Betrachtungstext: 30. Woche im Jahreskreis – Montag

Christus nimmt unsere Schmerzen auf sich – Eine von ihren Fesseln befreite Frau – Gott liebt unsere Freiheit

WIE an jedem Sabbat begibt sich eine uns namentlich nicht bekannte Frau in die Synagoge. Sie war ganz verkrümmt und konnte nicht mehr aufrecht gehen (Lk 13,11). Seit achtzehn Jahren litt sie an dieser Krankheit, die auf das Wirken eines bösen Geistes zurückgeführt wurde. An diesem Tag ist auch Jesus in der Synagoge zugegen. Er war gekommen, um das Reich Gottes zu predigen und zur Umkehr aufzurufen. Da fällt sein Blick auf die gebeugte Frau, er ruft sie zu sich und sagt zu ihr: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Er legte ihr die Hände auf, und im selben Augenblick richtete sich die Frau auf (Lk 13,12-13).

Es war ein völlig unerwartetes Wunder. Die Frau hatte nicht darum gebeten. Vielleicht hatte sie geahnt, dass Jesus in ihr Dorf kommen würde, und tat deshalb ihr Möglichstes, um sich in der Synagoge so zu platzieren, dass sie im Blickfeld des Meisters war. Aber sie gab keinen Ton von sich und machte sich nicht durch Schreie bemerkbar wie andere Personen im Evangelium, die auch geheilt worden waren. Jesus bemerkte dennoch nicht nur ihre physische Anwesenheit, sondern durchschaute auch ihr Innerstes, erkannte ihr brennendes Verlangen nach Freiheit und vertrieb die Krankheit mit nur einem Wort: Du bist erlöst.

Jesus lehrt uns auf diese Weise, dass Erbarmen die Antwort Gottes auf den Schmerz der Welt ist. Leid berührt sein Herz. Jedes unserer Probleme, selbst das kleinste, geht ihm nahe. Er ist kein gefühlloser Gott. Tatsächlich hat Christus selbst, wie Papst Franziskus ausführt, „in dieser Welt Leid und Demütigung erfahren. Er hat die Schmerzen der Menschheit (...) in seinem eigenen Leib auf sich genommen, jeden einzelnen von ihnen bis zur Neige gekostet. Er hat jede erdenkliche Art des Leids kennengelernt, sei es moralischer oder physischer Art: Er hat Hunger, Erschöpfung und die Bitterkeit des Unverständnisses erfahren, er ist verraten und verlassen, gegeißelt und gekreuzigt worden.“1 Die Geschichte der gebeugten Frau wiederholt sich noch heute. Wo immer jemand leidet, kann er den Trost der Gegenwart Christi erfahren, der mit dem Wunsch auf uns blickt, unseren Schmerz auf sich zu nehmen.


DIE KRANKHEIT hinderte die Frau daran, die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Es fiel ihr schwer, zum Himmel hinauf zu blicken; ohne es zu wollen, blieben ihre Augen am Boden haften, auf dem sie ging. Doch als Christus sie von ihren Fesseln befreite, ermöglichte er ihr zu sehen, was ihr bis dahin versagt gewesen war. Sie fühlte sich frei und voller Freude und pries Gott (Lk 13,13), und das ganze Volk freute sich über all die großen Taten, die er vollbrachte (Lk 13,18).

Gemäß dem Bericht des Evangelisten war die Krankheit geistlichen Ursprungs. So konterte Jesus dem Synagogenvorsteher, der sich darüber empörte, dass die Heilung am Sabbat geschah, folgendermaßen: Diese Frau, die eine Tochter Abrahams ist und die der Satan schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit werden dürfen? (Lk 13,16). Die Kirchenväter sehen in der gekrümmten Frau, die sich nicht aufrichten kann, ein Bild für jene Seelen, die durch irdische Begierden so geschwächt sind, dass sie sich den göttlichen Wirklichkeiten nicht mehr zuwenden können. Einer von ihnen erklärte: „Jeder Sünder, der nur an das Zeitliche denkt und sich um das Himmlische gar nicht kümmert, vermag seinen Blick nicht aufwärts zu richten. Denn da er den niederträchtigsten Neigungen folgt, verliert sich die gerade Richtung des Geistes von selbst, und er hat stets dasjenige im Auge, auf das sein Gedanke unablässig geheftet ist.“2

Manchmal haben wir das Gefühl, durch unsere Fehler wie gefesselt zu sein. Es fällt uns schwer, nach den Gütern des Himmels zu streben. In solchen Momenten wartet Gott darauf, dass wir, wie diese Frau, zu ihm kommen und ihm unsere Sorgen offenlegen. „Seid nicht bestürzt, euch so zu erkennen, wie ihr seid: eben so, aus Lehm“, schrieb der heilige Josefmaria. „Seid nicht besorgt. Denn du und ich, wir sind Kinder Gottes – und das ist eine gute Vergöttlichung –, durch göttliche Berufung von Ewigkeit her auserwählt (...). Wir, die wir auf besondere Weise Gott gehören und trotz unserer persönlichen Armseligkeit seine Werkzeuge sind, werden wirksam sein, wenn wir die Demut und das Wissen um unsere Schwäche nicht verlieren.“3 Auf diese Weise wird die Anziehungskraft, die die Realität der Sünde auf uns ausüben mag, für unsere Beziehung zum Herrn kein Hindernis sein, sondern uns dazu führen, demütiger zu sein, die Vereinigung mit ihm zu suchen und auf seine Kraft zu vertrauen.


SO WIE die gebeugte Frau unter ihrer Krankheit litt, so leidet der Mensch unter der Versklavung der Sünde, die bewirkt, wie der heilige Johannes Paul II. sagte, „dass der Mensch sich seinem eigenen Selbst und seinem Inneren gegenüber entfremdet.“4 Jesus wird es einmal so sagen: Amen, amen, ich sage euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde. Der Sklave aber bleibt nicht für immer im Haus; nur der Sohn bleibt für immer. Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei (Joh 8,34-36). Als Christen sind wir zur Freiheit berufen (vgl. Gal 5,13). Von der Schöpfung an hat Gott uns die Fähigkeit gegeben, das Gute zu wählen und zu wollen, aber auch die Möglichkeit, uns von ihm abzuwenden. „Es ist ein Geheimnis der göttlichen Weisheit“, kommentierte der heilige Josefmaria, „dass er bei der Erschaffung des Menschen nach seinem Bild und Gleichnis (vgl. Gen 1,26) das hohe Risiko der menschlichen Freiheit eingehen wollte.“5

„Dieses Risiko führte den Menschen schon in Urzeiten dazu“, führt der Prälat des Opus Dei den Gedanken fort, „die Liebe Gottes durch die Erbsünde zurückzuweisen. Dadurch schwächte sich die Kraft der menschlichen Freiheit zum Guten und neigte sich der Wille der Sünde zu. Danach schwächten die persönlichen Sünden die Freiheit noch weiter. Daher bedeutet Sünde immer, mehr oder weniger, eine Versklavung (vgl. Röm 6,17-20).“6 Trotz allem bleibt der Mensch frei, und selbst wenn diese Freiheit manchmal zerbrechlich sein mag, ist Gott der erste, der sie achtet und liebt. Zu wissen, dass der Herr „keine Sklaven, sondern Kinder“7 will, wie der heilige Josefmaria betonte, erfüllt uns mit Sicherheit, weil es uns erlaubt, unser Leben in seiner ganzen Tiefe zu leben. Der Prälat des Werkes betonte: „Wie befreiend ist die Vergebung Gottes, der uns zu uns selbst und zu unserem wahren Vaterhaus zurückfinden lässt.“8 Hier erwartet uns auch Maria, die Mutter des Erlösers, und will uns von allem befreien, was uns von ihrem Sohn entfernen könnte.


1 Franziskus, Ansprache, 17.5.2014.

2 Hl. Gregor der Große, Homilien zu den Evangelien, Nr. 29.

3 Hl. Josefmaria, Brief 2, Nr. 20.

4 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 3.8.1988.

5 Hl. Josefmaria, Brief 24.10.1965, Nr. 3.

6 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 9.1.2018, Nr. 2.

7 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 129.

8 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 9.1.2018, Nr. 4.