Glaubensreichtum

In diesem Artikel, den der heilige Josefmaria am 2. November 1969 in der Tageszeitung ABC (Madrid) veröffentlicht hatte, nennt der Gründer des Opus Dei die Liebe zur Freiheit einen der Glaubensreichtümer der Christen.

Der heilige Paulus sagt uns in diesem Lobgesang auf die Glaubensschätze aus dem Galaterbrief 1, dass der Christ jene Freiheit leben muss, die uns Christus erworben hat. Diese an die ersten Christen ergangene Botschaft über Jesus wird über alle Jahrhunderte hinweg gelten: die Verkündigung der Befreiung aus Elend und Ängsten. Die Geschichte ist nicht blinden Kräften unterworfen, noch ein Ergebnis von Zufällen, sondern eine Manifestation der Barmherzigkeit von Gott Vater. Die Schrift 2 sagt uns, dass Gottes Gedanken weit über unserem Denken sind, dass also Gottvertrauen bedeutet, trotz aller Widerwärtigkeiten einen Glauben zu haben, der über alles Vordergründige hinausgeht. Hinter jedem Ereignis steht die Liebe Gottes – der uns immer und ewig liebt –, auch wenn das für uns manchmal im Dunklen bleibt.

Wenn ein Christ aus dem Glauben lebt – mit einem nicht nur aus Worten bestehenden Glauben, sondern als einer aus dem persönlichen Gebet kommenden Realität -, dann zeigt sich die Sicherheit der göttlichen Liebe in Frohsinn und innerer Freiheit. Dann brechen die das Herz manchmal zuschnürenden und drückenden Lasten auf und verflüchtigen sich. Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? 3. Und schon kommt wieder ein Lächeln auf unsere Lippen. Ein Kind Gottes, ein den Glauben lebender Christ kann leiden und weinen: er mag Anlass für Schmerz haben; aber nicht zu Traurigkeit.

Die christliche Freiheit kommt von innen, aus dem Herzen, aus dem Glauben. Sie ist aber nicht bloß individuell, sondern zeigt sich auch äußerlich. Dazu zählt einer der charakteristischsten Züge des Lebens der ersten Christen: die Brüderlichkeit. Der Glaube – die Erhabenheit der Liebesgabe Gottes – hat erreicht, dass alle Unterschiede und Schranken bis zum Verschwinden zusammenschrumpfen: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ in Christus Jesus 4. Dieses über die Unterschiede von Rasse, sozialer Stellung, Kultur und Ideologie hinausgehende sich als Geschwister zu verstehen und zu lieben, ist das Wesensmerkmal des Christentums.

Es ist nicht meine Aufgabe über Politik zu sprechen. Das gehört auch nicht zur Sendung des Opus Dei, dessen einziges Ziel ja spirituell ist. Das Opus Dei mischte sich nie in politische Gruppierungen oder Parteien ein und wird das nie tun, und ist auch von keiner Persönlichkeit oder Ideologie abhängig. Diese Vorgangsweise weder apostolische Taktik, noch eine bloß löbliche Verhaltensweise. Diese Vorgangsweise ist für das Opus Dei eine innerliche Notwendigkeit, die von seinem Wesen bestimmt ist und ein klares Kennzeichen hat: die Liebe zur Freiheit, das Vertrauen in die dem Christen inmitten der Welt eigene Stellung, aus der heraus er persönlich völlig unabhängig und eigenverantwortlich handelt.

In zeitlichen Belangen gibt es keine Dogmen. Der Versuch, diesbezüglich absolute Werte aufzustellen, verträgt sich nicht mit der Menschenwürde. Das gilt für Fragen, die jeder zwangsweise nach seinen eigenen Gesichtspunkten sehen kann, entsprechend seinen eigenen Interessen, seinen kulturellen Vorlieben und der eigenen Erfahrung. In zeitlichen Belangen Dogmen aufzudrängen führt zwangsläufig zu einer Vergewaltigung der Gewissen anderer und zu fehlendem Respekt vor dem Nächsten.

Jeder muss die Erfahrung seiner persönlichen Autonomie machen, was Zufälle, ein sich Herantasten und fallweise Unsicherheiten mit sich bringt.

Damit möchte ich nicht sagen, dass die Haltung des Christen in zeitlichen Fragen gleichgültig oder teilnahmslos sein soll. Keineswegs. Ich glaube aber, ein Christ muss die menschliche Leidenschaft für den zivilen und sozialen Fortschritt mit dem Bewusstsein der Begrenztheit der eigenen Meinungen in Einklang bringen, daher die Meinungen der anderen respektieren und den legitimen Pluralismus lieben. Wer nicht so zu leben versteht, hat die christliche Botschaft nicht wirklich verstanden. Das zu erreichen ist nicht leicht und in gewisser Weise unmöglich, da die Neigung zu Egoismus und Hochmut in uns nie ganz abstirbt. Wir müssen uns deshalb stets prüfen und unser Handeln mit dem Christi vergleichen, um uns als Sünder zu bekennen und wieder von neuem zu beginnen. Das ist nicht leicht zu schaffen, aber wir müssen uns bemühen.

Als Gott uns schuf, hat Er sich auf das mit dem Abenteuer unserer Freiheit verbundene Risiko eingelassen. Er wollte eine Geschichte, eine wahrhaftige Geschichte, die auf authentische Entscheidungen aufbaut, keine Fiktion, kein Spiel. Jeder Mensch muss die Erfahrung seiner persönlichen Autonomie machen, was Zufälle, ein sich Herantasten und fallweise Unsicherheiten mit sich bringt. Wir sollen nicht vergessen, dass Gott, der uns die Glaubenssicherheit gegeben hat, uns nicht den Sinn aller Vorkommnisse offenbart hat. Neben den für den Christen klaren und feststehenden Gegebenheiten gibt es viele – sehr viele -, zu denen man sich eine Meinung bilden muss: das heißt, man kann nur bis zu einem gewissen Grad erkennen, was wahr oder zweckmäßig ist, aber man kann das dann nicht mit unumstößlicher Sicherheit behaupten. Denn es ist nicht nur möglich, dass ich mich irre, sondern es gibt sogar – selbst, wenn ich recht habe - die Möglichkeit, dass auch andere recht haben. Ein Gegenstand, der einem konkav erscheint, kann einem anderen, aus unterschiedlicher Perspektive gesehen, als konvex erscheinen.

Das Wissen um die Begrenztheit menschlicher Urteile führt uns dazu, die Freiheit als Voraussetzung für das Zusammenleben anzuerkennen. Das ist aber nicht alles, ja nicht einmal das Wichtigste. Die Wurzel für die Achtung der Freiheit ist die Liebe. Wenn andere Personen nicht so denken wie ich – ist das ein Grund, sie als Feinde zu betrachten? Dazu führen nur Egoismus oder die intellektuelle Beschränktheit jener, die glauben, dass nur die Politik und zeitliche Unternehmungen einen Wert haben. Ein Christ weiß aber, dass das nicht so ist, denn jede Person hat einen unendlichen Preis und eine ewige Bestimmung in Gott. Für jede einzelne von ihnen ist Jesus Christus gestorben.

Wenn ein Christ aus dem Glauben lebt – mit einem nicht nur aus Worten bestehenden Glauben, sondern als aus dem persönlichen Gebet kommender Realität -, dann zeigt sich die Sicherheit der göttlichen Liebe in Frohsinn und innerer Freiheit.

Man ist Christ, wenn man nicht nur zu einer abstrakten Liebe zur gesamten Menschheit fähig ist, sondern wenn man jede einzelne Person, der man begegnet, zu lieben vermag. Ein Zeichen menschlicher Reife ist es, sich für jene Aufgaben verantwortlich zu fühlen, von denen aus unserer Sicht der Wohlstand künftiger Generationen abhängt. Das darf uns aber nicht dazu bringen, dass wir die Hingabe und Dienstbereitschaft in ganz gewöhnlichen Dingen vernachlässigen: den an unserer Seite Arbeitenden Liebenswürdigkeiten erweisen, mit unseren Kameraden eine wahre Freundschaft pflegen, Mitleid mit Notleidenden, auch dann, wenn uns ihr Elend im Vergleich zu den von uns angestrebten hohen Idealen bedeutungslos erscheint.

Von Freiheit und Liebe zur Freiheit sprechen bedeutet, ein schwieriges Ideal aufzustellen: es heißt, von einem der größten Schätze des Glaubens zu sprechen. Denn – täuschen wir uns nicht – das Leben ist keine kitschige Liebesgeschichte. Die christliche Brüderlichkeit ist nicht etwas, was ein für allemal für alle vom Himmel fällt. Diese Wirklichkeit muss Tag für Tag aufgebaut werden. Und sie muss Bestand haben in einem mit aller Härte konfrontierten Leben, bei Interessenskonflikten, bei Spannungen und Kämpfen, im täglichen Kontakt mit uns kleinlich erscheinenden Menschen und mit unserer eigenen Armseligkeit.

Wenn uns all das mutlos macht, wenn wir dem eigenen Egoismus erliegen oder dem, der sich abmüht, mit skeptischer Haltung begegnen, dann zeigt das, dass wir einer Vertiefung unseres Glaubens bedürfen, dass wir uns mehr an Christus orientieren müssen. Denn nur in dieser Schule kann der Christ sich selbst erkennen und die anderen verstehen, sowie auf eine Weise leben, dass Christus im Menschen gegenwärtig wird.


1 Vgl. Gal 4,28-31 (Vg); Gal 5,1 ( Nvg).

2 Vgl. Jes 55,8; Röm 11,33.

3 Röm 8,31.

4 Gal 3,28.