Thema 10. Die Sünde und die Barmherzigkeit Gottes

Der Verlust des Sündenbewusstseins hat zu einem Verlust des Wissens um die Erlösungsbedürftigkeit geführt, und damit zu einer Gottvergessenheit durch Gleichgültigkeit. Dennoch ist der Triumph Christi Ausdruck seines Erbarmens mit den Menschen und zeigt «dass die Liebe stärker ist als die Sünde». Erbarmen ist das Grundgesetz im Herzen jedes Menschen, wenn er auf seinen Bruder schaut, dem er auf dem Weg des Lebens begegnet.

Das Geheimnis der Barmherzigkeit

Ein Blick auf unsere Zivilisation bietet ein Panorama, das neben großen Errungenschaften auch Schatten und Unsicherheiten aufweist, die nicht nur oberflächlich sind. Denn «in Wahrheit hängen die Störungen des Gleichgewichts, an denen die moderne Welt leidet, mit jener tiefer liegenden Störung des Gleichgewichts zusammen, die im Herzen des Menschen ihren Ursprung hat»1.

Der Mensch als Geschöpf ist zahlreichen Begrenzungen unterworfen. Wenn er sieht, dass es unmöglich ist, eine Antwort auf das Böse, das Leid und die Ungerechtigkeit zu finden, dann steigt in ihm oft nicht eine Bitte zum erbarmungsreichen Gott empor, sondern eine von der Empörung getragene Anklage. Die Erfahrung des Bösen und des Leids “rechtfertigt“ dann, dass er sich von Gott abwendet und seine barmherzige Güte ignoriert. Einige sehen im Leid dann sogar eine göttliche Bestrafung des Sünders und entstellen dadurch das Erbarmen Gottes noch mehr.

So kommt es zu einem circulus vitiosus. Der heilige Johannes Paul II. spricht vom Drama, «das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen»2. Gott scheint keine Bedeutung mehr zu haben, weil er unsere Probleme nicht lösen kann. Einerseits sehen wir nicht klar, dass wir überhaupt eine Erlösung brauchen, und andererseits scheint die von der Kirche Jesu Christi angebotene Erlösung die Sache nicht zu treffen.

Konsequenz dieser „Gottesfinsternis“ ist die kollektive Weigerung, das Erbarmen Gottes anzurufen und um Verzeihung zu bitten. Der Verlust des Sündenbewusstseins lässt die eigene Erlösungsbedürftigkeit nicht mehr wahrnehmen, und die Gleichgültigkeit führt schließlich dazu, dass man Gott vergisst.

Je mehr nun das menschliche Bewusstsein der Säkularisierung verfällt und die Bedeutung des Wortes Barmherzigkeit verblasst, desto mehr empfindet die Kirche das Recht und den gebieterischen Auftrag, den barmherzigen Gott zu verkünden. Das Geheimnis des christlichen Glaubens scheint in diesem Wort seine Synthese zu finden. Der Evangelisierungsauftrag lautet: den gekreuzigten, gestorbenen und auferstandenen Christus laut zu verkünden, in dem sich die volle und wirkliche Befreiung vom Bösen, von Sünde und Tod verwirklicht.3

Jesus Christus ist das barmherzige Angesicht des Vaters. «Es ist, als ob Christus habe offenbaren wollen, dass die Grenze, die Gott dem Bösen gesetzt hat, dessen Ursache und Opfer der Mensch ist, letztlich die Göttliche Barmherzigkeit ist»4.

Der Triumph Christi ist Ausdruck seines Erbarmens mit den Menschen. Das heißt, «die Liebe ist stärker als die Sünde », «stärker als der Tod und alles Übel»5. Die Welt kann angesichts von Krieg und Gewalt nur den Frieden finden, wenn sie das Erbarmen anruft: «Jesus, ich vertraue auf Dich»6.

Angesichts der Evidenz des Bösen in der Welt ist es nicht leicht, eine Antwort zu finden. Vielleicht ist das so, weil das Böse weniger ein Problem als ein Mysterium ist. Ein Mysterium, das uns persönlich betrifft. Ein Geheimnis, das nicht auf theoretischem Weg geklärt wird, sondern nur durch das konkrete existentielle Verhalten.

Wir haben es immer nötig, das Geheimnis des Erbarmens zu betrachten: den Zusammenhang zwischen Leiden, Ungerechtigkeit und Sünde, zwischen Mensch und Gott. Denn, wie Papst Franziskus betont7, ist Erbarmen das dem Herzen jedes Menschen innewohnende Grundgesetz, wenn er auf den Bruder schaut, der ihm auf dem Weg des Lebens begegnet. Barmherzigkeit ist das Wort, welches das Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit offenbart. Barmherzigkeit ist der letzte und erhabenste Akt, mit dem Gott auf uns zukommt. Darum ist die Barmherzigkeit der Weg, der Gott und den Menschen verbindet.

Im Leben der Kirche ist die Barmherzigkeit ständig präsent. Aber es gibt Momente, in denen wir aufgerufen sind, uns besonders intensiv auf die Barmherzigkeit zu besinnen.

Von der Barmherzigkeit her versteht man die Sünde

«Gott ist unendlich gut, und alle seine Werke sind gut. Niemand entgeht jedoch der Erfahrung des Leides, der natürlichen Übel – die mit den Grenzen der Geschöpfe gegeben zu sein scheinen –, und vor allem kann niemand dem Problem des sittlich Schlechten ausweichen» (Katechismus, 385). «In der Geschichte des Menschen ist die Sünde gegenwärtig. Man würde vergeblich versuchen, sie nicht wahrzunehmen oder diese dunkle Wirklichkeit mit anderen Namen zu versehen» (Katechismus, 386). Aber woher kommen das Übel und insbesondere die Sünde?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auf das Geheimnis Gottes besinnen, denn die Sünde ist nur von Gott her und angesichts des Erbarmens Jesu Christi zu verstehen. «”Die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit” (2 Thess2,7) enthüllt sich nämlich nur im Licht des “Geheimnisses des Glaubens” (1 Tim 3,16). Die in Christus geschehene Offenbarung der göttlichen Liebe zeigt zugleich die Macht der Sünde und die Übergröße der Gnade (vgl. Röm 5,20). Wenn wir uns der Frage nach dem Ursprung des Bösen stellen, müssen wir also den Blick unseres Glaubens auf den richten, der allein dessen Besieger ist (vgl. Lk 11,21-22; Joh 16,11; 1 Joh 3,8)» (Katechismus, 385). Wie Pascal in seinen Gedanken über die Religion sagt, ist eine Erkenntnis Gottes ohne die Erkenntnis unserer Erlösungsbedürftigkeit trügerisch, wie auch die Einsicht in unser Elend trügerisch ist ohne das Wissen um den Erlöser.8

Erst aus der Sicht der tiefen Bindung des Menschen an Gott kann man verstehen, dass Sünde ein Missbrauch der Freiheit ist, die Gott den geschaffenen Personen gegeben hat, damit sie ihn und damit sie einander lieben können (vgl. Katechismus, Nr. 386).

Um die Wirklichkeit der Sünde aufzuhellen, spricht die göttliche Offenbarung besonders von der Sünde des Anfangs. Aber der Ausgangspunkt für ihr Verständnis ist die von Jesus offenbarte Botschaft von der göttlichen Barmherzigkeit.

Die Erbsünde: eine wesentliche Glaubenswahrheit

«Die Lehre von der Erbsünde [oder Ursünde] ist gewissermaßen die “Kehrseite” der frohen Botschaft, dass Jesus der Retter aller Menschen ist, dass alle des Heils bedürfen und dass das Heil dank Christus allen angeboten wird» (Katechismus, 389).

«Der Bericht vom Sündenfall (Gen 3) verwendet eine bildhafte Sprache, beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte des Menschen stattgefunden hat. Die Offenbarung gibt uns die Glaubensgewissheit, dass die ganze Menschheitsgeschichte durch die Ursünde gekennzeichnet ist, die unsere Stammeltern freiwillig begangen haben (vgl. Konzil von Trient: DS 1513; Pius XII, Humani generis, DS 3897; Paul VI., Ansprache vom 11. Juli 1966) (Katechismus, 390).

«Hinter der Entscheidung unserer Stammeltern zum Ungehorsam steht eine verführerische widergöttliche Stimme (vgl. Gen 3,1-5), die sie aus Neid in den Tod fallen lässt (vgl. Weish 2,24). Die Schrift und die Überlieferung der Kirche erblicken in diesem Wesen einen gefallenen Engel, der Satan oder Teufel genannt wird (vgl. Joh 8,44; Offb12,9). Die Kirche lehrt, dass er zuerst ein von Gott erschaffener guter Engel war» (Katechismus, 391).

«Vom Teufel versucht, ließ der Mensch in seinem Herzen das Vertrauen zu seinem Schöpfer sterben (vgl. Gen3,1-11), missbrauchte seine Freiheit und gehorchte dem Gebot Gottes nicht. Darin bestand die erste Sünde des Menschen (vgl. Röm 5,19). Danach wird jede Sünde Ungehorsam gegen Gott und Mangel an Vertrauen auf seine Güte sein» (Katechismus, 397).

«Die Schrift zeigt die verhängnisvollen Folgen dieses ersten Ungehorsams. Adam und Eva verlieren sogleich die Gnade der ursprünglichen Heiligkeit (vgl. Röm 3,23). Sie fürchten sich vor Gott (vgl. Gen 3,9-10), von dem sie sich das Zerrbild eines Gottes gemacht haben, der auf seine Vorrechte eifersüchtig bedacht ist (vgl. Gen 3,5)» (Katechismus, 399).

Als Folge zeigt sich: «Die Harmonie, die sie der ursprünglichen Gerechtigkeit verdankten, ist zerstört; die Herrschaft der geistigen Fähigkeiten der Seele über den Körper ist gebrochen (vgl. Gen 3,7); die Einheit zwischen Mann und Frau ist Spannungen unterworfen (vgl. Gen 3,11-13); ihre Beziehungen sind gezeichnet durch Begierde und Herrschsucht» (vgl. Gen 3,16) (Katechismus, 400).

«Auch die Harmonie mit der Schöpfung ist zerbrochen: die sichtbare Schöpfung ist dem Menschen fremd und feindlich geworden (vgl. Gen 3,17.19). Wegen des Menschen ist die Schöpfung der Knechtschaft “der Vergänglichkeit unterworfen” (Röm 8,21). Schließlich wird es zu der Folge kommen, die für den Fall des Ungehorsams ausdrücklich vorhergesagt worden war (vgl. Gen 2,17): der Mensch “wird zum Erdboden zurückkehren, von dem er genommen ist” (Gen 3,19). Der Tod hält Einzug in die Menschheitsgeschichte (vgl. Röm 5,12)» (Katechismus, 400).

«Seit dieser ersten Sünde überschwemmt eine wahre Sündenflut die Welt: Kain ermordet seinen Bruder Abel (vgl. Gen 4,3-15); infolge der Sünde werden die Menschen ganz allgemein verdorben (vgl. Gen 6,5.12; Röm 1,18-32); in der Geschichte Israels äußert sich die Sünde oft – vor allem als Untreue gegenüber dem Gott des Bundes und als Übertretung des mosaischen Gesetzes; und selbst nach der Erlösung durch Christus sündigen auch die Christen auf vielerlei Weisen (vgl. 1 Kor 1-6; Offb 2-3)» (Katechismus, 401).

Folgen der Ursünde für die Menschheit

Die menschliche Existenz macht die Sünde in unserem Leben evident, lässt aber auch erkennen, dass die Sünde nicht daher kommt, dass wir von Natur aus schlecht sind. Sie erweist sich nämlich als eine Folge der freien Entscheidung für das Böse. Das sittlich Schlechte gehört demnach nicht zur Struktur des Menschen, es resultiert nicht aus seiner Sozialnatur oder seiner Stofflichkeit und kommt natürlich auch nicht von Gott oder von einem unabwendbaren Schicksal. Der christliche Realismus konfrontiert den Menschen mit seiner Eigenverantwortlichkeit: Aufgrund seiner Freiheit kann er das Böse tun, und er ist selbst dafür verantwortlich (vgl. Katechismus, 387).

«Was uns aus der Offenbarung bekannt ist, steht mit der Erfahrung in Einklang: der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von seinem guten Schöpfer herkommen können. Oft weigert er sich, Gott als seinen Ursprung anzuerkennen; er durchbricht dadurch auch die geschuldete Ausrichtung auf sein letztes Ziel, zugleich aber auch seine ganze Ordnung hinsichtlich seiner selbst wie hinsichtlich der anderen Menschen und der ganzen Schöpfung» (GeS, 13,1).

Im Lauf der Geschichte hat die Kirche das Dogma der Erbsünde formuliert, das sowohl einem überzogenen Optimismus und als auch einem existentiellen Pessimismus entgegensteht (vgl. Katechismus, 406). Pelagius behauptete, der Mensch könne aus eigener Kraft das Gute tun und die Gnade sei bloß eine äußere Hilfe. Damit unterschätzte er in ihrer Bedeutung sowohl die Sünde Adams als auch die durch Christus bewirkte Erlösung, weil er sie auf das schlechte bzw. gute Beispiel reduzierte. Dagegen hat das Konzil von Karthago (418) im Anschluss an Augustinus die absolute Priorität der Gnade gelehrt, weil der Mensch durch die Sünde zu Schaden gekommen ist (vgl. DH 223.227; vgl. auch II. Konzil von Orange, 529: DH 371-372). Luther wiederum hatte behauptet hatte, der Mensch sei durch die Sünde im Wesen korrumpiert, seine Freiheit sei verloren gegangen und sein gesamtes Tun sei sündig. Das Konzil von Trient (1546) betonte dem gegenüber, die ontologische Relevanz der Taufe, durch die die Erbschuld getilgt wird, auch wenn die sich aus ihr ergebenden Folgen bleiben, darunter die Konkupiszenz, die man jedoch nicht – wie Luther es getan hat – mit der Sünde selbst gleichsetzen darf. Der Mensch ist in seinen Handlungen frei und kann, von der Gnade gestützt, durch gute Werke Verdienste erwerben (vgl. DH 1511-1515).

Im Grunde geht es bei der Position Luthers sowie bei einigen jüngeren Interpretationen von Gen 3 um das rechte Verständnis des Verhältnisses 1) von Natur und Geschichte, 2) von psychologisch-existentieller und ontologischer Ebene und 3) von Individualität und Kollektivität.

1) Auch, wenn es in der Genesis einige mythologische Elemente gibt (wobei “Mythos” hier im besten Sinn gemeint ist, nämlich als Wort und Erzählung von den Ursprüngen, auf die sich die spätere Geschichte stützt), wäre es ein Irrtum, den Bericht vom Sündenfall als symbolische Erklärung für eine ursprüngliche Sündhaftigkeit des Menschen zu interpretieren. Eine solche Interpretation macht aus einem historischen Geschehen etwas in der Natur Gelegenes, mystifiziert es und lässt es als unvermeidbar erscheinen. Eine solche Auffassung würde dazu führen, dass sich der Sünder „von Natur aus“ als solcher betrachtet, was zu einer Abschwächung oder gar Beseitigung der persönlichen Verantwortung die für Sünde führen würde, weil der Mensch dann nicht vermeiden kann, wozu er sich spontan gedrängt fühlt. Richtig ist vielmehr, dass die Sündhaftigkeit zur Menschheitsgeschichte gehört und nicht zur ursprünglichen Natur des Menschen.

2) Da nach der Taufe einige Sündenfolgen verbleiben, kann der Christ eine starke Neigung zum Bösen verspüren, sich im Tiefsten als Sünder empfinden, wie das im Leben der Heiligen vorkommt. Trotzdem ist diese existentielle Perspektive weder die einzige noch die wichtigste, da die Taufe die Erbsünde wirklich tilgt und uns zu Kindern Gottes macht (vgl. Katechismus, 405). Ontologisch ist der in der Gnade stehende Christ vor Gott gerecht. Luther hat die existentielle Perspektive radikalisiert und alle Gegebenheiten von ihr her verstanden, so dass ihm ontologisch alles von der Sünde her befleckt erscheint.

3) Der dritte Punkt betrifft die Übertragung der Ursünde: «ein Geheimnis, das wir nicht völlig verstehen können» (Katechismus, 404). Die Bibel lehrt, dass unsere Stammeltern diese Sünde der ganzen Menschheit übertragen haben. Die folgenden Kapitel der Genesis (vgl. Gen 4-11; Katechismus, 401) berichten von der zunehmenden Verderbnis des Menschengeschlechts. Paulus sieht eine Parallele zwischen Adam und Christus: «Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern gemacht worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden» (Röm 5,19). Diese Parallele hilft, das Wort adamáh – meist als kollektiver Singular aufgefasst – korrekt zu verstehen: So wie Christus ein einziger und zugleich Haupt der Kirche ist, so ist Adam ein einziger und zugleich Haupt der ganzen Menschheit9. «Wegen dieser “Einheit des Menschengeschlechtes” sind alle Menschen in die Sünde Adams verstrickt, so wie alle in die Gerechtigkeit Christi einbezogen sind» (Katechismus, 404).

Die Kirche versteht die Ursünde der Stammeltern und die von der Menschheit ererbte Sünde in analoger Weise. Adam und Eva begehen eine persönliche Sünde, «aber diese Sünde trifft die Menschennatur [...]. Sie ist eine Sünde, die durch Fortpflanzung an die ganze Menschheit weitergegeben wird, nämlich durch die Weitergabe einer menschlichen Natur, die der ursprünglichen Heiligkeit und Gerechtigkeit ermangelt. Deswegen ist die Erbsünde “Sünde” in einem übertragenen Sinn. Sie ist eine Sünde, die man “miterhalten”, nicht aber begangen hat, ein Zustand, keine Tat» (Katechismus, 404). «Obwohl “einem jeden eigen”, hat die Erbsünde bei keinem Nachkommen Adams den Charakter einer persönlichen Schuld» (Katechismus, 405)10.

Manche finden es schwierig, die Idee einer ererbten Sünde zu akzeptieren11, besonders wenn sie eine individualistische Auffassung von Person und Freiheit haben. Was habe ich mit der Sünde Adams zu tun? Warum muss ich die Folgen der Sünden anderer tragen? Diese Fragen zeigen, dass es am Sinn für die reale Solidarität mangelt, die unter allen Menschen besteht, insofern sie Gottes Geschöpfe sind. In diesem Mangel kann man paradoxerweise einen Hinweis gerade auf die Sünde sehen, die auf jeden übergegangen ist und so auch die Einsicht in die zwischen allen Menschen bestehende Brüderlichkeit verdunkelt.

Angesichts der bedauerlichen Sündenfolgen und ihrer universellen Verbreitung kann man sich fragen: «Aber warum hat Gott den ersten Menschen nicht daran gehindert, zu sündigen? Der heilige Leo der Große antwortet: «Wertvoller ist das, was uns durch die unbeschreibliche Gnade des Herrn zuteilwurde, als was wir durch des Teufels Neid verloren haben» (serm. 73,4). Und der heilige Thomas von Aquin: «Auch nach der Sünde blieb die Möglichkeit einer Höherführung der Natur. Gott lässt ja das Böse nur zu, um etwas Besseres daraus entspringen zu lassen: “Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, ist die Gnade übergroß geworden” (Röm 5,20). Darum wird bei der Weihe der Osterkerze gesungen: “O glückliche Schuld, die einen solchen großen Erlöser zu haben verdient hat!” (Summa Theologiae, III, 1, 3, ad 3)» (Katechismus, 412).

Das Leben als Kampf

Dieser Blick auf die Sünde von der Warte der Erlösung durch Christus aus zeigt ein realistisches Bild der Situation des Menschen und seines Wirkens in der Welt. Der Christ muss sich sowohl seiner Größe als Kind Gottes als auch seines Zustands als Sünder bewusst sein. Dieser Realismus

a) verhindert sowohl einen naiven Optimismus als auch einen verzweifelten Pessimismus und «gibt einen klaren Blick dafür, wie es um den Menschen und sein Handeln in der Welt steht [...]. Zu übersehen, dass der Mensch eine verwundete, zum Bösen geneigte Natur hat, führt zu schlimmen Irrtümern im Bereich der Erziehung, der Politik, des gesellschaftlichen Handelns und der Sittlichkeit» (Katechismus, 407);

b) schenkt ein gelassenes Vertrauen zum Schöpfergott, dem barmherzigen Vater, der sein Geschöpf nicht fallen lässt, immer verzeiht und alles zum Guten führt. «Sag immer wieder: "omnia in bonum", alles, was da geschieht - "alles, was mir geschieht" -, ist zu meinem Besten. Darum lautet die richtige Schlußfolgerung: das, was dir so mühselig erscheint, als segensreiche Realität anzunehmen»12;

c) erweckt eine Haltung tiefer Demut, die dazu führt, die eigenen Sünden anzuerkennen, ohne sich darüber zu wundern, und für sie Schmerz zu empfinden, weil sie Beleidigung Gottes sind, und nicht so sehr weil sie eine persönliche Schwäche darstellen;

d) hilft zu unterscheiden zwischen dem, was auf der menschlichen Natur als solcher beruht, von dem, was auf die Verwundung durch die Sünde zurückzuführen ist. Nach dem Sündenfall ist nicht alles, was wir spontan empfinden, auch gut. Das Menschenleben hat daher den Charakter eines Kampfes. Man muss darum ringen, sich als Mensch und Christ zu betragen (vgl. Katechismus, 409). «Die kirchliche Überlieferung hat die Christen stets als milites Christi, als Streiter Christi bezeichnet, die anderen den inneren Frieden bringen, während sie selbst unablässig gegen die eigenen bösen Neigungen ankämpfen.»13 Der Christ, der sich bemüht, die Sünde zu meiden, verliert nichts von dem, was das Leben gut und schön macht. Gegen die Idee, dass man das Böse tun muss, um die Erfahrung seiner autonomen Freiheit zu machen, weil ein Leben ohne Sünde letztlich langweilig sei, erhebt sich die Gestalt der unbefleckt empfangenen Jungfrau Maria, die mit ihrem ganz Gott geweihten Leben zeigt, dass dieses keineswegs von Überdruss gekennzeichnet ist, sondern sich in ein Abenteuer voll Licht und unzähligen Überraschungen verwandelt14.

Die Zärtlichkeit Gottes: Sünde, Erlösung, Erbarmen

Gegen die Realität der Sünde stellt sich das gewaltige Erbarmen Gottes. Jesus Christus ist das Bild dieses Erbarmens («Ich bin nicht gekommen, um Gerechte, sondern Sünder zur Umkehr zu rufen»: Lk 5,32). Wir erkennen das aus seiner Haltung gegenüber den Sündern: Zachäus, der Gelähmte, die Ehebrecherin, die Samariterin, Maria Magdalena, der gute Schächer, Petrus und viele andere.

Besonders deutlich sichtbar wird das in den Gleichnissen über die Barmherzigkeit (etwa dem vom verlorenen Sohn), die die Lehre des Alten Testaments über Gott in ihrer Fülle entfalten: «ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue» (Ex 34, 6). Darauf beziehen sich auch immer wieder die Psalmen: «Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Huld und Treue» (Ps 86, 15); «Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld» (Ps 103, 8); «Gnädig ist der Herr und gerecht, unser Gott erbarmt sich» (Ps 116, 5); «Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Huld» (Ps 145, 8).

In der Passion Jesu trifft die ganze Bosheit der Welt auf die unermessliche Reinheit des Sohnes Gottes.15 Für gewöhnlich befleckt und verdirbt das Unreine durch seine Berührung das Reine; hier aber ist es umgekehrt: In dem Augenblick, in dem die Welt mit all ihrer Ungerechtigkeit und ihren Grausamkeiten mit der unermesslichen Reinheit in Berührung kommt, wird in dieser Berührung der Schmutz der Welt wahrhaft absorbiert, annulliert und durch die unendliche Liebe umgewandelt.

Es gibt in der Welt das Böse und die Ungerechtigkeit, die das Bild Gottes beschmutzen, und sie tun das durch unsere Schuld. Man kann das nicht ignorieren, man muss es beseitigen. Es ist aber nicht so, dass ein grausamer Gott von uns Unmögliches verlangt. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Gott selbst bietet sich als Ort der Versöhnung an, und sein Sohn nimmt das Leiden auf sich. Gott selbst führt die Gabe seiner unendlichen Reinheit in die Welt ein. Gott selbst «trinkt den Kelch» all des Schrecklichen und setzt so durch das Übermaß seiner Liebe das Recht wieder ein. Durch das Leiden wandelt er die Dunkelheit.

Jesus schreit während seiner Passion aus allen Kräften zum Vater. «In diesem Schrei des menschgewordenen Wortes liegt alles Elend der Menschen aller Zeiten, von Sünde und Tod geknechtet, und jede Bitte und Fürbitte der Heilsgeschichte. Der Vater nimmt sie alle an und erhört sie in einer Weise, die über alle menschliche Hoffnung hinausgeht, durch die Auferweckung seines Sohnes»16. Dieses Leiden fasst alles Elend, die Sünde und den Tod der Menschen, alle Übel der Geschichte zusammen, indem es sie überwindet, erlöst und rettet.

Das Kreuz ist das letzte Wort der Liebe Christi an uns. Aber es ist nicht das letzte Wort des Gottes des Neuen Bundes. Dieses letzte Wort wird in der Morgenfrühe des Sonntags gesprochen: «Er ist auferstanden!»17. Gott lässt seinen Sohn Jesus Christus auferstehen, und in Christus schenkt er uns für immer christliches Leben.

Pablo Martí del Moral - Santiago Sanz

Bibliografie

Katechismus der Katholischen Kirche, 374-421.

— Hl. Johannes Paul II., Ich glaube an Gott Vater. Katechese über das Credo (I).

— Papst Franziskus, Misericordiae vultus, 11.4.2015.


1 II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 10.

2 Hl. Johannes Paul II., Evangelium vitae, 21.

3 Vgl. hl. Johannes Paul II., Redemptoris missio, 44.

4 Hl. Johannes Paul II., Erinnerung und Identität.

5 Diese Ausdrücke finden sich wiederholt bei hl. Johannes Paul II., Dives in Misericordia.

6 Hl. Faustina Kowalska, Tagebuch, Nr. 47, 309, 327, 949.

7 Vgl. Papst Franziskus, Misericordiae vultus, 2.

8 B. Pascal, Gedanken über die Religion, Nr. 556 (nach der Ausgabe Brunschvicg) bzw. Nr. 449 (nach Lafuma).

9 Das ist der Hauptgrund, warum die Kirche die Erzählung vom Sündenfall immer aus der Sicht des Monogenismus (Abstammung des Menschengeschlechts von einem einzigen Paar) betrachtet hat. Dem steht die Hypothese des Polygenismus entgegen, die einige Jahre lang als wissenschaftlich (und sogar exegetisch) relevant betrachtet wurde, während man in der Wissenschaft heute einer biologischen Abstammung von einem einzigen Paar (Monophyletismus) mehr Plausibilität einräumt. Aus der Sicht des Glaubens wäre der Polygenismus problematisch, da dieser mit der Offenbarung über die Erbsünde nicht vereinbar scheint (vgl. Pius XII., Humani Generis, DH 3897). Das ist allerdings eine Frage, über die noch geforscht und nachgedacht werden kann.

10 In diesem Sinn hat man traditionell zwischen der verursachenden „Ursünde“ (peccatum originale originans), als der von den Stammeltern begangenen persönlichen Sünde, und der verursachten „Erbsünde“ (peccatum originale originatum) unterschieden, als dem sündigen Zustand, in dem deren Nachkommen geboren werden.

11 Vgl. hl. Johannes Paul II., Generalaudienz, 24.9.1986, 1.

12 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, 127; vgl. Röm 8,28.

13 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, 74.

14 Vgl. Benedikt XVI., Homilie, 8.12.2005.

15 Dieser Kommentar über die Reinheit Christi und die Verschmutzung durch die Sünde findet sich bei Benedikt XVI., Jesus von Nazaret, Band 2, S. 255 f.

16 Katechismus der Katholischen Kirche, 2606.

17 Vgl. hl. Johannes Paul II., Dives in Misericordia, 7.

Pablo Martí del Moral - Santiago Sanz