Manchmal erzählen Menschen, die ins Koma gefallen waren und dem Tod nur knapp entkommen sind, ihr Leben sei wie im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge vorbeigezogen. In Sekundenschnelle hatten sie alles noch einmal erlebt, als wären sie Zuschauer, und wussten doch, dass es ihr Leben war. Für manche wird das Erlebnis Anlass zu tiefer Reue.
Am 27. April 1954 geschah Josemaría Escrivá etwas Ähnliches. Es war am Fest Unserer Lieben Frau vom Montserrat. Fünf oder zehn Minuten vor dem Mittagessen hatte ihm Alvaro del Portillo wie auch sonst Insulin gespritzt, allerdings in geringerer Dosierung eines neuen Depot-Insulins als es der Arzt verordnet hatte. Anschließend waren sie ins Esszimmer hinuntergegangen und hatten einander gegenüber Platz genommen. Kaum hatten sie das Tischgebet gesprochen, sagte der Vater unvermittelt, „Alvaro, die Lossprechung!“ Don Alvaro schildert, was dann geschah:
Ich verstand ihn nicht. Ich konnte ihn nicht verstehen. Gott ließ zu, dass ich ihn nicht verstand. Und er wiederholte „die Lossprechung!“ Und dann zum dritten Mal, alles in ein paar Sekunden, „die Lossprechung, ego te absolvo [Ich spreche dich los]. Und im selben Moment verlor er das Bewusstsein. Ich erinnere mich, dass er zuerst pupurrot anlief und dann fahl gelb wurde. Sein Körper sah irgendwie geschrumpft aus.
Ich gab ihm sofort die Lossprechung und tat, was ich konnte – rief nach dem Arzt, tat ihm Zucker in den Mund und spülte mit Wasser nach, weil er nicht reagierte und ich seinen Puls nicht mehr spüren konnte.
Als der Hausarzt Miguel Anguel Madurga kam, ein Mitglied des Werkes, war der Vater schon wieder zu sich gekommen. Der Schock hatte zehn Minuten gedauert. Miguel Angel untersuchte ihn genau und stellte fest, dass er außer Lebensgefahr war und keine Komplikationen vorlagen. Es schien dem Vater wieder gut zu gehen.
Tatsächlich ging es ihm so gut, dass er sich sofort um diesen Sohn zu kümmern begann. Und als er erfuhr, dass er noch nicht zu Mittag gegessen hatte, bot er ihm etwas zu essen an und unterhielt sich die ganze Zeit mit ihm, ohne sich anmerken zu lassen, dass er nicht mehr sehen konnte.
„Mein Sohn“, sagte er zu Don Alvaro, als der Arzt gegangen war: „Ich bin blind, ich kann nichts mehr sehen.“
„Aber Vater, warum haben Sie das nicht dem Doktor gesagt?“
„Weil ich ihn nicht unnötig beunruhigen wollte. Das kann ja vorbeigehen.“
Er blieb mehrere Stunden blind. Dann kam das Augenlicht allmählich zurück. Als er sich schließlich wieder im Spiegel sehen konnte, sagte er: „Alvaro, mein Sohn, jetzt weiß ich, wie ich aussehe, wenn ich tot bin.“
„Sie sehen richtig blühend aus“, antwortete Don Alvaro.
Stunden zuvor hatte er nicht nur wie tot ausgesehen, der Herr hatte sein ganzes Leben wie einen Film an ihm vorbeiziehen lassen. Der Gründer sagte, so bezeugt Don Alvaro, er habe in diesen kurzen Momenten „Zeit gehabt, Gott für alles um Verzeihung zu bitten, was er für seine Verfehlungen hielt, einschließlich des einen oder anderen, das er nicht richtig verstanden hatte. Zum Beispiel dachte der Gründer, der Herr habe ihm früher einmal zu verstehen gegeben, er werde erst wesentlich später sterben. Und er bat ihn sogar um Vergebung dafür, dass er ihn nicht verstanden hatte.
Er hatte seit etwa zehn Jahren an Diabetes mellitus gelitten. Doch nun verschwanden die damit verbundenen Stoffwechselstörungen bis zum Ende des Jahres vollständig, und die Insulinbehandlung wurde abgesetzt.
Was am 27. April 1954 geschehen war, bezeichnete sein behandelnder Facharzt Dr. Carlo Faelli als das Schlüsselmoment seiner Heilung und erklärte: „Nach einer allergischen Attacke und plötzlichem Bewusstseinsverlust war er vom Diabetes geheilt“ und ebenso „von den damit verbundenen Komplikationen. Es kam zu keinem Rückfall, und eine Diät erübrigte sich. Es handelte sich um eine wissenschaftlich nicht erklärbare Heilung.“
Weitere Zeugen bestätigen, dass der Gründer am 27. April geheilt wurde. So berichtet Encarnación Ortega: „Am selben Abend sagte er María José Monterde und mir dank all unserer Gebete der Herr habe uns erhört und ihm einen neuen fruchtbaren Lebensabschnitt gewährt.“
„Einige Tage vorher“, schrieb Bischof Alvaro del Portillo, „hatte Dr. Faeilli einen neuen Typ Insulin in einer Dosis von 110 Einheiten verschrieben. Wie immer war ich es, der die Injektionen vornahm. Ich hatte den Beipackzettel sorgfältig gelesen, in dem stand, die Dosis solle geringer als bei herkömmlichem Insulin sein, etwa ein Drittel weniger. Deshalb und weil höhere Insulingaben die Kopfschmerzen deutlich verstärkten, unter denen der Vater litt, spritzte ich ihm eine geringere Dosis als der Arzt verschrieben hatte. Trotzdem führte das Mittel zu einer Art allergischer Reaktion, die ich nicht kannte. Ich teilte das dem Doktor mit, aber er sagte, ich solle bei diesem Typ Insulin bleiben.“
Nach Andrés Vázquez de Prada, Der Gründer des Opus Dei Josemaría Escrivá, Band 3 (Die römischen Jahre), Köln 2008, S. 222–224.