Thema 17. Kirche und Welt

Die Kirche ist untrennbar zugleich menschlich und göttlich. Sie lebt und wirkt in der Welt, aber ihr Ziel und ihre Kraft sind nicht in der Welt, sondern im Himmel. Die Kirche sucht nur das Heil der Menschheit, aber sie kümmert sich auch um die zeitlichen Angelegenheiten. Jeder Gläubige nimmt entsprechend seiner Stellung, seiner Berufung und den empfangenen Gaben an der Sendung der Kirche teil. Die Laien sind berufen, die Welt von innen heraus zu heiligen. Die Kirche kann und darf den Staat nicht ersetzen; s

Die Kirche erscheint vor der Welt als die Gemeinschaft der Jünger Jesu. Wir glauben, dass Christus der Mensch gewordene Sohn Gottes ist, das menschliche Antlitz Gottes. Er wirkt dem göttlichen Heilsplan gemäß mit dem Heiligen Geist weiter in der Kirche.

„Das Menschliche und das Göttliche in der Kirche sind also untrennbar. Die Kirche ist ihrem Ursprung nach eine göttliche Gesellschaft; ihrem Ziel und den dazu führenden Mitteln nach übernatürlich; weil sie aber aus Menschen besteht, ist sie auch eine menschliche Gesellschaft, lehrt Leo XIII. (Enz. Satis cognitum). Sie lebt und wirkt in der Welt, aber ihr Ziel und ihre Stärke sind nicht in der Erde, sondern im Himmel.“1

Alle geschaffenen Wesen tragen die Spur Gottes, besonders der Mensch, der nach seinem Bild und ihm ähnlich geschaffen ist. Außerdem sieht man schon im Alten Testament, dass Gott eine Ordnung von Wirklichkeiten begründet hat, die wir „sakral“ nennen und die durch gewisse Zeichen erkennbar wird. Das können Personen sein (geweihte Diener), aber auch Sachen (der Tempel und die für den Gottesdienst bestimmten und dem gewöhnlichen Gebrauch entzogenen Dinge). Neben dieser „sakralen Welt“, deren Sinn der Kult ist, gibt es die „profane Welt“, die wir auch „säkular“ nennen: die gewöhnlichen Wirklichkeiten wie Arbeit, Familie, Kultur, gesellschaftliche, wirtschaftlichen, politischen Beziehungen usw. Das bedeutet aber nicht, dass nur das „Sakrale“ Bezug zu Gott hat und das „Profane“ nicht.

Aufgrund der Menschwerdung des Sohnes Gottes können die profanen Wirklichkeiten kraft des Wirkens des Heiligen Geistes durch den Glauben und die Sakramente in Verbundenheit mit ihm gelebt werden. So können alle diese Dinge, ohne dass sie ihrem gewöhnlichen Gebrauch entzogen werden, Mittel der Erlösung und Mittel der Heiligung sein. Das nennen wir „christliche Säkularität“ (von saeculum = Zeit oder Welt). Wir Christen lieben die Welt vor allem, weil sie von Gott geschaffen worden ist; und wir bemühen uns, sie zu Gott zu führen, wobei wir wissen, dass es in der Welt auch die Sünde gibt; dass die Gnade Gottes aber diese Wirklichkeit heilt und erhebt.

Die Kirche in der Geschichte

Die Kirche als Gemeinschaft von Menschen ist und lebt in der Welt. Kirche und Welt stehen zueinander in enger Beziehung, sind aber nicht miteinander identisch. Die Welt ist kein Gott ferner Raum; ihr Sinn erschöpft sich nicht im Irdischen, weil sie in Christus zu einer neuen Weise der Existenz berufen ist, die Jesus das „Reich Gottes“ nennt. Dieses Reich ist keine politische, sondern eine geistige Wirklichkeit. Die Welt ist nicht von Gott unabhängig, wie der Laizismus behauptet, der die Religion in die Privatsphäre verweisen und der Bedeutungslosigkeit anheimgeben will.

Zugleich besitzt die Welt gegenüber der Kirche als Institution Autonomie. Jesus hat gesagt: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört“ (Mt 22,21). Es gibt keine offizielle christliche Lösung für alle Fragen der Welt, sondern verschiedene konkrete Lösungen. Die Kirche identifiziert sich auch nicht mit irgendeiner konkreten historischen Ordnung: einer Ideologie, einem politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Regime usw. Das bedeutet nicht, wie bereits gesagt, dass die irdischen Werte von Gott unabhängig sind. Aus christlicher Sicht ist alles Gabe Gottes und ist die Welt dazu berufen, ein Weg der Erkenntnis und der Liebe zu Gott zu sein; und folglich auch ein Weg, um den Nächsten zu lieben und der Einheit des Menschengeschlechts zu dienen.

Die Sendung der Kirche ist kein politisches Projekt. Sie strebt auch nicht danach, die Welt zu „sakralisieren“. Sie hat eine religiöse Sendung. Sie sucht nur das Heil der Menschheit, wobei dieses Heil mehr ist als Wohlstand oder irdische Gerechtigkeit. Zugleich kümmert sich die Kirche doch auch um die zeitlichen Angelegenheiten, denn der Mensch ist kein Abstraktum, sondern ist eingebettet in einen familiären und sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Kontext, und die Botschaft des Evangeliums geht auf die Erlösung der gesamten Wirklichkeit und fördert daher Gerechtigkeit und Frieden, damit sich dass das Reich Gottes in der Geschichte entfalten kann.

Die Kirche erinnert alle an die Vorläufigkeit aller zeitlichen Errungenschaften. Was wir Menschen tun, muss letztlich von Gott verbessert, ergänzt und verwandelt zu werden. So kann es einen Teil dieser neuen Welt bilden, die dem Reich entspricht.

Aus diesen Gründen wendet die Kirche auch als Institution ihr Augenmerk auf soziale und zeitliche Fragen: nicht weil ihr an den technischen und kontingenten Aspekten gelegen ist, sondern weil diese Angelegenheiten die Vereinigung mit Gott begünstigen oder behindern und so das ewige Leben gefährden können. Das Haupthindernis ist dabei die Sünde. Zwar ist jede Sünde eine persönliche, doch können die Folgen der Sünde dazu führen, dass in der Gesellschaft „Strukturen der Sünde“ entstehen, die den Menschen den Zugang zur Wahrheit und zum allgemeinen Wohl, zum Leben der Gnade und zur Gottes- und Nächstenliebe erschweren. Deshalb gibt die Kirche ihre eigentliche Sendung nicht auf, wenn sie ihre Soziallehre verkündet; sie stellt sich vielmehr dieser Sendung mitten in der Komplexität dieser Welt und versucht, im Dialog zwischen den Kulturen und Religionen zu vermitteln.

Die christliche Säkularität und die Sendung der Kirche

Die Weltsicht, die die Kirche verkündet, nennen wir, wie gesagt, christliche Säkularität oder auch „säkulare Dimension“ des Christlichen und der Kirche. Die christliche Säkularität hat ihre Wurzel in der Tatsache, dass der Sohn Gottes zu einer konkreten Zeit und in einer konkreten Kultur Mensch geworden ist, und sie verwirklicht sich auf verschiedene Weise in allen Christen. Das Lehramt der Kirche erklärt: „Alle Glieder der Kirche nehmen auf verschiedene Weise an ihrer säkularen Dimension teil“ (Christifideles laici, Nr. 15).

So kann man erkennen, dass es in der Kirche eine Vielfalt von persönlichen Positionen gibt, die eine je eigene Beziehung zur Welt haben. Das II. Vatikanische Konzil bringt das zum Ausdruck, wenn es erklärt, dass Hirten, Laien und Ordensleute an der Sendung der Kirche teilnehmen, aber auf je eigene Weise bzw. auf spezifische Weise oder für ihren Teil.

Die Sendung der Kirche ist für alle Getauften dieselbe: die Verherrlichung Gottes (Gott soll erkannt, bejaht und geliebt werden) und das Heil der Menschen durch die persönliche Begegnung mit Christus. Diese Sendung wird auch Evangelisierung genannt, weil es darum geht, die Heilsbotschaft, die Christus uns gebracht hat, zu verkünden. Evangelium bedeutet die „gute Nachricht“ von diesem Heil.

Wie diese Evangelisierung erfolgt, hängt von der Berufung und Sendung des Einzelnen ab2. Die Laien vollziehen das dreifache Erlöseramt Christi und die Sendung der Kirche „gleichsam vom Inneren der weltlichen Realitäten aus“3, das heißt im Rahmen ihrer „gewöhnlichen“ Beziehung zur Welt (die sie mit den Nichtchristen teilen). Das Leben der Ordensleute impliziert hingegen (mit dem Gelöbnis der evangelischen Räte) ein besonderes, für Kirche und Welt notwendiges Zeugnis von der Transzendenz des Himmelreiches, das wir suchen4. Und über die geweihten Amtsträger sagt das II. Vatikanum: „Um Gottes Volk zu weiden und immerfort zu mehren, hat Christus der Herr in seiner Kirche verschiedene Dienstämter eingesetzt, die auf das Wohl des ganzen Leibes ausgerichtet sind“5; „aufgrund ihrer besonderen Erwählung sind sie vor allem und von Berufs wegen dem heiligen Dienstamt zugeordnet“6. Das ist die ihnen eigene Weise der Teilhabe an der Sendung der Kirche.

Jeder Christgläubige nimmt also an der Sendung der Kirche entsprechend seiner Stellung und Berufung teil sowie nach Maßgabe der empfangenen Gaben, zu denen die Sakramente und Charismen zählen. Davon hängen auch die Aufgaben ab, die dem Einzelnen innerhalb der einzigen Sendung der Kirche zukommen.

Alle Christgläubigen sind durch ihre Taufe im Rahmen der Evangelisierungssendung der Kirche zum Vollzug verschiedener Aufgaben befähigt.

Diese Aufgaben können drei Bereichen zugeteilt werden7: A) dem inneren Bereich der Kirche selbst (Apostolat der Christen und gewöhnliche „Pastoral“); B) dem Wirken „nach außen“ (Mission, Beziehung zu Anhängen anderer Religionen und Nicht-Glaubenden); C) dem Ökumenismus (Beziehungen zu den nicht-katholischen Christen zwecks Förderung der Einheit der Christen). Es ist wichtig hervorzuheben, dass bei jeder Aufgabe, an der sich die Gläubigen beteiligen, dies im Einklang mit ihrer eigenen Berufung und Sendung geschehen soll.

Es gibt kirchliche Aufgaben, die jeder Getaufte wahrnehmen kann. Sie können den Glauben betreffen (Katechese oder schulischer Religionsunterricht), den Kult (Teilnahme an der Liturgie), die Caritas (Betreuung von Bedürftigen) oder das allgemeine Leben der Kirche (Teilnahme an Gremien oder Synoden, die pastoralen Entscheidungen vorbereiten). Die Gläubigen können auch mit den Hirten der Kirche in Angelegenheiten zusammenarbeiten, für die sie beruflich qualifiziert sind, zum Beispiel in wirtschaftlichen oder rechtlichen Fragen usw. und sogar in bestimmten Leitungsaufgaben.

Einige dieser Aufgaben (für die das Sakrament der Weihe nicht erforderlich ist) können offiziell von der Kirche als „institutionelle nicht geweihte Dienste“ eingerichtet und überwacht werden. Durch die Übernahme solcher Dienste sind die Gläubigen weder mehr noch weniger Laien als zuvor. Es ist dabei nur darauf zu achten, dass sie diese Dienste im Einklang mit ihrer eigenen Berufung und Sendung erfüllen, so dass man sie nicht mit den Hirten der Kirche verwechseln kann.

Die Rolle der Laien: die Heiligung der Welt von innen heraus

Die gläubigen Laien haben durch die Gnade der Taufe und die vom Heiligen Geist gewährten Charismen von Gott die spezifische Berufung und Sendung empfangen, „in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen“8.

Abgesehen von den verschiedenen Aufgaben, die die Laiengläubigen übernehmen können, besteht ihre eigentliche Sendung daher darin, die Welt „gleichsam von innen heraus“9 zu heiligen. Dies nicht bloß aus dem Grund, dass sie den Großteil ihrer Zeit mit weltlichen Beschäftigungen verbringen und zeitliche Fragen lösen, noch weil sie in die Kirche „eintreten“ müssten, um dann wieder „hinauszugehen“ und die Welt zu heiligen; sondern weil die Gnade, die ihr christliches Leben dort, wo sie sind, eint und lenkt, es mit ihrer Mitwirkung in das Erlösungsgeschehen einbezieht. „Sie sind auch dazu berufen, überall, und zwar inmitten der menschlichen Schicksalsgemeinschaft, Christi Zeugen zu sein.“10

Auf diese Weise ordnen die gläubigen Laien, wenn sie ihre beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Pflichten erfüllen, zugleich die zeitlichen Wirklichkeiten nach dem Willen Gottes. Das II. Vatikanische Konzil besteht klar auf diesem Punkt: „Die Wahrheit verfehlen die, die im Bewusstsein, hier keine bleibende Stätte zu haben, sondern die künftige zu suchen, darum meinen, sie könnten ihre irdischen Pflichten vernachlässigen, und so verkennen, dass sie, nach Maßgabe der jedem zuteil gewordenen Berufung, gerade durch den Glauben selbst um so mehr zu deren Erfüllung verpflichtet sind.“11

Im Zusammenhang mit der modernen Entwicklung der Auffassung von der Rolle des Laien, die zu den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils über Berufung und Sendung der gläubigen Laien geführt hat, hat der heilige Josefmaria kurz nach dem Konzil erklärt: „Diese Gedanken vermitteln eine tiefere Einsicht in das Wesen der Kirche, die sich darstellt als eine durch alle Gläubigen gebildete Gemeinschaft, so dass wir alle Mitträger einer gemeinsamen Aufgabe sind, ein jeder nach seinen persönlichen Bedingungen. Dank dem Antrieb des Heiligen Geistes werden sich die Laien immer mehr dessen bewusst, dass sie Kirche sind, dass sie eine spezifische, erhabene und notwendige – da gottgewollte – Aufgabe haben. Sie wissen auch, dass diese Aufgabe von ihrem Christsein selbst abhängt und nicht notwendigerweise von einem Auftrag der Hierarchie, auch wenn es selbstverständlich ist, dass die Laien diese Aufgabe in Einheit mit der kirchlichen Hierarchie und in Übereinstimmung mit dem Lehramt erfüllen müssen.“12

Die Berufung der Priester und der Ordensleute entbindet diese nicht von der Aufgabe, die Welt zu heiligen; aber die Weise, in der sie diese Heiligung bewirken, ist eine andere. Die geweihten Amtsträger verwirklichen sie durch die Ausübung ihres Dienstes, die Ordensleute durch ihr spezifisches eschatologisches Zeugnis.

Den Hirten kommt in erster Linie die Verkündigung der Soziallehre der Kirche zu; in zweiter Linie die Bildung der Gläubigen und ihres Gewissens in diesem Bereich. Wenn es notwendig ist, können sie auch ein moralisches Urteil über außergewöhnliche Situationen sozialer oder politischer Art abgeben. Die Hinweise der Hirten bewegen sich auf der Ebene der Empfehlungen an die Gläubigen, nicht der Weisungen, auch wenn solche unter außergewöhnlichen Umständen möglich sind.

Die Hierarchie hat also, was die Organisation der Gesellschaft betrifft, keine direkte Funktion. Ihre Aufgabe ist es, die „moralischen und geistlichen Hilfen“ zu gewähren und über die „sittlichen Grundsätze“ zu orientieren. Die Laien führen dann ihre Aktivitäten durch „in freier Initiative, und ohne passiv Anweisungen und Richtlinien zu erwarten“13.

Die Kirche akzeptiert jedes gesellschaftliche System, das die menschliche Würde achtet; und die Gläubigen sollen das soziale Lehramt der Kirche mit Zustimmung des Verstandes, des Willens und der Werke annehmen14.

Das Zentrum der ganzen Sendung der Kirche ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten, besonders zu den Bedürftigsten. „Ein Mensch oder eine Gesellschaft, die auf die Not und die Ungerechtigkeit nicht reagieren und sich nicht bemühen, sie zu lindern, sind nicht Mensch und nicht Gesellschaft nach dem Maße des liebenden Herzens Christi.“15

Freiheit und Verantwortung der Laien

Die Rede von Freiheit und Verantwortung in den verschiedenen sozialen, politischen und kulturellen Aktivitäten im Rahmen der laikalen christlichen Berufung führt zur Unterscheidung zwischen Laizität und Laizismus. Unter Laizität versteht man die Autonomie des Staates gegenüber den kirchlichen Gesetzen; unter Laizismus dagegen das Streben nach einer Autonomie der Politik gegenüber der sittliche Ordnung und dem göttlichen Willen, bei dem die Religion zur reinen Privatsache wird. Der Laizismus verletzt das Recht auf Religionsfreiheit und schädigt die soziale Ordnung16.

Eine gesunde Laizität vermeidet zwei Extreme: die staatliche Vorschreibung einer Moral, die allein über Gut und Böse entscheidet (was einer Pseudoreligion gleichkäme); und die staatliche A-priori-Ablehnung aller sittlichen Werte, die aus kulturellen oder religiösen Bereichen kommen, die dem Einzelnen überlassen sind und nicht durch die politische Macht bestimmt werden dürfen.

Es muss auch betont werden, dass es illusorisch und ungerecht ist, von den Gläubigen zu verlangen, dass sie in der Politik so handeln, „als würde Gott nicht existieren“. Es ist illusorisch, weil alle Menschen auf der Grundlage ihrer kulturellen Überzeugungen handeln (religiöser, philosophischer, politischer Natur usw.), ob sie nun aus einem religiösen Glauben kommen oder nicht, und diese Überzeugungen für das soziale Verhalten der Bürger relevant sind. Und es ist ungerecht, weil Glaubende wie Nichtglaubende ihre je eigenen Auffassungen unabhängig davon vertreten, woher sie kommen. Es muss nur sichergestellt sein, dass ihre soziale und politische Aktivität die menschliche Würde und das Gemeinwohl achtet.

In der Politik im Einklang mit dem eigenen Glauben zu handeln, entspricht der Würde der Personen und bedeutet nicht, dass die Politik der Religion unterworfen ist; es bedeutet nur, dass Politik im Dienst des Menschen steht und daher die sittlichen Forderungen anerkennen und die Würde des Menschen in seiner Ganzheit achten und fördern muss. So gesehen entspricht ein politischer Einsatz aus transzendenten Motiven durchaus der menschlichen Natur, stimuliert diesen Einsatz und zeitigt bessere Ergebnisse.

Die Religion kann und soll als kritisches Korrektiv für die sittlichen Werte einer Gesellschaft dienen. Umgekehrt kann und soll die Ethik in der Lage sein, die Gläubigen jeder Religion kritisch nach Übereinstimmung ihrer Überzeugungen (oder ihrer religiösen Praxis bzw. ihres vom religiösen Glauben inspiriertes Verhalten als Bürger) mit der menschlichen Würde und dem Gemeinwohl zu befragen. Religion und Ethik sollen im sozialen und bürgerlichen Leben in Dialog treten.

Kirche und Staat

Im Lauf der Geschichte haben die Christen ihre Sendung, die Welt zu evangelisieren, auf verschiedene Weise verstanden. Auch das Verständnis der institutionellen Beziehungen zwischen Kirche und Staat hat Wandlungen erfahren. Während einiger Jahrhunderte war das Modell in den christlichen Ländern der konfessionelle katholische Staat, in dem die sakrale Macht der Könige durch die geistliche Autorität der Kirche verbürgt wurde. Es handelte sich um ein wechselseitiges Zusammenwirken, das in vielen Fällen der Kirche die Freiheit raubte, so dass sie de facto der zeitlichen Macht unterworfen wurde. Die sozialen und politischen Veränderungen im Gefolge der Aufklärung führten zur Trennung von Kirche und Staat, wobei die Kirche die Legitimität der demokratisch vom Volk gewählten Regierungen anerkannte.

Das System der vollkommenen Trennung ist jedoch nicht ideal. Die institutionelle Beziehung zwischen Kirche und Staat (die ihrem Wesen und ihren Zielen nach verschieden sind) verlangt vielmehr eine Unterscheidung ohne Trennung ein bzw. eine Verbindung ohne Vermischung (vgl. Mt 22,15-21 und par.). Diese Beziehung wird korrekt und fruchtbar sein, wenn zwischen den beiden Teilen ein freundschaftliches und auf Zusammenarbeit ausgerichtetes Verhältnis besteht, bei dem die Rolle der Religion im persönlichen und sozialen Leben anerkannt und das Recht auf Religionsfreiheit respektiert wird.

Die Kirche hat von Christus den Missionsauftrag erhalten: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Mt 28,19-20). Durch ihre Lehre und ihre apostolische Tätigkeit auf universaler Ebene und auf der konkreten Ebene der Teilkirchen in West und Ost trägt die Kirche zur rechten Ordnung der zeitlichen Dinge bei, so dass diese den Menschen helfen, ihr letztes Ziel zu erreichen und nicht von ihm abzuweichen.

Die Mittel, die die Kirche als Institution benützt, um ihre Sendung zu verwirklichen, sind vor allem geistlicher Art: die Verkündigung des Evangeliums, die Spendung der Sakramente, das Gebet. Sie muss freilich auch entsprechend der Natur ihrer Mitglieder, die Menschen sind, materielle Mittel einsetzen (vgl. Apg 4,32-37; 1 Tim 5,18). Diese Mittel müssen immer im Einklang mit dem Evangelium stehen. Die Kirche braucht darüber hinaus für ihre Sendung in der Welt zwar Unabhängigkeit, nicht aber politische oder wirtschaftliche Vorherrschaft17.

Der Staat ist eine Einrichtung, die sich aus dem natürlichen gesellschaftlichen Wesen des Menschen ableitet. Sein Ziel ist das zeitliche Gemeinwohl der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses Wohl ist nicht nur ein materielles, sondern auch ein geistiges, denn die Mitglieder der Gesellschaft sind Personen mit Leib und Seele. Für den sozialen Fortschritt sind nicht nur materielle Mittel, sondern viele Güter geistigen Charakters nötig: Friede, Ordnung, Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit usw. Diese Güter können nur durch die Übung der sozialen Tugenden, die der Staat fördern und schützen soll (zum Beispiel die öffentliche Sittlichkeit), erreicht werden.

Die Unterscheidung zwischen dem religiösen und dem politischen Bereich bedeutet, dass der Staat nicht „sakral“ ist und nicht die Gewissen leiten darf, da die moralische Grundlage der Politik außerhalb derselben liegt. Die Kirche wiederum besitzt keine politische Zwangsgewalt. Da die Zugehörigkeit zu ihr in bürgerlicher Hinsicht eine freiwillige ist, hat ihre Vollmacht geistlichen Charakter, und sie schreibt keine konkreten politischen Lösungen vor. Wenn Staat und Kirche die ihnen zustehenden eigenen Funktionen wahrnehmen, begünstigt das die religiöse und gesellschaftliche Freiheit.

Daraus ergeben sich zwei wichtige Rechte: das Recht auf Religionsfreiheit, das Freiheit von Zwang vonseiten des Staates in Fragen der Religion bedeutet; und das Recht auf freies, in zeitlichen Dingen von der Hierarchie unabhängiges Handeln der Katholiken. „Die Laien haben das Recht, dass ihnen in den Angelegenheiten des irdischen Gemeinwesens jene Freiheit zuerkannt wird, die allen Bürgern zukommt; beim Gebrauch dieser Freiheit haben sie jedoch dafür zu sorgen, dass ihre Tätigkeiten vom Geist des Evangeliums erfüllt sind, und sich nach der vom, Lehramt der Kirche vorgelegten Lehre zu richten; dabei haben sie sich jedoch davor zu hüten, in Fragen, die der freien Meinungsbildung unterliegen, ihre eigene Ansicht als Lehre der Kirche auszugeben.“18

Religionsfreiheit

Die institutionelle Unterscheidung von Kirche und Staat zieht – wie erwähnt – nicht gänzliche Trennung nach sich. Sie verlangt auch nicht, dass die Kirche das eigene Wirken auf den privaten und geistlichen Bereich beschränkt. Gewiss „kann und darf (sich die Kirche) nicht an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben“19. In diesem Sinn hat sie das Recht und die Pflicht, „ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“20.

Ein wichtiger Aspekt der Beziehung von Kirche und Staat ist das Recht auf Religionsfreiheit. Über dieses Recht zu wachen bedeutet, über die gesamte soziale Ordnung zu wachen. Das Recht auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit der Religionsausübung für die Gläubigen aller Religionen ist die Quelle und Zusammenfassung aller Menschenrechte.

In vielen Ländern garantiert die Verfassung als System der Grundrechte, die die Regierung des Staates regeln, diese Religionsfreiheit weitgehend für alle Bürger und religiösen Gruppen. Außerdem versucht die Kirche, wenn es möglich ist, Verträge mit den Staaten abzuschließen (meist Konkordate genannt), in denen Lösungen für konkrete Fragen vereinbart werden – wie die Freiheit der Kirche und ihrer Einrichtungen für die Durchführung ihrer Sendung, Übereinkünfte bezüglich Erziehung oder wirtschaftliche Angelegenheiten, Feiertage usw.

Enrique Colom, Christian Mendoza, Ramiro Pellitero

Grundlegende Bibliografie

Katechismus der Katholischen Kirche, 2104-2109; 2244-2246; 2419-2425.

II. Vatikanisches Konzil, Konstitution Gaudium et spes, 74-76; Erklärung Dignitatis humanae, 1-7: 13-14.

Hl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 30.12.88, 36-44.

Empfohlene Lektüren

Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24.11.2002.

Kompendium der Soziallehre der Kirche, 49-55; 60-71; 189-191; 238-243; 377-427.

Hl. Josefmaria Escrivá, Homilie Die Welt leidenschaftlich lieben, in Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 113-123.


1 Hl. Josefmaria Escrivá, Liebe zur Kirche, Nr. 6.

2 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche (KKK), 901-913.

3 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 31.

4 Zum geweihten Leben, vgl. Katechismus, 914-933.

5 Lumen gentium, 18.

6 Ebd., 31.

7 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dekret Ad gentes, 6.

8 Lumen gentium, 31.

9 Ebd.

10 II. Vatikanisches Konzil, Konst. Gaudium et spes, 43.

11 Ebd.

12 Hl. Josefmaria Escrivá, Gespräche, Nr. 59.

13 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dekret Apostolicam actuositatem, 7.

14 Vgl. Lk 10,16; KKK, 2032 und 2037.

15 Hl. Josefmaria Escrivá, Christus begegnen, Nr. 167.

16 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 572.

17 Vgl. KKK, 2246; Kompendium der Soziallehre, 426.

18 Codex Iuris Canonici, 227; vgl. Gaudium et spes, 76.

19 Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 28.

20 Gaudium et spes, 76.

Enrique Colom, Christian Mendoza, Ramiro Pellitero