Betrachtungstext: 26. Woche im Jahreskreis – Sonntag (A)

Die Aufrichtigkeit unserer Gefühle – Unsere Empfindungen vermitteln uns wertvolle Kenntnisse – Der eigenen Identität entsprechend handeln

EIN MANN hatte zwei Söhne (Mt 21,28). So beginnt das Gleichnis, das Jesus an die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes richtet. Es war nicht das erste Mal, dass sie Gelegenheit hatten, mit dem Meister zu sprechen. Daher wussten sie, dass seine scheinbar anonymen Erzählungen oft tiefe Wahrheiten über sie selbst enthielten. Seine Gleichnisse waren keine literarischen Übungen – auch wenn viele von ihnen poetisch schön waren –, sondern Worte, die ihm aus dem Herzen kamen und die Herzen seiner Zuhörer bewegen sollten.

Der Vater im Gleichnis bittet seine beiden Söhne auf dieselbe Weise: Mein Kind, geh und arbeite heute im Weinberg! (Mt 21,28). Keiner der beiden scheint eine besondere Leidenschaft für die Arbeit im Weinberg zu haben, jedenfalls hatte keiner geplant, sich ihr an diesem Tag zu widmen. Die Bitte des Vaters überrascht sie, und jeder reagiert auf seine Weise. Während der eine sichtlich verärgert ist und seinem Vater deutlich kommuniziert, dass er nicht mit ihm rechnen soll, verbirgt der andere, was in seinem Herzen vorgeht, und erwidert seinem Vater, vielleicht mit einem gespielten Lächeln, aber mit einer Förmlichkeit, die seinen Unmut nicht ganz verbergen kann: Ja, Herr (Mt 21,30).

Am Ende halten sie beide nicht Wort: Der eine, der gesagt hatte, er sei nicht dafür zu haben, beschließt, in den Weinberg zu gehen. Der andere, der Bereitschaft signalisiert hatte, dem Willen seines Vaters nachzukommen, gehorcht schließlich doch nicht. Obwohl Worte und Taten beider Söhne nicht zusammenpassen, gibt es einen wichtigen Unterschied: der eine, der seinem Vater gegenüber aufrichtig war, handelt schließlich richtig. Der andere, der vor allem ein gutes Bild abgeben wollte, geht schließlich seinen eigenen Weg, fern von allen Verpflichtungen. Auch im Umgang mit dem Herrn ist die aufrichtige Offenheit des Herzens der erste Schritt zur wahren Bekehrung, das Vertrauen, ihm unser Inneres vorbehaltlos zu öffnen. Selbst wenn wir, wie der erste Sohn, zugeben, keine Lust zu irgendetwas zu haben. Denn, wie Papst Franziskus sagte: „Eines ist klar: in der Gegenwart Jesu kommen die wahren Gefühle des Herzens, die wahren Einstellungen ans Licht.“1


IN DER ZWEITEN Lesung der heutigen Messe hören wir einige Worte des heiligen Paulus, die als Leitfaden dafür dienen könnten, was es bedeutet, Christ zu sein: Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht (Phil 2,5). Die Einswerdung mit Jesus Christus besteht nicht in einer äußerlichen Nachahmung, wie wenn ein kleines Kind unbewusst Gesten von Erwachsenen imitiert, sondern in einer inneren Reise, auf der Christus von unseren Herzen Besitz ergreift. Wie Jesus Christus zu empfinden, ist das Ziel einer tiefgreifenden Verwandlung durch die Gnade und den persönlichen Kampf. Papst Benedikt sagte: „Die Gesinnung Jesu nachvollziehen – das wäre die tägliche Übung, die wir als Christen leben sollen.“2

Unsere spontanen Gefühle anlässlich bestimmter Ereignisse oder Begegnungen geben uns einen ersten Einblick in unsere innere Welt. Wenn zum Beispiel der erste Sohn seinem Vater sagt, dass er nicht in den Weinberg gehen möchte, können wir daraus schließen, dass er diese Arbeit nicht mag, müde ist oder keinen Sinn darin sieht. Ein Teil seines inneren Selbst lässt ihn diesen Einsatz als etwas Negatives erachten. Die Gefühle bergen wertvolles Wissen über uns selbst: Sie helfen uns, die Werte zu erkennen, die unser Leben – vielleicht sogar unbewusst – bestimmen. Wenn wir wissen, was uns traurig und was uns glücklich macht, lernen wir uns selbst besser kennen und können uns fragen, ob unsere Reaktionen mit denen von Christus übereinstimmen.

Unsere Gefühlswelt in verschiedenen Situationen mit der Jesu zu vergleichen, hilft uns zu überprüfen, ob wir auch seine Tugenden leben und uns zu eigen machen wollen. Der heilige Josefmaria zum Beispiel hat uns einmal eingeladen, uns zu fragen, welche Gefühle die Tugend der Armut in uns weckt: „Du sagst mir, du möchtest die heilige Armut leben, die Loslösung von den Dingen, die du gebrauchst. Frage dich also: Sind meine Gefühle die Gefühle Christi? Empfinde ich in Bezug auf Armut und Reichtum so wie er?“3 Einen ähnlichen Test können wir mit jeder Tugend und in jedem Moment unseres Lebens durchführen.


DAS GLEICHNIS von den zwei Söhnen haben die Gefühle nicht das letzte Wort, die erste Spontanreaktion wird durch Nachdenken überwunden. So erkannte der eine Sohn den Wert der Arbeit im Weinberg und die Freude, die er seinem Vater bereiten würde, wenn er ihm gehorcht; der andere Sohn hingegen war zwar zunächst vom Wunsch getrieben, einen guten Eindruck auf seinen Vater zu machen, entschied sich dann aber, nachdem er die Mühsal der Arbeit bedacht hatte, für eine angenehmere Beschäftigung. Entscheidend ist bei beiden nicht das erste Gefühl, sondern die Handlung, die sie unternahmen, inspiriert von einem Ideal, das sie jeweils als wertvoll für ihr eigenes Leben erachteten. Die Anerkennung unseres Gefühlszustands in einem bestimmten Moment bedeutet nicht, dass wir gezwungen wären, entsprechend zu handeln. Doch er hilft uns, uns selbst besser zu verstehen und eine Entscheidung zu treffen, die zu unserer Identität und zu dem passt, was uns wirklich glücklich macht.

Die Tatsache, dass wir manchmal denken, trotz oder gegen unsere Gefühle handeln zu müssen, heißt nicht, dass das christliche Leben die Bedeutung von Gefühlen negiert. Im Gegenteil. Wenn der heilige Josefmaria zum Beispiel gestand, dass ihm die Dinge für gewöhnlich gegen den Strich gingen, also dem, was er sich vorgestellt hatte, oft zuwiderliefen, so erklärt er dennoch im selben Zug, dass er weiterarbeitete, wenn auch nicht, weil es ihm Spaß machte, sondern: „aus Liebe“4. Und auch wenn Liebe sich nicht auf ein Gefühl reduzieren lässt, besitzt sie klarerweise doch eine zutiefst gefühlsmäßige Dimension. So wurde der eine Sohn, der zunächst nicht arbeiten wollte, dann aber beschloss, seinem Vaters zu gehorchen, wahrscheinlich auch von einem Gefühl der kindlichen Liebe und Zuneigung angetrieben, welches seine anfängliche Faulheit oder Apathie schließlich überwog. In seinem Herzen fand er ein Gefühl, das tiefer und bedeutungsvoller war als das, was er in einem ersten Moment empfunden hatte.

Wir dürfen in dem Gleichnis ein Bild von Jesus sehen, der im Ölgarten betet. In seinem menschlichen Herzen gab es sicher einige Gefühle, die ihn dazu geneigt machten, Kreuz und Leiden abzulehnen. Doch dieses selbe Herz war zugleich von tiefen Gefühlen der Sohnschaft gegenüber seinem Vater und der Zuneigung zu jedem von uns erfüllt. Und diese Gefühle leiteten sein Handeln. Bitten wir die Gottesmutter, die Mutter aller, die Gottes Willen tun wollen, dass wir zu erkennen lernen, welche Gefühle uns Jesus gleichförmiger machen. Dann werden wir ein großes Herz haben und mit Freude im Weinberg des Herrn arbeiten.


1 Franziskus, Predigt, 22.3.2020.

2 Benedikt XVI., Audienz, 1.6.2005.

3 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 888.

4 Vgl. Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 152.