „von der Rolle" bin wie der verlorene Sohn oder vor ihrer Bekehrung eine Augustinus oder eine Maria Magdalena? Muss ich etwa auch zuerst tüchtig sündigen, um dann die Barmherzigkeit Gottes zu erfahren? Liebt mich Gott sonst vielleicht weniger?

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat Jesus natürlich absichtlich pointiert und auf die Spitze getrieben. Deshalb greift es uns ja auch immer wieder so ans Herz. – Aber dann gibt es da noch den zweiten Teil desselben Gleichnisses: Er handelt vom älteren Sohn, der nie über die Stränge geschlagen, sondern immer ordentlich zu Hause bei seinem Vater gearbeitet hat. Dieser Sohn kommt viel schlechter weg als sein Bruder Leichtsinn. – Werden etwa Fleiß und Zuverlässigkeit bestraft?

Wenn wir näher hinsehen, erkennen wir, dass auch er versagt. Im Grunde sogar viel schlimmer als der jüngere, weil er sein Versagen nicht erkennt. Es ist wahr, dass er immer zu Hause war. Aber er beruft sich selbstgerecht darauf und ist neidisch auf seinen Bruder.

Wie verheerend ist der Neid! In der Gesellschaft, in unserem Umfeld, in uns selbst. Überall sehen wir diese Treibfeder des Bösen, dieses Laster am Werk. Dahinter stehen wie immer Stolz und Selbstgerechtigkeit, auch wenn sie als Anständigkeit daher kommen. Oft gilt als normal, was eigentlich abartig ist. Oft wird sogar als Liebe ausgegeben, was in Wirklichkeit Egoismus ist.

Von solchen Verirrungen sollten wir uns immer wieder bekehren. Hüten wir uns von der Gedanken und Wertungen des älteren Sohnes. Man sollte aber nicht meinen, besser schwer sündigen wie der jüngere und es dann entsprechend tränenreich bereuen. Aber auch das wäre ein Trugschluss. Wenn wir einen Schritt weiter gehen, erkennen wir: Auch die kleinen Sünden und Untreuen, auch die scheinbar bedeutungslosen Unterlassungen des Guten sind vor der Güte des Vaters – vor der Heiligkeit und Schönheit Gottes – nichts als kleinliche und hässliche Schmutzflecken. Das eigentlich Schlimme an ihnen ist, dass eine die andere nach sich zieht. Das kann leicht zu einem Strudel aus Lauheit und Gleichgültigkeit werden, der in den Abgrund des Abfalls reißt.

Ob große oder "normale" Sünden: In der sakramentalen Beichte erleben wir ganz genau den gleichen barmherzigen Vater wie im Gleichnis – man könnte sogar sagen: einschließlich des Festes mit Musik, Tanz und Mastkalb –, wenn wir die Worte des Priesters hören: "Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt..."