1931 begann die Zweite Spanische Republik. Diese brachte einige positive Aspekte für die Entwicklung des Landes mit sich, insbesondere eine größere demokratische Öffnung. Doch führte sie von Anfang an auch zu ernsten sozialen und politischen Problemen. Die sozialistisch geprägte republikanische Verfassung wurde ohne Einstimmigkeit verabschiedet. Unter anderem wurde die Kirche dem Staat untergeordnet und den religiösen Orden das Leiten von Bildungseinrichtungen untersagt.
Im Sommer des darauffolgenden Jahres erschütterte ein Vorfall die spanische Bevölkerung. Am 10. August 1932 mobilisierten sich militärische und politische Kräften, die die Rückkehr zu einer autoritären Monarchie befürworteten. Sie hatte die Absicht die Regierung zu stürzen, doch der Aufstand war erfolglos. Er war nicht nur schlecht organisiert, auch konnte die Regierung die Rädelsführer innerhalb weniger Stunden festnehmen und die öffentliche Ordnung wiederherstellen.
Zu dieser Zeit verbreitete der junge Priester Josefmaria Escrivá bereits seit vier Jahren den Geist des Opus Dei in Madrid. Er hatte verschiedene Gruppen von Menschen um sich versammelt, die seinen Lehren über die Heiligkeit inmitten der Welt aufmerksam folgten. Darunter waren Studenten, Männer aus verschiedenen Berufen und Handwerken, junge Frauen, einige berufstätig, andere chronisch krank, und Diözesanpriester.
In jenem Sommer 1932 wurde die apostolische Tätigkeit des Gründers des Opus Dei durch zwei Ereignisse gebremst: Am 16. Juli starb José María Somoano – ein Diözesanpriester, der ihm eng verbunden war – völlig überraschend nach drei Tagen heftiger Schmerzen und Erbrechen. Der Hass auf die Kirche war groß und er hatte als Priester in den Monaten zuvor mehrfach Morddrohungen bekommen. Die rätselhaften Umstände seiner plötzlichen Erkrankung verstärkten den Verdacht auf eine Vergiftung. Darüber hinaus waren viele der Studenten, die Josefmaria Escrivá regelmäßig zuhörten, an dem versuchten Staatsstreich vom 10. August beteiligt gewesen. Die meisten von ihnen kamen ins Gefängnis oder flohen ins Exil. Der junge Priester Josefmaria, der diese Studenten unabhängig von ihren politischen Ansichten geistlich weitergebildet hatte, musste mit ansehen, wie sich die Gruppe zerstreute.
Vielleicht beschäftigten ihn diese Umstände, als er zwei Wochen später, am 23. August 1932, in seinen persönlichen Aufzeichnungen vermerkte: „In allen unseren Häusern wird an gut sichtbarer Stelle der Vers 12 des 15. Kapitels des Johannesevangeliums angebracht sein: Hoc est praeceptum meum ut diligatis invicem, sicut dilexi vos" (Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.) [1].
In den folgenden Monaten begann der Gründer des Opus Dei mit den Aktivitäten des Opus Dei des heiligen Raphael. Dieses ist der seelsorglichen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gewidmet. Er startete sowohl mit Einheiten für die christliche Bildung als auch mit Katechismusunterricht für Kinder. Immer mehr junge Menschen nahmen dieses Angebot an. Das führte im Dezember 1933 zur Eröffnung der Akademie DYA in der Straße Luchana 33 in Madrid. DYA stand für „Derecho y Arquitectura“ (Recht und Architektur). Die Akademie DYA, später auch Studentenheim, war ein Ort, der jungen Männern offenstand, um zum Lernen, geselligem Beisammensein und für andere Aktivitäten zusammen zu kommen und sich auch persönlich weiterzubilden. Es waren die ersten Räumlichkeiten, wo der hl. Josefmaria seinen jungen Freunden den Geist des Opus Dei durch Wort und Beispiel näherbrachte.
Während die Wohnung des DYA eingerichtet wurde, bat der Gründer seine geistlichen Kinder einen Satz aus dem Johannesevangelium abzuschreiben, die Stelle wo Jesus beim letzten Abendmahl zu seinen Aposteln sagte: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,34-35). Die lateinische Fassung dieser Verse, auf pergamentartigem Papier geschrieben und durch einen einfachen Rahmen geschützt, wurde an der Wand des Studienraums der Akademie DYA angebracht. Jahrzehnte später sagte Escrivá: „Mich schmerzte der Mangel an Liebe, der enorme Mangel an Nächstenliebe, der unter den Christen herrscht. Wir bekamen einige Möbel von meiner Mutter und einer befreundeten Familie und konnten so die erste Wohnung einrichten. Doch das erste, was ich anbrachte, war das Mandatum novum, das ich einen jener ersten jungen Männer zeichnen ließ" [2].
Neun Monate später, im September 1934, zog die Akademie in das Studentenheim DYA in die Straße Ferraz 50. Als das Heim eingerichtet wurde, wurde das Bild mit den Worten des „neuen Gebots“ an einer Wand des sogenannten Klavierzimmers aufgehängt. Jeder, der diesen Aufenthaltsraum betrat, hatte den Satz des Evangeliums sofort vor Augen. In diesem Raum fanden von da an gewöhnlich die Treffen des Gründers mit seinen geistlichen Kindern und den Bewohnern des Heimes statt. Auch war es der Ort für unzählige gesellige und informelle Treffen in lockerer Atmosphäre.
Diese Verse aus dem Evangelium fassen in gewisser Weise eine der drei Säulen zusammen, die für den Hl. Josefmaria das Fundament des Studentenheimes DYA bildeten. Neben der persönlichen Beziehung zu Gott und dem Studium als berufliche Arbeit, waren Freundschaft, Geselligkeit und Offenheit für andere das, was die DYA ausmachte. Escrivá erklärte, dass ein Christ seine Kontakte nicht auf seine engsten Vertrauten beschränken kann und auch keine geschlossenen Gruppen bilden darf. Die Botschaft des Evangeliums soll offen stehen für Freunde und Bekannte vom Arbeitsplatz und aus anderen öffentlichen wie privaten Kreisen, und für Menschen in Not.
Auf diese Weise rückte er die Nächstenliebe als „ein wesentliches und unverzichtbares Element des christlichen Lebens“ [3] in den Mittelpunkt. Er stellte eine enge Verbindung zwischen dem „neuen Gebot“ und den Worten des heiligen Paulus her: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal 6,2)[4]. Der Gründer überlegte sogar, diesen Vers von Paulus als ständige Erinnerung in allen Kapellen der Zentren des Opus Dei anzubringen [5].
Im Laufe der Monate wurde die politische Situation in Spanien immer komplexer und die Spannungen begannen in physische Gewalt umzuschlagen. Josefmaria legte als Verhaltensregel im Studentenheim DYA fest, dass bei gemeinsamen Veranstaltungen und Treffen keine politischen Äußerungen gemacht werden dürfen. Bereits im Februar 1934 notierte er: „Für den Geist des Werkes des heiligen Raphael: die Jungs sollen in unserem Haus nicht über politische Themen diskutieren. Ihnen nahebringen, dass Gott derselbe bleibt wie von jeher, dass seine Macht nicht beschnitten wurde. Ihnen sagen, dass das Apostolat, das wir mit ihnen machen, übernatürlicher Art ist. Oft die Gegenwart Gottes zur Sprache bringen, in Einzelgesprächen, in Gesprächen in der Gruppe und immer: Sie katholisch machen im Herzen und im Verstand“ [6].
Die Türen des DYA standen jedem offen, mit der einzigen Bedingung, dass er die christlichen Grundsätze des Hauses achtete. José Luis Múzquiz erinnerte sich, dass er den Hl. Josefmaria einmal aus Neugierde nach einer Person fragte, die sich in der Welt der Politik bewegte: „Ich glaube, es war Gil-Robles, für den ich damals eine gewisse Sympathie hegte. Der Priester antwortete mir sofort: ‚Schau, hier wird man dir nie einer Frage zu Politik stellen; die Menschen hier kommen aus allen Richtungen: Carlisten, von der Volksaktion, Monarchisten der Spanischen Erneuerung usw. ... und gestern‘, fügte er hinzu, ‚waren der Präsident und der Sekretär der Vereinigung der baskischen nationalistischen Studenten da‘. Dann sprach er über die Bildung in DYA: ‚Hingegen wird man dir andere lästige Fragen stellen‘, sagte er lachend, ‚man wird dich fragen, ob du betest, ob du deine Zeit gut nutzt, ob du deine Eltern glücklich machst, ob du lernst, denn das Studium ist für einen Studenten eine wichtige Verpflichtung‘“ [7].
Im DYA gab es keine politischen Versammlungen oder Anwerbungen für politische Vereinigungen. Zu einem besonderen Vorfall kam es bei einem Einkehrtag, den Josefmaria im Januar 1935 für eine Gruppe von jungen Männern hielt. Es waren die Freunde eines jungen Mannes, den er seit Jahren kannte, Adolfo Gómez Ruiz. Sie waren Traditionalisten. Bevor er einwilligte den Einkehrtag zu halten, stellte er eine Bedingung: „Er sagte, dass er gerne bereit wäre, sie abzuhalten, aber nur unter bestimmten Bedingungen, von denen eine war, dass sie nicht als Traditionalisten, sondern als junge Katholiken kämen, da er nicht wollte, dass es irgendwelche politischen Untertöne gäbe" [8]. So richtete Escrivá den Einkehrtag nicht an eine Gruppe Traditionalisten, sondern an sechs junge Männer und sprach zu ihnen über die gleichen geistlichen Themen, die er normalerweise behandelte.
Im Januar 1935 kam es zu einem weiteren Putschversuch, der scheiterte und eine starke staatliche Unterdrückung zur Folge hatte. In dieser heiklen Stimmung betonte der Gründer in der Instruktion über das Werk des heiligen Raphael erneut: „Sprecht nicht über Politik im gewöhnlichen Sinne des Wortes und verhindert, dass in unseren Häusern von Parteien und Fraktionen gesprochen wird. Zeigt ihnen, dass alle Meinungen zum Werk passen, die die Rechte der Kirche respektieren“ [9].
Die bewusste Abwesenheit einer politischen Haltung seitens der Leitung des Studentenheimes DYA stand in starkem Kontrast zur sozialen Situation. Innerhalb des Hauses waren die Unterhaltungen friedlich und es gab Zeit zum Lernen. Draußen - auf der Straße, in den Vorlesungssälen der Universität, in den Studentenvereinigungen - herrschte eine ständige Unruhe, die so weit ging, dass es auf der Straße zu kaltblütigen Morden zwischen Rechts- und Linksextremisten kam. Die Inschrift des Mandatum novum im Klavierzimmer erinnerte die Bewohner und Besucher ständig daran, wie sie sich verhalten sollten. Insbesondere gegenüber denen, die den katholischen Glauben verachteten oder sogar hassten. Am 16. April 1936 verglich Jiménez Vargas die Atmosphäre im Studentenheim gegenüber jener außerhalb auf folgende Weise: „Zwischen den Streiks in den Fachschulen und den Nachrichten derer, die heute Nachmittag bei den Schießereien dabei waren und die Zahl der Opfer als ziemlich hoch einschätzen, gibt es niemanden, der die Unruhe in der Atmosphäre nicht wahrnimmt. Doch nirgendwo kann man so ruhig arbeiten wie in diesem Haus“ [10].
Die Tatsache, dass es im kollegialen Leben des DYA keine politischen Auseinandersetzungen gab, bedeutet nicht, dass es zu keinen Spannungen hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Situation kam [11]. Diese wurden vom Leiter des Hauses und Josefmaria Escrivá gelöst, um eine Belastung des Zusammenlebens zu vermeiden. Im Gegensatz zu anderen Orten standen diese Auseinandersetzungen jedoch nicht im Vordergrund, denn die Studenten hatten neben der Politik auch noch andere Interessen und Verpflichtungen wie das Studium, Freunde und die Familie. Tatsächlich zogen es die meisten der Bewohner und Freunde des DYA vor, ihre Zeit mit anderen Aktivitäten zu verbringen, seien sie nun akademisch, gesellschaftlicher Natur oder privat.
Juan Jiménez Vargas zum Beispiel, der ein eher stürmisches Naturell hatte, zog es vor, im DYA zu arbeiten: „Ich bleibe lieber hier, weil mich manchmal eine verrückte Lust überkommt, mich in all die Schwierigkeiten und Schießereien hineinzustürzen“ [12]. Ein anderer achtzehnjähriger Student beschrieb es so: „Das alles hat uns stark betroffen, aber nicht auf vitale Weise. Die Vorbereitungskurse fürs Studium und in meinem Fall, die Lösung von sechs erdrückenden Problemen sowie das Fußballspiel Spanien - Österreich [am 19. Januar 1936] nahmen das Universum unserer Sorgen ein“ [13].
Einige wenige hingegen engagierten sich aktiv in der Politik oder hörten auf, die Akademie zu besuchen, um sich ganz der politischen Arbeit zu widmen. Das galt vor allem für jene, die eine besonders starke kulturelle Prägung hatten, wie z. B. die Traditionalisten, denen es schwerfiel, die Botschaft des Opus Dei zu verstehen. Laut Jiménez Vargas sahen sie keine andere Lösung als die Politik, und tauchten so voll und ganz in einen Aktivismus ein, der mit Gewalt zu einer Lösung kommen wollte [14]. So war es auch mit dem jungen Karlisten Vicente Hernando Bocos. Er hörte den christlichen Ratschlägen Josefmaria Escrivás gerne zu, konnte aber deren ausgeprägt geistlichen Charakter nicht akzeptieren: „Er riet uns Studenten davon ab, uns in der Politik zu polarisieren, da es ihm leidtat, dass so gute junge Leute sich hauptsächlich der Politik widmen sollten, denn die Politik zehre aus. Er gab mir den persönlichen Rat, fleißig zu studieren, um etwas zu werden und so dienen zu können, und er bestand darauf, dass ich mir über das Gleichnis von den Talenten Gedanken mache. Ich sagte ihm, dass ich nicht glaube, dass ich mein Talent vergraben habe. Doch Don Josefmaria bestand darauf, dass ich über das Gleichnis nachdenke“ [15].
Trotz der Ratschläge unterschied sich Hernando Bocos' Vorstellung von sozialem Handeln radikal von der des Priesters, „der uns sagte: ‚Ihr müsst hartnäckig und beständig sein in dem, was ihr für richtig hält, aber ohne jemanden zu verletzen". Und ich sagte zu ihm: ‚Das, was Sie sagen überzeugt mich nicht, denn was ich will ist Schlägerei und Aufruhr‘“ [16].
Im April 1936 forderte der Gründer die jungen Männer auf, ein weiteres „neues Gebot“ wie jenes im Klavierzimmer anzufertigen. Wahrscheinlich sah er dieses Exemplar für den neuen Standort des Studentenheimes DYA vor, den sie damals in Madrid suchten. Drei Monate später, im Juli 1936, zog die DYA in ein Gebäude in derselben Straße, der Calle de Ferraz, um, diesmal in die Nummer 16. Dorthin brachten sie auch die neue Kopie des Mandatum novum. Die alte Abschrift, die schon an zwei Standorten gehangen hatte, an der Adresse Luchana 33 als auch Ferraz 50, wurde in einer Truhe verwahrt und von der Familie des Gründers aufbewahrt [17].
Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 führte zu schwerer Unterdrückung und Verfolgungen in Madrid, die Tausenden von Katholiken, sowohl Priestern als auch Laien, das Leben kosteten. Der Gründer und die wenigen Mitglieder des noch jungen Opus Dei mussten untertauchen und der Sitz der DYA wurde seinem Schicksal überlassen. Er wurde in Beschlag genommen und diente vier Monate lang als Hauptquartier eines anarchosyndikalistischen Komitees, indem Folterungen und Todesurteile vollstreckt wurden.
Am 28. März 1939 kapitulierte Madrid. Am selben Tag kehrte Josefmaria Escrivá in einem Lastwagen einer militärischen Versorgungskolonne in die spanische Hauptstadt zurück. Als er durch die Straße Calle de Ferraz fuhr, bat er den Fahrer, kurz anzuhalten und stellte fest, dass das Haus durch mehrere Granattreffer beschädigt worden war. Am nächsten Tag ging er mit mehreren Mitgliedern des Opus Dei hin und sie konnten einige wenige Gegenstände bergen, die auf dem Boden verstreut waren [18].
Einige Tage später, am 21. April, begab er sich in Begleitung seines Bruders Santiago und zwei weiterer Männer, Juan Jiménez Vargas und Miguel Fisac, erneut zum ehemaligen Studentenheim. Sie hatten wenig Hoffnung noch etwas zu finden, doch plötzlich „gab es eine Überraschung: Auf dem Boden, bedeckt von den Trümmern, lag das Bild des Mandatum novum, ziemlich gut erhalten“ [19]. „Wahrscheinlich haben sie es nicht verstanden [da die Inschrift lateinisch war], seine religiöse Bedeutung nicht erkannt und es an seinem Platz, an der Wand, an der es angebracht war, belassen, als wäre es ein nutzloser Bilderrahmen“, so Jiménez Vargas in Hinblick auf die Eindringlinge, „und dort blieb es, bis die Wand durch die Bombardierungen einstürzte“ [20].
Escrivá betrachtete diesen Fund immer als Vorsehung Gottes, weil sie ihm zeigte, „wo das Bleibende ist, wenn alles zusammenbricht: im Gebot der Liebe“ [21]. Die Worte Jesu Christi hatten eine tiefe theologische Bedeutung, denn sie bezogen sich nicht nur auf Menschen, die anders dachten, sondern auf das Wesen der Nächstenliebe, auf den Heiligen Geist, der es jedem Kind Gottes ermöglicht, sich ganz dem anderen hinzugeben. Francisco Ponz, der unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkriegs dem Opus Dei beitrat, erinnerte sich: „Er bezog sich oft auf die christliche Brüderlichkeit. Er sprach zu uns mit großer Liebe über das Mandatum novum, darüber, wie er wollte, dass es in unseren Herzen gegenwärtig ist, dass wir es mit allen und natürlich mit den jungen Männern, mit denen wir zu tun hatten, in der Atmosphäre unserer Zentren leben sollten. Er war auch der Meinung, dass es eine besondere Fügung Gottes war, in den Trümmern von Ferraz diesen Text des Evangeliums gefunden zu haben, den er bereits für die Akademie DYA auf Pergamentpapier schreiben hatte lassen“ [22].
Einige Zeit später, im Studienjahr 1941-1942, ereignete sich etwas, das sich für immer in das Herz eines anderen jungen Mitglieds des Opus Dei, Amadeo de Fuenmayor, einprägen sollte. Eines Tages machten mehrere junge Männer einen Scherz über ein unwichtiges Ereignis – jemand hatte bei der Messe schlecht ministriert – und alle im Haus lachten mit. Wissend, dass der Leiter des Hauses als erster gelacht hatte, hielt der Gründer an diesem Abend eine Betrachtung für alle und verwies auf die brüderliche Nächstenliebe gemäß dem Mandatum novum Christi: „Von Anfang an waren wir stark getroffen von dem Ton, in dem der Priester zu uns sprach. Er sprach mit viel Elan, mit außerordentlicher Kraft, als wolle er seine Worte in unsere Seelen einbrennen. Er hat uns noch einmal gesagt, was der Apostel Johannes den ersten Christen in seinem hohen Alter zu sagen pflegte: Filioli mei, non diligamus verbo, neque lingua, sed opere et veritate („Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit“). Und eine halbe Stunde lang ging er auf eindrucksvolle Weise auf die Forderungen der brüderlichen Nächstenliebe ein. Fast am Ende bat er uns, unseren jüngeren Brüdern einmal von diesem Vorfall zu erzählen. Wir sollten ihnen sagen, dass er uns eines Tages nach Diego de León [einem Zentrum in Madrid] rief, um mit ihm den Herrn darum zu bitten, dass die brüderliche Liebe im Werk immer mit dieser außergewöhnlichen Feinheit gelebt werden möge, mit der sie von Anfang an gelebt wurde. Ich erinnere mich, dass ich während der Betrachtung geweint habe, oder vielmehr, dass wir geweint haben“ [23].
Der Gründer ordnete an, dass das Mandatum novum in allen Zentren des Opus Dei aufgehängt werden soll, die sich der Arbeit mit jungen Menschen widmen. Bis heute geschieht dies auf der ganzen Welt. In der Regel wird dieses „Neue Gebot der Liebe“ sowohl in der lateinischen Fassung als auch in der jeweiligen Landessprache gut sichtbar angebracht, damit alle an diese Worte der brüderlichen Nächstenliebe erinnert werden, die Jesus Christus seiner Kirche gegeben hat.
José Luis González Gullón
(übersetzt und überarbeitet für die vorliegende deutsche Fassung: Rosa Büchsenmeister)
[1] Vgl. Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 815 (23-VIII-1932).
[2] Vgl. Erinnerung von Cipriano Rodríguez Santa María, Manizales, August 1975, in AGP, Reihe A.5, 344-1-1. Die Darstellung des „neuen Gebots“ auf unterschiedliche Weisen ist Bestandteil der Tradition der Kirche. In Madrid lernte der Gründer das Kruzifix der Barmherzigen Liebe kennen, das der Bildhauer Lorenzo Coullaut Valera im Juni 1931 auf Anregung von Mutter Esperanza, der Gründerin der Kongregation der Mägde der Barmherzigen Liebe, anfertigte. Am Fuße dieses Kreuzes wurde das Evangelium dargestellt, geöffnet an der Stelle des Mandatum novum Vgl. José María Zavala, Madre Esperanza. Los milagros desconocidos del alma gemela de Padre Pío, Freshbook, Rivas-Vaciamadrid, 2016.
[3] Juan Ignacio Ruiz Aldaz, “Caridad”, in José Luis Illanes (coord.), Diccionario de san Josemaría Escrivá de Balaguer, Monte Carmelo - Instituto Histórico San Josemaría Escrivá de Balaguer, Burgos 2013, Seite 196.
[4] Diese zwei Stellen werden im Punkt 385 des Buches „Der Weg“ einander gegenübergestellt. Vgl. Josefmaria Escrivá de Balaguer,Der Weg Nr. 385.
Das „Neue Gebot” wird auch in den Punkten 454 und 889 des Buches „Im Feuer der Schmiede“ zitiert.
[5] Vgl. Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 937 (19-II-1933). Der hl. Josefmaria predigte dies während seines ganzen Lebens. Hier als beispielsweise ein Text, der sich auf die Stelle im Johannesevangelium und einer der sich auf die Stelle im Paulusbrief bezieht:
„Das Gebot der Liebe verpflichtet uns, alle Menschen zu lieben, die Lebensumstände der anderen zu verstehen, zu vergeben, wenn uns etwas angetan wird, das Vergebung verdient. Unsere Nächstenliebe muss so beschaffen sein, dass sie alle Unzulänglichkeiten der menschlichen Schwäche überdeckt,veritatem facientes in caritate, indem sie diejenigen, die irren, mit Liebe behandelt, aber in Glaubensfragen keine Kompromisse zulässt”.: Vgl. Josemaría Escrivá de Balaguer, Briefe (edición crítico-histórica), vol. I, Rialp, Madrid 2020, S. 273.
„Deshalb fühle ich mich gedrängt, immer wieder an diese Worte des Herrn zu erinnern. Der heilige Paulus fügt noch hinzu: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen (Gal 6,2). Vergeudete Stunden, womöglich mit der Ausrede, du hättest ja Zeit genug... Und dabei sind so viele deiner Brüder und Freunde mit Arbeit überlastet. Hilf ihnen doch, feinfühlig, entgegenkommend, mit einem Lächeln; derart, dass sie es kaum merken und sich nicht einmal dankbar zeigen können, weil die noble Zurückhaltung deiner Nächstenliebe unauffällig war.“ Josefmaria Escrivá de Balaguer, Freunde Gottes, Nr. 44
[6] Vgl. Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 1160 (16-III-1934).
[7] Vgl. Erinnerung von José Luis Múzquiz de Miguel, Derio (Vizcaya), 29-VIII-1975, in AGP, Reihe A.5, 231-1-1.
[8] Vgl. Tagebuch von Ferraz, 27-I-1935, S. 124, in AGP, Reihe A.2, 7-2-1.
[9] Vgl. Instruktion über das Werk des hl. Raphael 9-I-1935, S. 12, in AGP Reihe A.3, 89-3-1.
[10] Vgl. Tagebuch von Ferraz, 16-IV-1936, S. 162-163, in AGP, Reihe A.2, 7-2-3.
[11] Vgl. Erinnerung von Miguel Español (ohne Datum), in AGP, Reihe A.5, 1429-1-27.
[12] Vgl. Tagebuch von Ferraz, 17-IV-1936, S. 164-165, in AGP, Reihe A.5, 1429-1-27.
[13] Vgl. Erinnerung von Ángel Galíndez (ohne Datum), in AGP, Reihe A.5, 329-1-1.
[14] Vgl. Erinnerung von Juan Jiménez Vargas, Pamplona, 26-VI-1976, in AGP, Reihe A.5, 221-1-2.
[15] Vgl. Zeugnis von Vicente Hernando Bocos, Palencia, 3-IX-1975, in AGP, Reihe A.5, 219-2-4.
[16] Ibidem.
[17] Vgl. Crónica 1978, S. 149 (AGP, Biblioteca, P.01). Dieses „Neue Gebot” befindet sich jetzt im Sitz des Colegio Mayor Montalbán (Madrid).
[18] Vgl. Tagebuch von Madrid, 28 und 29-III-1939, in AGP, Reihe A.2, 11-1-1.
[19] Erinnerung von Juan Jiménez Vargas, Pamplona, 26-VI-1976, in AGP, Reihe A.5, 221-1-2. Dieses „Neue Gebot” befindet sich jetzt im Sitz der Kommission des Opus Dei in Italien (Mailand).
[20] Ibidem.
[21] Vgl. Josemaría Escrivá de Balaguer, Der Weg (edición crítico-histórica), o. c., S. 556, nt. 55.
[22] Erinnerung von Francisco Ponz Piedrafita, Pamplona, 26-IX-1975, in AGP, Reihe A.5, 238-3-5. Ponz erinnerte an andere Worte des Gründers, die sich ebenfalls auf das Mandatum novum beziehen: „Die Liebe zu den Seelen“, sagte er einmal, „lässt uns alle Menschen lieben, verstehen, vergeben, verzeihen, verzeihen.... Ihr müsst eine Liebe haben, die alle Unzulänglichkeiten des menschlichen Elends überdeckt“.
[23] Erinnerung von Amadeo de Fuenmayor Champín, Pamplona, 4. September 1975, in AGP, Reihe A.5, 212-1-6.