Leben für die Anderen

Es ist der Wille des Herrn, dass die Christen an die Menschen in ihrer Umgebung denken und der Gesellschaft dienen. Mit seinem vorbildlichen Leben hat er uns das gezeigt. Darin liegt auch das Geheimnis der christlichen Freude.

Während der letzten Weltjugendtage ging Papst Benedikt XVI auf das Erbe, das uns frühere Generationen hinterlassen haben, ein und er ermunterte seine Zuhörer, durch ihr unbeirrtes christliches Leben eine menschlichere Gesellschaft und Welt aufzubauen 1.

Jede Generation muss bedenken, was sie der kommenden Gesellschaft, den nachfolgenden Menschen hinterlässt und was - und wie es- zu machen ist, damit diese künftig eine bessere Welt vorfinden. „Der Glaube lehrt uns, dass wir in Jesus Christus, dem fleischgewordenen Wort Gottes, dahin gelangen, die Erhabenheit unseres eigenen Menschseins, das Geheimnis unseres Erdenlebens und die hohe Bestimmung, die uns im Himmel erwartet, zu erkennen (vgl. Gaudium et spes , Nr. 24). Der Glaube lehrt uns, dass wir Geschöpfe Gottes sind, geschaffen als sein Abbild und ihm ähnlich, mit einer unantastbaren Würde ausgestattet und zum ewigen Leben berufen“ 2. Die christliche Botschaft ermöglicht uns, die wahre Würde des Menschen zu erkennen, und stellt uns die Mittel zur Verfügung, der Wahrheit gemäß zu wirken.

Die Gesellschaft benötigt den Evangelisierungsgeist der Kirche, der uns die immer aktuelle Lehre Jesu Christi übermittelt. Der Herr hat uns mit seinem beispielhaften Leben gezeigt, dass er von uns Christen will, dass wir an die Menschen in unserer Umgebung denken und dass wir der Gesellschaft dienen. Darin liegt auch das Geheimnis des christlichen Glücks: dass wir uns zu Trägern der Botschaft Jesu machen.

Das Apostolat als Liebeserweis

Das Apostolat entspringt diesem Bewusstsein des göttlichen Auftrags zu lieben. Der Christ ist für die anderen Zeuge der Liebe Christi und der Gemeinschaft mit ihm. Darum kann das Apostolat weder auf eine Technik noch eine Strategie zur Hinführung der Seelen zu Gott reduziert werden. Es besteht auch nicht aus einem Erfüllen von Pflichten, denn es entspringt ganz natürlich aus der Liebe zum Nächsten und man hat immer gegenwärtig, dass die Wirksamkeit von Gott kommt, auch wenn Er mit der Bereitschaft der Menschen rechnet.

Liebe und Apostolat gehen Hand in Hand. Man kann sogar sagen, dass sie unzertrennlich sind, denn die Liebe macht uns einfallsreich und hilft uns zu entdecken, wie man den anderen besser dienen kann. Die vom heiligen Josefmaria vermittelte Botschaft handelt auch vom Verhältnis zwischen Liebe und Apostolat, und er zeigt auf, dass beide – apostolische Liebe und aus Liebe gelebtes Apostolat – in der Freundschaft zusammenfallen: Die Liebe verlangt, dass man (...) die Freundschaft lebt 3.

In einem Christen, in einem Kind Gottes, bilden Freundschaft und Gottesliebe eine einzige Realität: sie sind Licht Gottes, das Wärme spendet 4. Die Tugend der Liebe bewirkt eine tiefe Nähe zum Nächsten. Mithilfe der Gnade entdeckt der Christ im anderen den Bruder, einen Sohn Gottes und Bruder Jesu Christi. Er findet (in ihm) Gott selbst, der uns sein menschgewordenes Ebenbild gibt, damit wir es respektieren und gebührend ehren. Das Apostolat neigt zu einer Identifikation mit Freundschaft, denn es heißt, in jedem Menschen das Bild Gottes zu ehren, darum bemüht, dass auch der andere dieses Bild betrachtet und sich dadurch Christus zuwenden kann 5.

Wahre Liebe unterscheidet sich von der natürlichen Geselligkeit. Sie geht über verwandtschaftliche Bande und Kameradschaft bei Unterhaltung und Spiel hinaus und unterscheidet sich auch vom Gefühl des Mitleids gegenüber der Einsamkeit oder der Not anderer. Sie misst sich an jener Liebe, die Christus im „neuen Gebot“ zum Ausdruck gebracht hat, an der göttlichen Liebe: Eine Liebe, mit der ich euch geliebt habe (vgl. Joh 15,12) und weiterhin liebe, denn diese entspringt aus dem innersten Leben der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. Eine Liebe, die nicht vor körperlichen oder charakterlichen Mängeln zurückschreckt. Es ist der Wunsch bei den Menschenkindern zu sein, der weder durch die Sünde noch durch Ablehnung und Kreuz eingebremst wird. Die Tugend der Liebe ist jene Liebe, die Gott ins Herz des Christen gelegt hat, damit er die menschliche Liebe, seine Sehnsüchte und Ziele mit übernatürlichem Sinn betrachtet und auf die übernatürliche Ebene erhebt.

Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe6. In Anlehnung an den heiligen Johannes könnte man hinzufügen, dass jemand, der nicht liebt, auch seinen Nächsten nicht kennt, da er nicht in der Lage ist, im anderen das Abbild Gottes zu erkennen. Wenn die Liebe fehlt, dann stumpfen auch die Intelligenz und die anderen menschlichen Fähigkeiten ab, so dass man den Forderungen des Herrn gegenüber unsensibel wird und auch unfähig, dem Nächsten gegenüber dankbar zu sein. Noch schlimmer ist aber, dass dieser Mangel an Liebe es dem Herrn unmöglich macht, den Nächsten als sein Kind anzuerkennen: es ist so, als ob man den Herrn daran hindern wollte, die Seele dessen zu berühren, der sich der Gnade völlig verschlossen hat.

Die Bedeutung jeder Person

Im Dienst an den Nächsten gewinnt die Liebe ihre volle Bedeutung: wenn wir akzeptieren, dass die christliche Berufung darin besteht, eine Gabe für andere zu werden, so dass viele Christus finden können.

Das uns von Jesus selbst vorgelebte Beispiel, das von den Zeugen seines Weges auf Erden vermittelt wird, zeigt, wie er die Freuden seiner Freunde geteilt hat 7, wie er von deren Schmerzen betroffen war 8 und immer Zeit fand, für andere da zu sein: er überwand seine Müdigkeit, um mit der Samariterin zu sprechen 9, hielt inne, um mit der blutflüssigen Frau Worte zu wechseln, als er im Haus des Jaïrus erwartet wurde 10, und inmitten all der Schmerzen am Kreuz führt er mit dem guten Schächer einen Dialog, der diesem den Zugang zum Himmel öffnet 11. Seine Zuneigung äußerte sich außerdem ganz konkret: wir sehen ihn, wie er sich um die Nahrung der Leute, die um ihn sind, sorgt und Wege findet, dieses materielle Bedürfnis zu stillen 12, er kümmert sich darum, dass sich seine Jünger ausruhen können und führt sie an einen einsamen Ort, wo sie mit ihm zusammensein können 13. Man könnte noch viele weitere Beispiele anführen, die alle zeigen, wie sehr Gott jeden Menschen schätzt.

Die Freundschaft zeigt sich in einer besonderen Hinwendung zum anderen, indem man ihm Zeit widmet und den persönlichen Umgang mit ihm pflegt. Unser Vater gab uns das als Schlüssel, um andere zu Christus hinzuführen und zu zeigen, was Jesus uns mit seinem Leben lehrt: er nahm sich immer Zeit, um sich jedem einzeln zu widmen und sich mit allen zu befassen. Die Liebe erreicht ihre wahre Bedeutung, wenn das Leben der anderen in meinem Leben Priorität bekommt. Menschen, die sich einem authentischen Christen nähern, werden die persönliche Liebe Gottes erfahren, wenn sie spüren, wie man sie behandelt, welche Wertschätzung man ihnen entgegenbringt, wie man ihnen zuhört, ihre Tugenden schätzt und sie am übernatürlichen Abenteuer teilhaben lässt.

Wie kann man den Seelen mit dieser im Apostolat ausgeübten- vielleicht nicht so bezeichneten - geistlichen Leitung helfen? Bedenke dabei: Die besten und stärksten Werkzeuge werden stumpf, nutzen sich ab und sind schließlich unbrauchbar, wenn man schlecht mit ihnen umgeht. 14. Es geht - positiv ausgedrückt – darum, jedem zu helfen, die ihm von Gott geschenkten Talente zu entdecken und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie er damit den anderen in seiner Umgebung dienen kann. Man spornt ihn zur Initiative an, wie Jesus das bei der Formung jedes einzelnen Apostels gemacht hat, so dass schließlich jeder sein Bestes gegeben hat. Man berücksichtigt die persönliche Situation des anderen, seine Verpflichtungen in Familie und Arbeit, man versetzt sich in seine Lage. Man arbeitet an Projekten, stellt sich gemeinsam den Herausforderungen der heutigen Gesellschaft und der Sendung der Kirche und des Werkes in einer Welt, die - ohne es zu wissen - Salz und Licht benötigt.

All das muss mit dem Salz der Liebe gewürzt werden. Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand 15. Die Liebe ist bereit, das Wohl aller anzustreben. Darum benötigt sie ein weites, großzügiges Herz, das lernt, über die eigenen Fehler und die der anderen hinwegzusehen und Ärger, schlechte Laune und verletzende Worte zu vermeiden. Wenn man liebt, verbindet man Geduld mit geistiger Stärke: man versteht es abzuwarten, nicht zu demütigen und aus Liebe alles zu ertragen. Man vermeidet Klatsch und freut sich nicht über Schmerzen oder Widerwärtigkeiten, die andere erdulden müssen. Man setzt nicht sich selbst in Szene, sondern man hat immer freundliche Worte parat, zeigt Verständnis und Gelassenheit.

Der Wert der Freundschaft

Der heilige Josefmaria hat uns beispielhaft vorgelebt, wie man Freund seiner Freunde wird. Ein Freund ist - wie die Klassiker gesagt haben - so etwas wie ein Zweites Ich. Jemand der dazu verhilft, das Leben erträglicher zu machen, der uns in der Bedrängnis begleitet, sowie Freuden und Kummer mit uns teilt. Er ist jemand, dem wir vertrauen, weil wir uns auf ihn verlassen können. Er pflegte zu sagen: Wir müssen uns gegenseitig auf unserem Lebensweg stützen, unsere Träume Wirklichkeit werden lassen, Schwierigkeiten durchstehen und uns über das Ergebnis unserer Bemühungen freuen .

Freundschaft ist etwas stark Verbindendes, fast Greifbares. Man spürt den Gleichklang mit dem Freund, die Seelenverwandtschaft, so dass man sich wohl fühlt. Für einen Christen wird die Freundschaft in das Gnadenleben hineingenommen und dadurch erhöht. Sie besteht letztlich darin, anderen das Leben Christi nahezubringen. Dadurch verwandelt sich die Freundschaft in ein von der Liebe untrennbares, wahrhaftiges Geschenk Gottes.

Jeder sollte sich persönlich tiefer mit dem Wert der Freundschaft auseinandersetzen, um seinen Freundeskreis zu erweitern. Ein Christ muss eine gute Gesprächsbasis zu allen Menschen aufbauen, indem er vermeidet, dass er sich durch seine eigene Meinung zu einer ungerechten Diskriminierung anderer hinreißen lässt oder dass sein Auftreten oder seine Art zu sprechen auf Andersdenkende abstoßend wirken. Deshalb ist es so wichtig, sich die Argumente des anderen anzuhören und seine Gedankengänge zu verstehen, sonst kommt es zu keinem wirklichen Dialog, denn der Gesprächspartner bemerkt schnell, dass uns das, was er sagt, nicht interessiert. Man muss lernen, auch vom Gesichtspunkt des anderen auszugehen.

Das heißt nicht, dass wir in Fragen, die nicht dem persönlichen Urteil unterworfen sind, sondern Gott betreffen, nachgeben können oder die Lehren Jesu aus Angst den anderen zu kränken, verschweigen oder verdrehen dürfen. Eine derartige Haltung käme einem Beschwindeln derer gleich, die man liebt, man würde ihnen den Zugang zur einzigen Wahrheit versperren, die das Herz ganz erfüllen kann und ihre Unruhe zu besänftigen vermag. Die Liebe Christi bestärkt uns vielmehr in unserer Meinung, sie beruhigt unser Herz und mäßigt unsere Ausdrucksweise. So können wir den anderen die Botschaft Jesu, die Hoffnung und Rettung bringt, näherbringen: Wenn wir einen Rat geben oder jemanden wegen seines Verhaltens zurechtweisen, bewirkt unsere Zuneigung, dass wir keine verletzenden Worte gebrauchen, die nach Verurteilung klingen, sondern dass unsere Worte vielmehr als das angenommen werden, was sie sind: der ehrliche Wunsch, dass unsere Freunde glücklich werden. Auf diese Weise erfährt man die tiefe Wahrheit der folgenden Worte des heiligen Ignatius von Antiochien: „Das Christentum ist kein Werk der Überzeugung, sondern seiner Größe“ 16. Diese Größe ist die Liebe Christi, denn die Menschen werden sich nicht so sehr unserer Argumente wegen Gott nähern, sondern vor allem dessentwegen was wir dank der Gnade Gottes sind.

Jede Generation von Christen muss ihre eigene Zeit erlösen und heiligen. Hierzu müssen sie die Sorgen ihrer Mitmenschen verstehen und teilen, damit sie ihnen mit der Sprachengabenäherbringen können, wie sie auf das Wirken des Heiligen Geistes und auf den stets überfließenden Reichtum des göttlichen Herzens antworten können. Uns Christen fällt in unserer Zeit die Aufgabe zu, der Welt, in der wir sind und leben, die Botschaft des Evangeliums zu verkünden, die alt und zugleich immer neu ist 17.


1 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache, 17.7.2008 und Homilie 19.7.2008.

2 Benedikt XVI., Homilie, 19.7.2008.

3 Gespräche, Nr. 62.

4 Im Feuer der Schmiede, Nr. 565.

5 Freunde Gottes, Nr. 230.

6 1 Joh 4,8.

7 Vgl. Lk 10,21.

8 Vgl. Joh 11,35.

9 Vgl. Joh 4,6 ff.

10 Vgl. Mk 4,30-34.

11 Vgl. Lk 23,42-43.

12 Vgl. Mt 14,15-20.

13 Vgl. Mk 6,31.

14 Die Spur des Sämanns, Nr. 391.

15 1 Kor 13,4-7.

16 Ignatius von Antiochien, Brief an die Römer 3,3.

17 Christus begegnen, Nr. 132.