Betrachtungstext: 27. Woche im Jahreskreis – Samstag

Jesus ermahnt immer aus Liebe – Die Fehler der anderen lieben – Eine Frucht der Freundschaft

DIE EVANGELIEN berichten über mehrere Momente, in denen Jesus jemanden ermahnt. Einer von ihnen ist jener, als eine Frau aus der Menge ihre Stimme erhob und ihm zurief: Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brust, die dich gestillt hat! Er aber erwiderte: Ja, selig sind vielmehr, die das Wort Gottes hören und es befolgen (Lk 11,27-28).

Der heilige Josefmaria sagte, dass „die brüderliche Zurechtweisung Teil des Blicks Gottes ist, seiner liebevollen Vorsehung“1. Jesus weist die Frau zurecht, weil er sie zur vollen Wahrheit führen will. „Die brüderliche Zurechtweisung wird aus Liebe erteilt“, führt Msgr. Fernando Ocáriz aus. „Sie beweist, dass wir möchten, dass die anderen wirklich glücklich sind.“2 Deshalb besteht unsere Sorge um die anderen nicht darin, bloß zu beurteilen, ob sie irgendeine Regel befolgt haben oder nicht, sondern danach zu trachten, sie so zu sehen, wie Jesus es tat: Sein Blick bleibt nicht bei unbedeutenden Einzelheiten stehen, sondern erfüllt den anderen mit Hoffnung und großen Horizonten. Die Zurechtweisung durch Christus ist geleitet von seiner persönlichen Liebe zum anderen, von seinem Wunsch, dass wir glücklich sind – und nicht dass eine bestimmte äußere Ordnung aufrechterhalten bleibt.

Papst Benedikt sagte: „Es bedarf immer eines liebenden und berichtigenden Blickes, der erkennt und anerkennt, der unterscheidet und vergibt (vgl. Lk 22,61), wie es Gott mit jedem von uns getan hat und tut.“3 Die brüderliche Zurechtweisung wird nicht von oben herab erteilt, wie wenn jemand etwas zu lehren hätte; es geht vielmehr darum, auf den anderen Menschen zuzugehen, um ihn zu verstehen und ihn in seinem Wunsch nach Heiligkeit zu begleiten. Durch die brüderliche Zurechtweisung fühlen sich unsere Mitmenschen nicht allein in ihrem Kampf, sondern wissen, dass sie auf unsere Unterstützung zählen können.


„IHR MÜSST beim Erteilen einer brüderlichen Zurechtweisung die Fehler eurer Brüder lieben“4, sagte der heilige Josefmaria. Ein Herz, das liebt, ist in der Lage, über das hinwegzusehen, was wir bei anderen als Fehler empfinden. Logischerweise werden wir, soweit wir dazu in der Lage sind, versuchen, unseren Geschwistern bei der Überwindung eines Fehlers zu helfen; dies wird allerdings nicht immer möglich sein und auch nicht von heute auf morgen gelingen. Auch ihre Fehler lieben zu lernen, führt uns in gewisser Weise in die Logik der göttlichen Liebe Jesu hinein. Jesus umfängt unsere Stärken und unsere Schwächen, er knüpft keinerlei Bedingungen an seine Liebe.

Papst Franziskus gab den Rat: „Die oberste Regel der geschwisterlichen Zurechtweisung ist die Liebe: das Wohl unserer Brüder und unserer Schwestern zu wünschen. Und oft geht es darum, die Probleme der anderen, die Verfehlungen der anderen stillschweigend im Gebet zu tolerieren, um dann den richtigen Weg zu finden, ihnen zu helfen, sich zu verbessern.“5 Dies heißt, dass wir die Freiheit eines jeden respektieren, wodurch unsere Liebe der Liebe Gottes zu uns immer ähnlicher wird. Einem Bruder oder einer Schwester auf ihrem Weg zur Heiligkeit zu helfen, ähnelt eher einer geduldig durchwachten warmen Nacht in Erwartung des Handelns Gottes als einer kühlen Überwachung. Wer helfen will, bleibt nicht nur bei Äußerlichkeiten hängen, sondern betrachtet das Geschehen im Lichte des Wunsches des anderen nach Heiligkeit. Und dabei zieht er sich gleichsam seine Sandalen aus, denn er befindet sich im Tiefsten dieser Seele (vgl. Ex 3,5).

Bevor wir jemanden zurechtweisen, kann es auch hilfreich sein, sich an die Worte Christi zu erinnern: Zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge, dann wirst du klar sehen, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehen kannst (Mt 7,5). Ohne davon abzulassen, den anderen zu helfen, ist unsere eigene Heiligkeit vielleicht der beste Weg, sie zur Heiligkeit zu ermutigen. In einem anderen Menschen den bonus odor Christi, den Wohlgeruch Christi wahrzunehmen, zieht uns hin zu einem Leben in Freundschaft mit Gott und schafft zudem eine geeignete Atmosphäre, in der wir mit dem gegenseitigen Vertrauen von Kindern ein und desselben Vaters zurechtweisen oder zurechtgewiesen werden können.


UM DIE brüderliche Zurechtweisung auf authentische und fruchtbare Weise zu leben, ist es in der Regel notwendig, dass schon vorher ein Kontext der Nähe und des echten Interesses am Leben des anderen besteht. Jemanden zurechtzuweisen, den wir nicht kennen, ist in der Regel kein Erfolgsrezept und kann leicht ungerecht sein. Am besten ist, wenn eine Beziehung gegenseitiger und echter Freundschaft vorhanden ist, in der Zuneigung bereits auf verschiedene Weise erfahrbar wurde: durch kleine Dienste, gemeinsam erlebte Momente, geteilte Sorgen ... Und dann entsteht, als ein weiterer Ausdruck dieser Freundschaft, spontan der Wunsch, der anderen Person auf ihrem Weg zur Heiligkeit zu helfen. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, feinfühlig an ihr Herz zu gelangen, ohne in ihre Intimsphäre einzudringen, und dabei ihre gesamte Situation vor Augen haben.

Dieser Kontext wird uns auch helfen, die Reaktionen anderer auf Zurechtweisungen zu verstehen. Es gibt temperamentbedingte Veranlagungen, die uns sehr verschieden sein lassen und die der heilige Josefmaria als einen Gutteil des „großen Zählers“ unter den Menschen im Opus Dei und in der Kirche betrachtete. So klingen für manche selbst die feinfühligsten Worte leicht nach einem Vorwurf. Andere wiederum können aus Worten, die nicht besonders klar und deutlich sind, wie ein mangelndes Interesse herauslesen. Jedenfalls entdecken wir alle, wenn zuvor eine Beziehung der Nähe und Freundschaft bestand, eine Geste der Loyalität in der brüderlichen Zurechtweisung.

Der Gründer des Opus Dei sagte, dass wir in Bezug auf einen Bruder „niemals Kritik hinter seinem Rücken dulden werden. Und die unangenehmen Dinge sagen wir auf diese Weise, liebevoll, damit er sich verbessert.“6 Wir bitten Maria, uns zu helfen, unsere Brüder und Schwestern mit ihrem mütterlichen Blick zu sehen, damit wir liebevoll, feinfühlig und loyal miteinander reden können.


1 Msgr. Javier Echevarría, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, S. 127.

2 Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 1.11.2019, Nr. 16.

3 Benedikt XVI., Botschaft zur Fastenzeit 2012, Nr. 1.

4 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, 18.10.1972.

5 Papst Franziskus, Audienz, 3.11.2021

6 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, 21.5.1970.

Foto: Jonas Verstuyft (unsplash)