Vergelten? Nein! – Verzeihen und vergessen!

Josemaría Escrivá und die Überwindung der sozialen Spaltung nach dem spanischen Bürgerkrieg

In Andorra - nach seiner Flucht

In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts war Spanien ein tief gespaltenes Land. Es zerfiel in zwei etwa gleich große, unversöhnliche Lager. Ab Juli 1936 entlud sich dieser erbitterte Gegensatz in einem blutigen Bürgerkrieg. Er sollte in praktisch jeder spanischen Familie tiefe Wunden hinterlassen.

Auch den heiligen Josefmaria Escrivá traf der Konflikt mit voller Wucht. Seit Kriegsausbruch war er dauernd auf der Flucht, denn wer in Madrid als Priester erkannt wurde, war ein toter Mann. Immer wieder musste er ein neues Versteck suchen, denn wenn er zu lange an einem Ort blieb, brachte er die Hausbewohner in Lebensgefahr. Schließlich kam er für einige Monate im Konsulat von Honduras unter, das bereits mit anderen Flüchtlingen überfüllt war. Als der Krieg kein Ende nehmen wollte und man auf eine Stürmung des Konsulats durch die Revolutionstruppen gefasst war, entschloss er sich im November 1937 zur riskanten Flucht aus der republikanischen Zone - schweren Herzens, weil er Mutter, Geschwister und Freunde in Madrid zurücklassen musste.

Abgesehen von seinem eigenen Los erreichten ihn des Öfteren Hiobsbotschaften von dritter Seite. So wurde am 27. Juli 1936 Pedro Poveda, ein mit ihm befreundeter Priester und Gründer des Theresianischen Instituts, an seinem Wohnort festgenommen und am folgenden Tag exekutiert. (Er wurde später, im Jahr 2003, heilig gesprochen.) 1937 starben zwei der ersten Mitglieder des Opus Dei an der Front. Etwa zum selben Zeitpunkt kam Escrivá auch zu Ohren, dass man in der Nähe seines Wohnortes einen Mann mit ihm verwechselt und kurzerhand gehenkt hatte. Damit nicht genug, hatten die kommunistischen Revolutionäre ein Studentenhaus an der Ferraz-Straße verwüstet, das er unter vielen Opfern erworben und eingerichtet hatte.

Vergelten? Nein! – „verzeihen und vergessen!“

Der heilige Josefmaria verurteilte selbstredend diese kommunistische Verfolgung. Doch obwohl er auch persönlich schwer darunter litt, wandte er sich entschieden dagegen an politischen Gegnern Rache zu üben. Stattdessen rief er alle dazu auf das erlittene Unrecht zu verzeihen und zu vergessen. Als Priester ging er auf alle zu, welche Ideen oder politischen Positionen sie auch haben mochten.

Der hl. Josefmaria im Konsulat von Honduras

Als er 1937 im Konsulat von Honduras mit vielen anderen Flüchtlingen eingepfercht war, ver- breitete er in der gespannten Atmosphäre stete Ruhe und Frieden. In seiner Gegenwart waren weder die militärischen Operationen noch die Verbrechen hinter den Linien ein Thema. Man hörte ihn nur leise sagen: „Das ist ungeheuerlich, eine Tragödie!“ Wenn seine Schicksals- genossen einen militärischen Sieg der Nationalen unter General Franco feierten, mochte er sich ihrem Triumph nicht anschließen. Er zog es vor zu beten, und zwar für alle, die in diesem Bruderkampf litten, hüben wie drüben. Er wollte nur eines: dass man mit den Feindseligkeiten Schluss machte, einander verzieh und das beidseitig begangene Unrecht vergaß.

Immer wieder begegnete Escrivá Menschen, die auf Rache sannen. 1938 kam er auf einer Zugsreise von Sevilla nach Burgos mit einem Leutnant ins Gespräch, der unter der kommunistischen Verfolgung schwere familiäre und materielle Verluste erlitten hatte. Grimmig breitete dieser seine Pläne aus, wie er „den Roten“ ihre Taten vergelten würde. Doch Escrivá hielt ihm entgegen: „Ich sage Ihnen, ich habe so viel gelitten wie Sie, wegen meiner Angehörigen und meiner Unternehmungen. Aber ich möchte, dass die ‚Roten’ leben und umkehren. Die christlichen Worte in Ihrer noblen Seele widersprechen den gewalttätigen Gefühlen, denen Sie hier Luft machen.“

Nach der militärischen Entscheidung

Nach drei Jahren erbarmungslosen Kampfes siegte die eine Hälfte des Volkes militärisch über die andere.

Am 28. März 1939 konnte Escrivá nach Madrid zurückkehren und nach Jahren der Trennung mit den dort zurückgebliebenen Angehörigen des Opus Dei ein Wiedersehen feiern. Vom ersten Augenblick an forderte er sie auf „zu verzeihen, das erlittene Unrecht und Leid zu vergessen und es dem Herrn als Opfer darzubringen“. Man dürfe jetzt die Leute nicht in Gute und Böse einteilen.

Diese Haltung spiegelte sich auch in seiner Aphorismensammlung „Der Weg“, die Anfang Oktober desselben Jahres erschien:

„Strenge dich notfalls an, denjenigen immer und vom ersten Augenblick an zu vergeben, die dich beleidigen; denn auch wenn der Schaden oder die Beleidigung noch so groß ist, hat Gott dir mehr vergeben.“ (Punkt 452)

„Die Liebe besteht mehr im ‚Verstehen’ als im ‚Geben’. ‒ Deshalb suche immer nach einer Entschuldigung für deinen Nächsten, wenn du die Pflicht hast zu urteilen. Es gibt immer eine Entschuldigung.“ (Punkt 463)

Keine Kreuze des Hasses

In den Trümmern des zerstörten Studentenheimes Ferraz

Der gegenseitige Hass und die alten Ressentiments waren mit dem Schweigen der Waffen keineswegs beseitigt. Eine geradezu krankhafte Abneigung gegen den ehemaligen Feind war überall mit Händen zu greifen. Die Unterlegenen versanken in ohnmächtige, rachsüchtige Wut. Unter den Siegern wiederum verbreitete sich ein ausgeprägter Nationalismus, der bisweilen in offene Intoleranz und den Ruf nach Vergeltung umschlug. Man schritt zur politischen Säuberung durch Sondergerichte und entsprechende Gesetze. Am 1. März 1939 etwa wurde ein Gesetz zur Unterdrückung der Freimaurerei und des Kommunismus verabschiedet, mit dem auch das Opus Dei bald Bekanntschaft machen sollte.

Eines Tages besuchte Josemaría Escrivá einen Mann, dessen Verwandte an einer bestimmten Straßenkreuzung von Kommunisten ermordet worden waren. In seiner Erbitterung hatte dieser den Plan gefasst an eben jener Kreuzung ein großes Kreuz aufstellen zu lassen, das die Nachwelt an die Morde erinnern sollte. Doch Escrivá brachte ihn von diesem Vorhaben ab: „Tu es nicht, denn dich treibt der Hass: Es wäre nicht das Kreuz Christi, sondern das Kreuz des Teufels.“ Der Mann hörte auf den Rat und rang sich mit Hilfe des Priesters dazu durch den Mördern zu verzeihen. Der Ratschlag floss später in Escrivás Buch „Der Kreuzweg“ ein. Im dritten Betrachtungspunkt der achten Station heißt es: „Versöhnen, Verstehen, Verzeihen: darum geht es. Richte niemals ein Kreuz auf, nur um daran zu erinnern, dass Menschen Menschen umgebracht haben. Es wäre ein Banner des Teufels.“

Tödlicher Hass eines Taxifahrers

Aber nicht immer gelang es Escrivá sein Gegenüber von Regungen des Hasses abzubringen. Einige Monate nach Kriegsende nahm er in Madrid ein Taxi. Auf der Fahrt begann er nach seiner Gewohnheit sich mit dem Fahrer unterhalten. Er tat es als Priester und sprach unter anderem von der Wichtigkeit sich in der Arbeit zu heiligen und Verständnis für die anderen zu haben. Man müsse über das Erlittene hinwegkommen und mit allen in Frieden zusammenzuleben.

Der Fahrer hörte ihm schweigend zu. Erst am Ende der Fahrt begann er zu reden: „Sagen Sie, wo waren Sie während des Krieges?“ – „In Madrid“, antwortete der Priester. Da versetzte der Fahrer seinem Gast ohne mit der Wimper zu zucken: „Schade, dass man Sie nicht umgebracht hat!“ – Escrivá blieb ruhig. Er bezahlte und fragte den Mann: „Haben Sie Kinder?“ Als dieser bejahte, gab er ihm ein sehr großzügiges Trinkgeld und sagte: „Hier, nehmen Sie das, und kaufen Sie Ihrer Frau und Ihren Kindern ein paar Süßigkeiten!“

Solidarisch mit Irrenden

Mit persönlichen Angriffen gegen Andersdenkende und erst recht gegen solche, von denen man Unrecht erlitten hatte, hat sich Escrivá nie abfinden können. Sie schmerzten ihn in der Seele. Seine Haltung fasste er 1954 gegenüber den Opus-Dei-Mitgliedern so zusammen: „Wenn jemand seine Mitmenschen schlecht behandeln will, weil sie im Irrtum sind, dann fühle ich mich innerlich gedrängt, mich auf ihre Seite zu stellen, um aus Liebe zu Gott ihr Schicksal mit ihnen zu teilen.“

Quellen:Vázquez de Prada, Andrés: Der Gründer des Opus Dei, Josemaría Escrivá. Eine Biographie. Adamas-Verlag, Köln. Band I: Die frühen Jahre, 2001, S. 374-76; Band II: Die mittleren Jahre, 2004, S. 87.f. Tornielli, Andrea: Escrivá fondatore dell'Opus Dei, Piemme, Casale Monferrato 2002, S. 89; 92; 95-96. Escrivá, Josemaría:Der Weg, Adamas-Verlag, Köln 1983. Ders.: Der Kreuzweg, Adamas-Verlag, Köln 1981.

von Beat Müller